Beyla OS- Nicht Alleine
Die Gewissheit nicht alleine zu sein, ist wohl eine, die wir alle viel öfters brauchen würden. Wenn wir alleine in unserem Zimmer sitzen. Alleine draußen sind oder alleine in einem Haufen voller Menschen, aber keiner sieht den Schmerz. Wenn wir sagen, es geht uns gut und alle uns glauben.
Und dann gibt es diese Momente in denen der richtige Mensch, im richtigen Moment mit den richtigen Worten und Gesten einfach da ist.
Denn ein Anruf von Bens Vater bedeutet meist nichts Gutes und in diesem Fall schon gar nicht. Man will die beste Freundin will man nicht in der Klinik der Eltern wissen...
Sicht Ben
Was ich gerade gehört hatte konnte und wollte noch immer nicht so richtig in meinen Kopf hinein und verstanden werden. Nein - Ich wollte es nicht verstehen! Ich wollte einfach nicht...
Die raue Stimme meines Vater nach wie vor in den Ohren hielt ich mein Handy mit meinen zitternden Fingern fest umklammert und hastete aus dem JTK nach draußen. Ich konnte nicht atmen! Spürte zwar wie meine Lungen sich mit Luft füllten und wieder leerten, doch hatte nicht das Gefühl, dass sie Sauerstoff aus eben dieser hinauszogen. Nicht das Gefühl, dass ich auch nur einen winzigen Prozentsatz Sauerstoff aufnahm. Nicht das Gefühl, dass welcher in meinen Blutkreislauf hinein kam.
„Erinnerst Du Dich noch an Juliana? Das Mädchen aus der Grundschule, mit der Du Dich so gut verstanden hast?"
Er hatte mich nicht einmal begrüßt! War direkt zu dem Teil übergegangen, indem er los wurde, was er sagen wollte und ich konnte mein wütendes Schnauben von eben ebenfalls noch klar und deutlich hören. Wusste ich doch zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal ansatzweise, was ihn zu diesem Anruf bewegt hatte...
Ich hatte das Klinikum inzwischen verlassen und mich an eine der Seitenwände des großen Gebäudes gelehnt. Dass mich Patienten und Patientinnen, Kollegen und Kolleginnen, als auch Freunde und Freundinnen jederzeit hier so sehen könnten war mir egal, wenn ich ursprünglich auch - vergebens - gehofft hatte, dass es an der Seite des Klinikums, aus dem ich gerade kam, ein wenig ruhiger war.
„Juliana Schieber - Natürlich! Was willst Du Papa?!"
Ich war verwirrt und wütend gewesen. Juliana und ich hatten trotz allem, was sowohl bei ihr, als auch bei mir familiär, privat und beruflich geschehen war, noch heute immer wieder Kontakt und wir verstanden uns nach wie vor gut. Konnten zusammen lachen, reden... In Erinnerungen schwelgen. Ihr fröhliches Lachen von gestern kam mir in den Sinn und ich kämpfte mich zurück in die Situation von vor ein paar Minuten. War mir sehr wohl bewusst, was geschehen würde, wenn ich es nicht tat.
Was ging mein Vater das alles überhaupt an? Den Menschen, der doch sonst auch nicht an sowas interessiert war; hatte ich mich gefragt und war erschrocken über die Antwort gewesen, die ich im Laufe des Gespräches noch erhalten hatte.
Mein Vater war seufzend still geworden und ich zunehmend genervt.
„Papa?"
war es ein wenig unfreundlicher klingend, als erwartet aus meinem Mund gesprungen gekommen, während ich mich auf dem nur wenig befüllen Gang, auf dem ich zu dieser Zeit noch stand, umsah. Ich musste wieder zu meinen Patienten und Patientinnen und hatte weder Zeit, noch Lust auf seine Spielchen.
Juli, wie ich sie als kleiner Junge irgendwann getauft hatte, da mir jedes Mal "Juliana" über den Schulhof zu rufen wohl zu anstrengend geworden war, und ich hatten erst gestern das letzte Mal telefoniert. Und wieder ihr Lachen, ihr fröhliches Lachen... Fast eine Stunde hatten wir zusammen gelacht, bis sie mir dann etwas sagte, dass mich dazu gebracht hatte den ganzen Tag mit einem breiten Grinsen im Gesicht herumlaufen. Nachdem sie kurz gezögert hatte, hatte sie mir vorsichtig offenbart, dass sie im nächsten Monat 2 Wochen Zeit, 2 Wochen Urlaub hatte. Und sie hatte gefragt, ob sie Leyla, die meine langjährige Freundin bisher noch nicht richtig kennenlernen konnte, und mich besuchen könne. Wie schön das geworden wäre...
Eine einzelne heiße Träne bahnte sich einen Weg über meine linke Wange, die von der eisigen Winterluft hier draußen, die mir zumindest ein wenig das Gefühl gab, dass Sauerstoff in meinen Körper gelang, ganz kalt war. Ich schenkte ihr keine Beachtung.
Noch einmal hatte mein Vater gezögert und schließlich geseufzt.
„Sie hat nach Dir gefragt Benjamin...! Es sieht nicht gut aus."
Eine weitere Träne schlich über meine Wange, doch auch dieses Mal ließ ich sie unbeachtet. Ich war gedanklich viel zu weit weg, als dass ich die Kraft hätte aufbringen können, sie wegzuwischen. Wie aufgeregt ich vorher doch noch war... Ich wusste, wann man Angehörigen einer zu behandelnden Person sagte, dass es "nicht gut aussieht" und ich hatte das Gefühl gehabt, man hätte mir schwungvoll und mit all der Kraft, die man aufbringen konnte in den Magen getreten. Wie aus dem Nichts war mir übel geworden, als ich es irgendwie doch geschafft hatte ein leises
„Was zur Hölle ist passiert?"
über die Lippen zu bringen.
Ich spürte wie mein Handy langsam aus meiner nach wie vor zitternden Hand glitt und hörte schließlich, wie es mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete. Doch auch diesem schenkte ich keine Beachtung. Schaffte es nur weiter den kahlen Baum vor mir anzusehen, dessen Äste sich in der nächsten kalten Brise im Wind wiegten, als wäre nichts geschehen. Es war aber etwas geschehen! Mein Blick verschwamm weiter, als die nächsten Tränen über meine Wangen rannen und schließlich doch von einer schnellen Bewegung meinerseits unsichtbar gemacht wurden. Erstmal. Ich war wie in Watte gepackt, verstand nicht Mal, was die Menschen direkt neben mir zueinander sagten. Nicht Mal einzelne Worte drangen zu mir durch.
Es folgten eine Reihe Fachbegriffe, die ich nicht hatte hören wollen und können. Nur 4 Dinge waren mir im Kopf hängen geblieben. 4 Dinge, die ich am Liebsten nicht verstanden hätte. 4 unvollständige Sätze, die sich anfühlten, als wäre ich in einem Alptraum gefangen...
Leyla sollte mich einfach ganz schnell wecken... Mich in den Arm nehmen und mir sagen, dass alles in Ordnung war, dass ich nur schlecht geträumt hatte. Denn das war ein schlechter Traum. Das, was hier gerade ablief, war ein wirklich schlechter Traum! Ein Traum, den ich nicht träumen wollte.
„Ohnmächtig... Auf der Arbeit... Krebs im Endstadium... Ein paar Wochen, vielleicht Monate..."
Und dann war ich derjenige gewesen, der geschwiegen hatte. Minutenlang nichts gesagt und nicht auf die Fragen und Aufforderungen meines Vaters eingegangen war. Starr hatte ich geradeaus auf einen kleinen Fleck an der Wand hinter dem Notfallwagen auf dem Flur, der den OP-Trakt mit dem Aufwachraum verbindet, geschaut. Ich war mir so unnötig, so untauglich vorgekommen wie noch selten. Tat es immer noch. Juliana, Juli, der Mensch der mich am längsten kannte, der Mensch zu dem der Name "Juli" auf so viele Weisen passte, wie zu kaum einer anderen - Dieser wunderbare, liebenswerte, verrückte, herzensgute Mensch mit einem Strahlen das der hellsten Sonne - Ja selbst dem meiner Freundin Konkurrenz machte - Dieser Mensch sollte sterben? An einem bösartigen, zu spät entdeckten Tumor?!
Von jetzt auf gleich und schneller als ich im Nachhinein verstehen konnte, war der Arzt in mir zum Vorschein gekommen. Obwohl mein Herz schon zu diesem Zeitpunkt viel zu schnell Blut durch meinen Körper gepumpt und ich das Gefühl hatte, ich könnte jeden Moment im Boden einsinken, der wie Teer in der Sommerhitze ganz "weich" geworden war, hatte ich überraschend überzeugend geklungen, als ich ihn aufforderte mir ihre Bilder zu schicken.
„Das darf ich nicht und das weißt Du! Benja... - "
Ich hatte ihn unterbrochen. Lauter, energischer und wütender, als beabsichtigt.
„Ja! Ich weiß! Aber das ist mir gerade so egal. Ich will die Bilder sehen, Papa, jetzt! Ich bin selbst Arzt, vielleicht habt ihr ja 'was übersehen."
Ich hatte versucht überzeugt zu klingen, dabei war mir die ärztliche Kompetenz meines Vaters sehr wohl bewusst. Hatte ich ja selbst schon oft genug erfahren, was er und andere von ihr hielten und wie viel wichtiger es anscheinend war, dieses Mal wieder unter Beweis zu stellen, als sich um sein Kind zu kümmern.
Langsam sank ich auf den steinigen Boden. Ich konnte Juli nicht einfach so verlieren. Sie war es gewesen, die mir in der Zeit im Internat an meinen schlimmsten Tagen, einen Weg, eine Richtung, ein Licht gegeben hatte. Sie bedeutete mir viel. So, so viel. Und der Gedanke, dass sie wahrscheinlich nicht mehr lange "war", hob meine Welt aus allen Ankern.
Juli war so ein herzensguter Mensch. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, die es auf dieser Welt nur noch viel zu wenig gab und sie hatte Pläne!
In einem Anflug von Wut ließ ich meine, zu einer Faust geballten, Hand eine unsanfte Begegnung mit dem Boden erleben und während ich kurz darauf die wenigen Steinchen, die sie nicht mehr hatten loslassen wollen, mit den Fingern meiner anderen Hand von ihr herunter strich, kam mit etwas in den Sinn. Kinder. Juli hatte immer Kinder gewollt- Sie würde keine mehr bekommen können. Nicht Mal ihr größter Wunsch würde noch in Erfüllung gehen, wenn man der Prognose meines Vaters glauben schenkte. Das sollte man.
Dass mein Vater kurz darauf fast ein wenig herabwürdigend gelacht hatte, hatte die Situation nicht unbedingt besser gemacht.
„Benjamin? Bitte!"
Wieder ein Lachen und ich war kurz davor gewesen ihm alle möglichen Dinge an den Kopf zu werfen. Sätze, die größtenteils nicht Mal mehr etwas mit Juli zu tun hatten. Sätze, die ich nicht hätte zurück nehmen können. Sätze, die mir auf der Seele brannten, wie Feuer auf der Haut. Wie sehr er und meine Mutter mich verletzt hatten - Zu dem Zeitpunkt meines Unfalls, als Kind und mit jeder abwertenden Bemerkung mit der sie mich alleine gelassen hatten. Dass er sich bitte einmal in meine Lage versetzen und sich seine Abfälligkeit für einen anderen Tag aufheben sollte...
Doch ich hatte nichts gesagt. Nur gewartet bis er weiter sprach.
„Ich bin kein Onkologe, aber bei einem Tumor der Größe ist nicht viel "zu übersehen"."
Ein weiteres, letztes Mal hatte ich er leise gelacht und dann geseufzt. Das erste Mal klang er daraufhin selbst ein wenig betroffen über die Diagnose meiner besten Freundin. Doch an meiner Wut hatte es nichts mehr ändern können. Es war das Eine, wenn er meinte er könnte mit mir machen was er wolle, doch wenn es um meine Freunde und meine Freundinnen ging verstand ich keinen Spaß mehr.
„Hör' Mal, Benjamin... Ich weiß, dass Du Dir Sorgen um Juliana machst. Und falls es Dir damit besser geht - Wir haben schon eine der besten Onkologinnen des Landes kontaktiert. Dr. Lindemann. Sie kommt heute Abend hier an und wird sich den Tumor ebenfalls ansehen. Aber, sie wird Dir und auch Juliana nichts anderes sagen. Wir haben bereits eine Biopsie gemacht. Die Tumormarker sind deutlich erhöht... Und so wie der Tumor liegt können wir wahrscheinlich nicht mehr viel für sie tun. Aggressive Bestrahlung und Chemo, könnten (!) ihr vielleicht ein wenig Zeit verschaffen, aber ich gehe davon aus, dass beides sie nur weiter schwächen würde."
Und dann hatte er einmal tief geatmet. Ich hatte sowohl gehört wie er Luft einzog, als auch wie er eben diese wieder in die Welt hinaus ließ und es nicht geschafft auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
Wage erinnerte ich mich, wie Elias mich angesprochen hatte, der ebenfalls gerade erst aus dem OP gekommen war, in dem wir noch Minuten zuvor einem Patienten einen gutartigen Tumor im Thorax entfernt hatten - Erfolgreich. Mein bester Freund hatte wahrscheinlich nur kurz bei mir einschlagen wollen, sich mit mir gemeinsam über die gelungene OP freuen wollen, doch ich hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Das Bild von Juliana fest vor Augen. Wie konnte das nur passieren? Warum hatte sie nichts gemerkt und wenn doch - Warum hatte sie sich nicht untersuchen lassen?
Ich spürte wie meine Wangen weiter von Tränen getränkt wurden und schluckte gegen den immer größer werdenden Kloß in meinem Hals- wollte gar nicht wissen wie viele der vorbeikommenden Leute mich mittlerweile skeptisch beäugt hatten und wollte nicht wissen wie viele davon zu den Menschen gehörten, mit denen ich arbeitete.
„Sie braucht Dich hier."
Das waren seine letzten Worte gewesen. Damit hatte er aufgelegt und mir nicht Mal mehr die Chance gegeben zu antworten. Ich wurde erneut wütend, doch war mir schmerzlich bewusst, dass das jetzt gerade mehr als nebensächlich war. Hatte ich doch sogar noch gehört, wie jemand in den Raum gekommen und ihn angesprochen hatte...
Er hatte Recht. Ich hasste es und doch - Er hatte Recht. So sehr sich auch alles in mir sträubte zu meinen Eltern nach Hamburg, in ausgerechnet ihre Klinik zu fahren, so hatte er doch Recht. Ich tat das nicht für mich. Ich tat das für Juli. Für diese eine Freundin, die mich seit über 20 Jahren kannte. Für sie. Nicht für mich. Nicht für all das was zwischen meinen Eltern und mir passiert war, war es noch so viel... Sie brauchte mich und ich würde sie nicht im Stich lassen!
~~~
Als ich mich ein paar Minuten später ein wenig aufrichtete, um meinen Stumpf zu entlasten, dem die angewinkelte Position, in der ich meine Beine gerade vor mir aufgestellt hatte, nicht wirklich gefiel indem ich mein rechtes Bein ausstreckte, sah ich ohne dass es mir so richtig bewusst war, auf.
Und obwohl ich noch immer alles verschwommen, von den salzigen Tränen in meinen Augen sah, die in der Zwischenzeit aufgehört hatten meine Wangen mit einem feuchten Film zu benetzen, konnte ich den besorgten Blick erkennen, der sich kaum hatte sie mich ebenfalls bemerkt auf ihr Gesicht schlich. Wenn ich es richtig erkannte, war es Dr. Lindner, der Leylas Augen versuchte wieder zurück auf sein Tablett zu lenken und es tatsächlich für wenige Sekunden schaffte.
Für eben diese Sekunden verspürte ich den Impuls einfach aufzustehen und mir einen anderen Ort zu suchen, an dem ich vorübergehend versuchen konnte, mich nicht näher mit der kommenden Zeit auseinander zu setzen, doch mein Körper streikte. Ich hatte zu Zittern begonnen, was wahrscheinlich wesentlich auch an den kalten Temperaturen lag in denen ich mich befand und war wie gelähmt.
Während mein Blick wieder klarer wurde, als ich nun doch eine weitere Träne meine Wange entlang rinnen spürte, suchten meine Augen wie von alleine wieder nach meiner schwarzhaarigen Freundin. Sie fanden sie nicht.
Ein Gefühl des alleine seins, dass ich so sehr hasste tauchte mit dem nächsten Windstoß in mir auf, wie eine Welle die nur darauf gewartet hatte an den Strand zu kommen.
„Ben?"
Meine Hände fanden erneut einen Weg meine Wangen zu trocknen, doch als mir bewusst wurde, wer gerade dabei war sich zu mir herunter zu knien, mir ihre Hand auf die Schulter zu legen und mich mit ihren braunen Augen anzusehen, war das egal. Meine Hand, die es vorher nicht Mal geschafft hatte mein Handy in sich zu behalten, griff schneller als ich mir darüber im klaren werden konnte nach Leylas anderer Hand, während sie schräg vor mir hocken blieb. Die Hand die eben noch auf meiner Schulter lag wanderte einmal durch meine Haare und blieb dann an meiner Wange liegen.
„Hey! Schatz? Es ist alles in Ordnung, hörst du? Wir kriegen das zusammen hin!"
Meinen Blick inzwischen von unseren Händen, wieder zurück in ihre Augen gerichtet, konnte ich spüren wie mein Kiefer zu zittern begann, während ich verzweifelt versuchte Worte zu finden mit denen ich meiner Freundin klar machen konnte, was passiert war.
Leise und nach wie vor ohne, dass ich so richtig begriff was ich tat, verließ ein „Juli... Sie..." meine Lippen, bevor meine Stimme, die ebenfalls zu Zittern begonnen hatte, ihre Arbeit verweigerte und stattdessen ein Schluchzen aus meiner Kehle drang. Ich hielt mir die Hand vor den Mund und probierte verzweifelt mich wieder zu beruhigen. Es hatte nicht wirklich Sinn. Es auszusprechen ließ es real werden.
Noch bevor ich auch nur einen weiteren Versuch wagen konnte, Leyla zu erklären, warum ich hier, wie ein Häufchen Elend saß, nickte sie in ein leises „Ich weiß..." hinein und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.
Ein Kuss, der im Moment soviel mehr Bedeutung für mich hatte.
Leyla seufzte einmal leise, bevor sie sich wieder aufrichtete und mir in die Augen sah, besorgt, und sie mir liebevoll eine weitere verirrte Träne von der Wange strich.
„Woher, Leyla?"
Es war das Erste, das ich seit dem Anruf meines Vaters sagte, ohne dass es mir vorkam als würde ein Fremder an meiner Stelle das Sprechen übernehmen. Das Erste, das ich sagte ohne das meine Stimme sich anhörte, als würde ein Fremder sprechen. Das Erste, das ich sagte, dass mir das Gefühl gab wieder an Sauerstoff zu kommen.
Meine Freundin seufzte ein weiteres Mal und ließ sich letztendlich neben mir auf den kalten Boden fallen. Sie rutschte näher an mich heran und ich schlang einen Arm um ihren Körper, der im Gegensatz zu meinem noch warm war. Die Kälte hatte sich mittlerweile in mich hinein gefressen und ich fing endlich wieder an meinen Körper richtig wahrzunehmen. Meine von der Kälte schmerzenden Fingern. Die Steine auf dem Boden, die sich in meine Beine bohrten. Meine eiskalten Wangen und die raue Wand an meinem Rücken.
„Dein Vater hat Dr. Lindner ihre Bilder geschickt..." Ich wurde aufmerksam. Sah Leyla auffordernd an, während mein Herzschlag sich wieder beschleunigte, in der Hoffnung mein Vater hätte sich doch geirrt. Wie unwahrscheinlich das auch sein mochte... Ich wollte Juli nicht verlieren und wenn auch nur eine winzige Chance bestand, dass sie diesen ganzen Mist überleben konnte, dann wollte ich daran glauben können. Egal, wie unwahrscheinlich, unrealistisch es war. Egal, wie schlecht ihre Chancen standen. Sie hatte es verdient zu leben! Dieser Mensch hatte ein langes, glückliches Leben verdient.
„Ben! Hey, schau mich an!" Meine Freundin, die wohl bemerkt hatte, dass ich in dem Chaos in meinem Inneren noch einen Funken Hoffnung gefunden hatte, hatte ein so ernstes Gesicht aufgesetzt, als ich zu ihr aufblickte, dass ich auch so verstand. Mein Vater hatte auch hier Recht und für eine Sekunde hasste ich ihn dafür.
„Es tut mir leid."
In jeder anderen Situation hätte ich umgehend angefangen mit dem Kopf zu schütteln und Leyla zu sagen, dass sie nichts dafür konnte, aber ich wusste wie sie ihre Entschuldigung meinte und nickte nur.
Dass Juli so gehen würde müssen, das tat ihr leid.
Dass sie Juli nicht mehr helfen können würden, das tat ihr leid.
Dass Juli nicht mehr lange zu leben hatte, das tat ihr leid.
Dass mein Vater Recht hatte, das tat ihr leid.
Dass wir nichts weiter tun konnten, als zu Juli zu fahren und für sie da zu sein, das tat ihr leid.
Und es tat ihr leid, dass ich sie verlieren würde.
„Mir auch."
Mir tat es leid.
Dass Juli wegen diesem verdammten Tumor, sterben würde, tat mir leid.
Dass nicht die besten Ärzte und Ärztinnen ihr eine Chance auf Heilung versprechen würden, tat mir leid.
Dass man ihr nicht Mal mehr ein Jahr zu leben versprach, tat mir leid.
Dass Juli, Leyla nie richtig kennen lernen würde, tat mir leid.
Dass Juli, nicht Patentante werden würde können, tat mir leid.
Dass Juli kein eigenes Kind kriegen würde, sie sich ihren größten Traum nicht erfüllen konnte, tat mir leid.
Und noch so viel mehr tat mir leid... Es tat mir alles so leid.
Sie würde so viele Dinge verpassen. Dinge, die sie hätte miterleben sollen. Dinge, die nur für sie bestimmt gewesen waren. Schöne Dinge, aber auch unfassbar traurige Dinge. Dinge von denen niemand wusste, wie sie ausgesehen hätten.
Mein klingelndes Handy sorgte dafür, dass ich hochschreckte und bevor ich auf eben dieses sehen konnte, erklärte mir meine Freundin leise: „Es ist Juliana...".
Ich nickte schnell und versuchte mich irgendwie zu sammeln, bevor ich ans Telefon ging. Ob Juli schon wusste, was mein Vater mir gerade erzählt hatte? Durfte er das überhaupt?
„Ben?" Julis Stimme zitterte, als sie nach mir fragte und ich musste schlucken. Sie wusste es. Natürlich wusste sie es. "Sie hat nach dir gefragt..."
„Ich bin hier..." Ich hörte wie sie aufschluchzte. In diesem Moment war die Tatsache, dass ich Juli nicht einfach in den Arm nehmen konnte, sie in den Arm nehmen und sie erst wieder loslassen, wenn sie sich beruhigt hatte, eine Tatsache die mir das Herz zerriss. In diesem Moment war es endgültig vollständig in den Hintergrund gerückt in wessen Klinik sie lag - Ich würde jetzt gleich zu Herr Berger gehen und Urlaub beantragen. Juli gehörte quasi zu Familie, Juli war Teil meiner kleinen Familie, das konnte er mir nicht verwehren, wusste er doch selbst zu gut was man alles für Familie tat.
„Komm bitte ganz schnell her! Okay?"
Ohne dass ich es bemerkt hatte, hatte ich die Luft angehalten und atmete mit dem Ende ihrer Frage hörbar aus, während ich zu nicken begann. „Ich bin schon fast auf dem Weg!" Julis Schluchzen vermischte sich mit einem kurzen Lachen und auch ich hatte für einen kurzen Moment ein Lächeln im Gesicht. Dann setzte ich erneut zu sprechen an. Sagte etwas, von dem ich mir vornahm es ihr die nächsten Tage, Wochen und auch Monate immer und immer wieder zu sagen. „Du bist nicht alleine! Du musst da nicht alleine durch!"
Meine Augen füllten sich ein letztes Mal für heute mit Tränen und ich drückte meine Freundin ein wenig näher zu mir, als ich Julis nächsten Worten lauschte, die sich mit denen der Frau, die ich liebte vermischten.
„Du auch nicht, Ben! Du auch nicht..."
Und viel mehr gab es wohl nicht zusagen. Nicht alleine - Wir alle waren nicht alleine und in diesem Moment war diese Gewissheit mehr Wert, als alles Gold der Welt.
Ende
~~~
Ich bin schon ganz gespannt auf eure Rückmeldung! Lasst ein Sternchen da, wenns euch gefallen hat!
Liebe geht raus!
(Danke fürs Beta-Lesen @LeylaJohanna und fantasiezitierend 🦋🌙)
Fortsetzung folgt
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