3. Mitternacht
Wenig später lag ich wieder allein in der Dunkelheit, umarmte mich selbst und lauschte auf meinen eigenen Herzschlag, ich musste das Geschehene erst noch fassen. Die Imperior Dominion besaß Videoaufnahmen von mir, in denen ich wehrlos, umgeben von mehreren Leuten nackt auf einem Bett lag. Aus dem Kontext geschnitten könnten diese das Ende des Familienrufes bedeuten, allerdings hatten selbst die judenfeindlichen Aussagen meines Onkels auch nur einen Kratzer darin hinterlassen. Hoffentlich war der Ruf doch robuster als zu erwarten war. Außerdem wollten sie mich zurück, und wahrscheinlich würden sie fast alles tun, um ihr Ziel zu erreichen. Es war schwierig, sie einzuschätzen.
Ich drehte mich nach rechts und sah aus dem Fenster. Große, in der Dunkelheit der Nacht grau wirkende Wolken schwebten am Himmel und versteckten den Mond vor sehnsüchtigen Menschenaugen. Sterne funkelten, eine Brise wehte. Die Blätter der Bäume am Waldrand zitterten an den Ästen, als frören sie. Mein Gedankenkarussell drehte und drehte sich, bohrte sich wie eine Abwärtsspirale langsam nach unten und weiter nach unten, hinterließ eine klaffende Lücke. Und es blieb nicht stehen, vielmehr drehte es sich immer nur noch schneller. Ich stöhnte auf. Es war offensichtlich, dass ich in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden würde. Also raffte ich mich auf, zog mir Jogginghose und T-Shirt an, denn ich hatte in meinen Alltagsklamotten das Bewusstsein verloren und Hemd und Anzughose eigneten sich nicht für Gemütlichkeit. Dann lief ich gedankenverloren in die Küche, um mir ein weiteres Glas Wasser aufzufüllen.
Im Wohnzimmer lagen Ben und Riko auf dem Sofa, die wohl einen tiefen Schlaf genießen durften. Ben lag auf dem Bauch, er hatte nachgedacht, bevor er einschlief. Er legte sich meist auf den Bauch, wenn er grübelte. Ich stütze mich mit einem Arm auf der Küchentheke ab, der andere hielt das Glas an meine Lippen. Meine Gedanken, die sich nun wie Parasiten durch meinen Körper fraßen, drängten sich mir wieder auf. Wie ich wohl in dem Bett ausgesehen haben musste, damit so viele das Verlangen verspürten, meinen Körper anzufassen? Ich schloss die Augen und verharrte kurz in meiner Position - bis etwas eisiges meinen Rücken berührte.
Ich fuhr herum und das Glas stieß schmerzhaft gegen meinen Zahn. Riko stand dort, mit einem, angesichts der Umstände eher wenig beeindruckten Gesichtsausdruck. „Würdest du mich nächstes Mal vielleicht nicht so erschrecken? Drei Goldzähne reichen mir!" Er sah überrascht auf mich herab. „Du hast Goldzähne?" „Ja. Drei. Wie gesagt. Was willst du mitten in der Nacht von mir?" Er sah tiefenentspannt auf seine Armbanduhr. „Kurz vor halb fünf, wenn wir genau sein wollen."
Langsam begann er, mir die Nerven zu rauben. „Gut, was willst du um kurz vor halb fünf von mir?" „Was willst du von mir, Trampel. Du hast mich geweckt." Ich stutzte. „Das ist mein Haus!" Er schüttelte den Kopf. „Gut erkannt, du kognitives Ausnahmetalent, aber ich war es nicht, der noch hierbleiben wollte. Kann ich mir auch eins nehmen?" Seine Augen deuteten auf mein Trinkglas und ich nickte. Dann sah ich ihm zu, wie er sich seelenruhig ein Glas mit Wasser füllte und langsame Schlucke daraus nahm. Sein Adamsapfel bewegte sich bei jedem Schluck kurz ein Stück nach oben, es sah seltsam mechanisch aus. Er stellte sich neben mich und sah zu mir hinüber. „Also. Wieso schläfst du nicht?" „Geht nicht", nuschelte ich. „Schade. Sonst würde ich es jetzt nämlich noch." Ich verdrehte die Augen. „Ist ja gut, Diva."
Urplötzlich stellte er sich direkt vor mich, so nah, dass unsere Körper sich beinahe berührten. Instinktiv lehnte ich mich weiter auf die Küchenzeile und mein Herz setzte mehrere Schläge aus, nur um dann zu trommeln wie ein Schlagzeuger. Er war zu nah, viel zu nah. „Wie war das?" Seine kühlen Augen blitzten und würde ich ihrem Blick länger als ein paar Sekunden standhalten, würde ich wahrscheinlich verkokeln. „Sorry", presste ich hervor, „etwas Abstand wäre nett." Seine Augen entspannten sich wieder. „Ach Vargo. Das war ein Scherz." Er zerzauste mein Haar mit der Hand und ich verspürte den Willen, sie ihm abzubeißen. Das durfte er nicht, was fiel ihm ein? „Du bist ein Fan von Körperkontakt, richtig?" Er zuckte die Schultern. „Schon." „Ich nicht. Lass es." „Ist okay, Vargo." „Und nenn mich nicht so." „Ist das nicht dein Name?" Ich stöhnte genervt. „Stell dich nicht dümmer als du bist. Nenn mich Levi." Er sagte kurz nichts und betrachtete die letzten Tropfen Wasser in seinem Glas.
„Wieso hast du so viel getrunken, Levi?" „Weil ich ein Trottel bin, willst du das hören?" Er schüttelte den blonden Kopf und sah direkt in meine Augen. „Das glaube ich nicht." Ich sah weg. „Dann such dir einen Grund, der dich befriedigt." Er seufzte und lehnte sich mir gegenüber an die Kücheninsel. „Wie alt bist du? 20, richtig?" Ich nickte stumm, sah noch immer stur auf den Boden zu meiner Rechten. „Mit 20 tut man so etwas nicht mehr aus Dummheit." Langsam sah ich zu ihm auf. Er hatte sein Glas abgestellt und sah mich mit verschränkten Armen erwartungsvoll an. „Tut man schon. Jetzt hör auf mit dem therapeutischen Gelaber, es hat einen Grund, wieso ich es dir nicht gesagt habe." „Pussy."
Er drehte sich um und ging aus der Küche. Ich lief ihm hinterher. „Wo willst du hin?", flüsterte ich, da Ben jederzeit von unserer Konversation aufwachen konnte. Er setzte sich wortlos auf das Sofa, deckte sich die Beine zu und sah mich lange an. Nach einigen Sekunden klopfte er neben sich auf das Polster. „Wird's bald?", murmelte er dringlich. Ich brachte zögerlich den Weg von meinem Standpunkt zum Sofa hinter mich und blieb davor stehen. „Muss man dir eigentlich auch das Atmen befehlen? Setz dich hin." Ihn argwöhnisch ansehend setzte ich mich im Schneidersitz Riko gegenüber. Er streckte mir die Wolldecke hin, die auch seine Beine bedeckte, dann sah er mich stumm an. Nach einer Weile sagte er leise, ohne den Blickkontakt zu brechen: „Weißt du, Ben hat mir schon früher von den Drogen erzählt. Dass du ein wahrscheinlich kleines Problem als Ausrede nutzt, um dir das Hirn wegzusaufen, das konnte man sich im Voraus denken."
Ungläubig starrte ich ihn an, setzte dazu an, etwas zu sagen, ließ es doch bleiben. Dann platzte es aus mir heraus, umso energetischer. „Du weißt nichts über mich! Was denkst du, wer du bist, mir so etwas zu sagen?!" Rikos Ausdruck blieb unverändert. „Klappe. Ben schläft und wir wollen ihn nicht wecken. Ich frage mich, was einen verhätschelten Adelssohn dazu bringt, ein Junkie zu werden, Levi, das würde mich wirklich interessieren." Ich zischte, war im Begriff ihm ein Kissen ins Gesicht zu werfen und zu gehen. „Ich bin kein Junkie." Riko verzog das Gesicht zu diesem schiefen Lächeln, das ich bereits innerhalb der wenigen Stunden unserer Bekanntschaft zu hassen gelernt hatte. Der Drang des Kissenwurfs stieg drastisch.
„Gut, wenn du stur bleiben willst. Nur eines will ich gesagt haben; du lässt Ben aus der Scheiße raus. Wenn ich dich erwische, wie du ihm etwas antust - auf welche Weise auch immer -, bekommst du es mit mir zu tun." Mein Unglauben wuchs wie meine Wut mit jedem Wort, das aus seinem Mund kam. „Du hast ja viel Vertrauen in deinen Kumpel. Du kannst dich verpissen, sobald der erste Sonnenstrahl scheint." Mit diesen Worten zog ich die Decke von meinen Beinen und setzte zum Weggehen an, aber Riko packte mich am Handgelenk. „Hiergeblieben. Verlass dich drauf, dass ich so bald weg bin, wie es nur geht und dann halte ich großzügigen Abstand von eurer Protzbude. Ich will bloß, dass du Ben in Ruhe lässt." Ich verengte die Augen und versuchte, mich loszureißen. „Loslassen! Ich bin lang nicht mehr abhängig, ich bin doch nicht blöd und gebe ihm Drogen!", zischte ich aufgebracht.
Er zog mich am Handgelenk wieder auf das Sofa und machte keine Anstalten, loszulassen. Bilder zwangen sich mir wieder auf, Bilder, auf denen Dexter zu sehen war, wie er mich genauso packte, wie Riko es gerade tat. Wie Nathan mich festhalten ließ, bevor er freie Hand hatte, mir wehzutun. Wieso war dieser Mann nur so versessen auf Körperkontakt mit Fremden? Ich hörte Riko sagen: „Tja, offensichtlich ist ein gewisses Verlangen noch da. Hast du nicht die leeren Flaschen gesehen?" Panik stieg in mir auf und benebelte meinen Kopf. „Bitte lass jetzt los!", sagte ich eine Spur zu laut. Ben räkelte sich und öffnete die Augen. Augenblicklich löste Riko seinen Griff. „Was ist los?", nuschelte er und gähnte ausgiebig. „Alles okay, Levi?" Ich nickte hastig und Riko wich meinem Blick aus. Seltsam. Kaum war Ben da, verwandelte sich ein Schäferhund in ein Schoßhündchen.
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