2. Sechzehn
Ben nahm mir vorsichtig den Laptop aus den Händen und klickte auf das erste Video. Ich hielt den Atem an. Nach nur Sekunden hörte man mich schreien und ich erriet an den abscheulichen Worten, die gesprochen wurden, dass es die Stelle war, in der Dexter sich mir näherte. Wie ein Blitz fuhr die Todesangst von damals noch einmal durch meine Brust und ich verkrampfte mich. Das Gesicht meines Freundes hatte sich kreidebleich gefärbt und seine tellergroßen Augen starrten auf den Bildschirm. Ich sah Abscheu in dem holzigen braun. Es, ich, widerte ihn an. In meiner Kehle fühlte ich eine Klinge, die sich langsam in mein Fleisch bohrte. Quälend langsam. Ben stellte das Gerät stumm und legte es neben uns auf das Bett. Die Schreie waren verstummt und ein Gewicht fiel von mir. Dann drehte Ben sich zu mir und umarmte mich fest. „Es tut mir so leid", flüsterte er und ich strich mit der flachen Hand unbeholfen über seinen Rücken. Er drückte mich noch fester, beinahe so fest, dass mir das Atmen schwerfiel. Etwas überfordert mit seiner Reaktion – immerhin hatte ich Ekel erwartet – löste ich mich von ihm. „Und– und Nathan hat all das heimlich gefilmt?" Ich nickte und ließ den Kopf hängen.
Nathan war der Teufel, mein ganz persönlicher Tod und dennoch hatte ich geglaubt, er sei meine Rettung. In meiner Jugend war ich rebellisch gewesen, hatte nicht viel von den Überzeugungen meines fürstlichen Familienzweiges gehalten, noch viel weniger vom Konservativismus. Es konnte also nicht lange dauern, bis zum ersten Mal Fäuste flogen und mit 16 wollte ich mir nichts mehr bieten lassen. Ich lief fort, mit der Hitze des letzten Schlages auf der Wange, der unter meiner Haut kribbelte. In Gedanken verfluchte ich meinen Vater, wünschte ihm Tod und Verderben an den Hals und bemerkte nicht, wie verloren ich war. Für kurze Zeit lebte ich in einem Hotel, finanzierte es mir mit Schwarzarbeit in einer Cocktailbar und dem restlichen Taschengeld auf meiner Kreditkarte.
Einer der Stammkunden dieser Cocktailbar war Nathan gewesen. In meinen Pausen lud er mich ein, mich zu ihm zu setzen, wir unterhielten uns, lernten einander kennen und ich baute mehr und mehr Vertrauen auf. Kurz gesagt, ich geriet in die Fänge des Wolfes. Er ließ mich bald bei sich wohnen, unter der Bedingung, niemandem in der Schule davon zu erzählen. Nach nicht langer Zeit zwang er mich ins Bett, kurz später setzte er mich unter Crystal Meth. Ich hatte ihm vertraut, seine Ausrede, dass Drogenkonsum ab und zu für etwas lockere Stimmung nicht schaden konnte, funktionierte und ich wurde abhängig. Es stellte sich heraus, dass es sein Plan war, mich an ihn zu binden.
Schließlich begann er, über Geldprobleme zu klagen, die er damit rechtfertigte, dass ich ihn mit den Drogen zu viel kostete und er bat mich, in seinem Club für Hilfsbedürftige auszuhelfen. Der Club stellte sich als kriminelle Organisation heraus, die unter dem Namen Imperior Dominion lief und die Aushilfe, die ich leisten sollte, war, wie all die anderen dort zu wohnen, Abgaben zu leisten meinen Körper zu verkaufen. Als ich weglaufen wollte, war es zu spät. Im Endeffekt hatte er mich nur benutzt, um an das Geld meiner Eltern zu gelangen, indem er mir die Kreditkarte nahm, über die ich auf mein sattes Taschengeld Zugriff hatte. Meine Eltern hatten die Ausgaben über meine Kreditkarte nicht beunruhigt, vielmehr nutzten sie es als stets aktuelles Lebenszeichen meinerseits, hatten sie schließlich nichts mehr von mir gehört, seit des Streits, der zu meinem Fortlaufen geführt hatte. Mein fehlendes Wiederkehren hatten sie nie hinterfragt, wahrscheinlich dachten sie, ich sei nachtragend. Oh, wie häufig mein 16-jähriges Ich gen Himmel geschrien hatte, dass sie mich doch endlich suchen sollten. Dass Nathan mich und andere prostituierte, war nur sein Nebeneinkommen und der Grund für meine Ängste und Albträume. Die Hauptbeschäftigung der Imperior Dominion stellte der Handel mit Crystal Meth dar, ein Auftrag, gegeben von den mächtigeren Divisionen der Organisation.
Fort konnte ich nicht mehr, denn sie würden mich finden. Hätte ich mir eine Möglichkeit gesucht, die Polizei zu rufen, hätten sie nichts gefunden. Jeder von ihnen benutzte einen Decknamen, nicht einmal Nathan als Boss der Division sagte je, wie er tatsächlich hieß. Zudem war die Organisation riesengroß, schließlich war der Teil, dem ich ausgeliefert wurde, nur eine der kleinsten Divisionen des ganzen Wahnsinns. Töten konnten sie mich damals nicht, nicht wie all die anderen wertlosen Huren Nathans, immerhin war ich eine führende Geldquelle der Division gewesen, doch nun wusste ich gar nichts mehr. Ob ich nicht doch zu gefährlich war, so frei? Meine Freiheit hatte ich damals nur zurückerlangt, indem ich rannte. Einfach fortrannte und in meiner Flucht Ben auf einer Tankstelle begegnete. Er hatte mir versprochen, mich zu retten, und er hatte sein Versprechen eingehalten. Seither waren wir eng befreundet und er sah sich in einer Bruderposition mir gegenüber. Sicher vor der Organisation war ich deshalb noch lange nicht, aber sie hatten nicht erraten, dass ich bei Ben zuhause untergetaucht war, während meine Eltern die Zeit genutzt hatten, um die Sicherheitsvorkehrungen zuhause drastisch zu verbessern.
„Levi, was werden wir jetzt machen?", fragte Ben dumpf in der Ferne und holte mich zurück in die kalte Realität des Moments. „Ich weiß doch auch nicht. Wenn die das veröffentlichen, bin ich geliefert und der Familienruf am Arsch. Wenn ich mich ihrem Willen hingebe, gilt das gleiche." Seufzend erhob sich Ben vom Bett, raufte sich die Haare und begann, unruhig in meinem Zimmer umherzulaufen. „Hör zu, es war abzusehen, dass sie mich erpressen, wenn sie schon nicht hier herkönnen." Ben hielt inne. „Aber das können sie doch!" Ich wiegte den Kopf hin und her. „Ich glaube nicht, dass sie sich das trauen würden bei all den Kameras, Securities und allem anderen. Denk daran, wenn ihre Identitäten auffliegen, sind sie geliefert." „Wie kommt es, dass du eigentlich nie Fotos oder so etwas gemacht hast?" Ich lachte verbittert. „Was denkst du denn. Ein Mädchen hat es versucht, sich vom Angesparten ein Handy gekauft und dann hat Dexter ihr, als sie erwischt wurde, eine halbe Flasche Abflussreiniger in die Kehle gekippt. Sie hat Blut gekotzt, dann war sie tot." Ben starrte mich entgeistert an. „Gut, ähm, das verwerfen wir." Es herrschte kurz unangenehme Stille, dann klopfte es leise an der Tür. „Seid ihr bald fertig?", fragte Riko von außen. Ben und ich sahen uns an und ich rief: „Komm rein!" Augenblicklich stieß er die Zimmertür auf, lief auf mich zu und reichte mir ein Glas Wasser. Ich nahm es entgegen und sah verwirrt zu ihm auf, er grinste schief. „Trink. Wegen des Katers." Ich nickte und nahm einen kleinen Schluck. „Danke." Er fuhr sich durch das blonde Haar, richtete sich wieder auf und drehte sich zu Ben um. „Fahren wir?", fragte er, doch ich warf dazwischen: „Nein! Bitte bleib die Nacht noch da, Ben." Ben zuckte die Schultern und meinte: „Ich habe eigentlich auch keine Lust, jetzt mitten in der Nacht noch heimzufahren, sorry, Riko." Besagter erwiderte Bens Blick resigniert, kritisierte aber nicht dessen Entscheidung. „Gehen wir dann wenigstens schlafen? Ein paar Stunden würden sich noch lohnen."
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