Kapitel 34
Die goldene Herbstsonne brachte die sich verfärbenden Blätter des Stadtgartens zum Funkeln. Als die Sonnenstrahlen an Kraft gewannen und ihre Wärme die Tropfen in feinen Dunst verwandelte, der zum Himmel aufstieg, betrat eine zarte Gestalt den Herbstgarten. Fioretta war blind für die Schönheit, die sie umgab. Seit Tagen kreisten ihre Gedanken nur noch um das Gespräch, welches sie mit Giuliano in ihrem Zimmer geführt hatte. Bei der Erinnerung, wie nah sie einander gekommen waren, schoss ihr das Blut in die Wangen. Seit er seine Jacke abgeholt hatte, hatte sie kein einziges Wort mehr von ihm gehört. Natürlich änderte dieser Umstand nichts an der Tatsache, dass er ihre Gedanken vollkommen regierte.
Es war nicht so, dass sie seinen Worten nicht Glauben schenken wollte. In der Tat würde sein Geständnis eine Menge Ungereimtheiten erklären. Aber wie sollte sie ihm seine Geschichte je wirklich abnehmen können, wenn sie diese nicht verstand und ihr Angst einjagte? Ihr Vater hatte ihr beigebracht, dass ein kluger Mensch im Zweifel die Logik der Religion vorzog. Aber wie sollte sie jemals daran glauben, dass die antiken Götter noch immer unter ihnen weilten und nach wie vor ihre Spielchen mit den Sterblichen trieben?
Die Stimme ihres Vaters riss sie abrupt aus ihren Gedanken. Erschrocken fuhr sie zusammen und drehte sich zu ihm um. Voller Begeisterung winkte er ihr zu. Leise seufzend lief sie zu ihm.
„Schau, meine neue Statue ist heute endlich angekommen!", rief er begeistert und schloss sie in die Arme. Aufgeregt deutete er auf die glänzende Bronzestatue, die auf einem kleinen Sockel zwischen zwei fast verblühten Rosenbüschen stand.
„Erkennst du, wen sie darstellen soll?", wollte ihr Vater hibbelig wissen. Um seine neueste Anschaffung für seinen florentinischen Garten hatte ihr Vater ein großes Geheimnis gemacht, weil die Skulptur eine Überraschung für Fioretta sein sollte. Eingehend musterte sie die Figur. Die Statue war ein sitzender Mann. Wenn sie das bettlakenähnliche Gebilde um seine Hüfte richtig deutete, sollte es sich dabei vermutlich um eine Toga handeln. Ein Gott. Ein Gott, dessen linke Hand lässig auf einer Lyra lehnte. Fast hätte sie laut aufgelacht, so absurd kam ihr diese ganze Situation vor. Das konnte kein Zufall sein. Aber aus irgendeinem Grund wollte sie auch nicht wahrhaben, dass die Wahl ihres Vaters ein göttliches Zeichen sein sollte und so redete sie sich ein, dass die Identität des Gottes zufällig war.
„Apollo, der Gott der Wahrsagerei, der Dicht- und Heilkunst", antwortete sie und erschrak selbst, wie teilnahmslos ihre Stimme klang. Ihrem Vater entging ihr Ton. Begeistert klatschte er in die Hände und meinte versonnen: „Nicht nur das, meine Liebe. Er ist auch der Gott der Wahrheit. Genau die richtige Zier für den Garten eines Professors, der nach der Wahrheit sucht."
Keinen weiteren Augenblick konnte sie in das schöne Gesicht des Gottes blicken, ohne sich von der Welt verhöhnt zu fühlen. Automatisch huschte ihr Blick zur Sonne und fragte sich, ob Giuliano ihr gerade zusah.
„Bei den Römern ist er auch der Sonnengott", hörte sich Fioretta sagen und während ihr Vater ihre Klugheit lobte, hakte sie sich bei ihm unter und zog ihn fort von der Apollostatue, deren bronzener Blick in ihrem Rücken brannte.
Die Tage verschmolzen zu einer einzigen, monotonen Masse. Fioretta hatte wirklich geglaubt, dass sie einfach nur Zeit brauchte und dann würde sich das Chaos in ihrem Kopf von allein lösen. Doch je mehr Zeit verstrich, desto verwirrter wurde sie. Mittlerweile wusste sie nicht mehr, was sie für wahr halten sollte. In ihrem Geist herrschte ein einziges Durcheinander.
Am liebsten wäre sie bei Tag in die Medici-Bank spaziert und hätte Giulianos Geständnis getestet. Aber solange in ihrem Körper noch ein Funken Anstand übrig war, konnte sie diese ebenso verrückten wie verzweifelten Pläne nicht in die Tat umsetzen. Selbst hier im Haus seiner Familie konnte sie nicht vergessen, dass es sich für ein Mädchen wie sie nicht gehörte die Seite ihres Vaters zu verlassen und ein Gespräch mit ihm zu suchen. So begnügte sie sich damit den jüngeren Medici aus der Ferne zu beachten.
Seine Familie veranstaltete mal wieder ein herrliches Fest. Irgendwie fanden sie immer einen Grund, um ihre Freunde und Anhänger in ihrem prächtigen Palazzo zu Protzgastmählern und zum Tanz zu versammeln. In ganz Florenz gab es nicht auch nur eine einzige Seele, die jemals am Reichtum und an der Macht der Medici zweifelte. Lorenzo und Giuliano waren die ungekrönten Könige der Stadt und selbst Edward IV. konnte an seinem englischen Hof keine größere Pracht ausstrahlen, als diese florentinische Bankiersfamilie in ihrem Palazzo Medici.
Seufzend nippte Fioretta an ihrem Wein und nickte ihrem Vater bestätigend zu, obwohl sie keinen Schimmer hatte, worum es in seinem Gespräch mit dem fremden Medici-Anhänger ging. Ihre gesamte Aufmerksamkeit nahm Giuliano in Beschlag. Jede einzelne Regung von ihm analysierte sie genau und verglich sie damit, wie er sich in ihrer Erinnerung verhalten hatte. Doch erst als sich ihre Blicke kreuzten, setzte Fiorettas Herz einen Schlag aus und ihre rasenden Gedanken kamen zum Erliegen. Denn obwohl sie ihm in seine faszinierenden Augen blickte und er sie nicht wie eine Fremde ansah, hatte sie zum ersten Mal an diesem Abend wirklich das Gefühl, dass dies nicht der Giuliano war, den sie kannte. Seinen Augen fehlte seine Wärme. Aufmerksam musterte der Mann sie von Kopf bis Fuß, aber er blieb, wo er war. Am meisten erschrak sie, dass sie absolut nichts empfand. Sie fühlte sich weder zu ihm hingezogen noch sonst irgendeinen Anflug der Zärtlichkeit, die er für gewöhnlich in ihr auslöste. Da war nur Leere. Träge setzte sich ihr Herz wieder in Gang. Nach wenigen Wimpernschlägen wandte er den Blick ab und sofort begannen ihre Gedanken wild in ihrem Geist zu kreischen, ohne dass sie einen einzigen von ihnen festhalten und weiterverfolgen konnte.
Bestimmt kehrte sie Giuliano den Rücken zu und blickte hinaus aus dem Fenster. Die Sonne musste gerade am Horizont untergehen, denn die Wolken über den Dächern von Florenz erstrahlten in den schönsten Gold- und Rottönen. Bald würde sie die Wahrheit erfahren.
Während sie so tat, als würde sie ihrem Vater bei seinen Gesprächen zuhören, behielt sie den Himmel im Auge. Sobald sie sicher war, dass die Sonne in wenigen Augenblicken untergehen würde, suchte sie die Menge nach Giulianos markanter Gestalt ab und entdeckte ihn am anderen Ende des Raumes an der Seite seines Bruders.
Plötzlich spürte sie, dass sich etwas an ihm verändert hatte. Irgendwie hatte sie erwartet, dass er glühen oder sie irgendein Zeichen von Magie entdecken würde, wenn die Seele des Gottes seinen Körper verließ, damit seine eigene in ihn zurückkehren konnte. Aber so war es nicht. Prüfend blickte sie aus dem Fenster. Doch da war nichts als Dunkelheit.
Mit klopfendem Herzen blickte sie zu ihm zurück und in diesem Augenblick hob er den Kopf, sodass sich ihre Blicke zum zweiten Mal an diesem Abend kreuzten. Sofort ertrank sie in den warmen Tiefen seiner Augen. Wie in Trance machte sie einen Schritt auf ihn zu und nur die Hand ihres Vaters hielt sie zurück, die sich automatisch auf ihren Arm legte. Sie nahm dessen Berührung kaum wahr. Denn das Einzige, was für sie in diesem Moment eine Rolle spielte, war der Mann am anderen Ende des Raumes, der sie ansah, als wäre sie das schönste Wesen auf der Welt. Spielte er mit ihr oder war alles echt? War er wirklich soeben in seinen Körper zurückgekehrt? War dies der Beweis, den sie brauchte oder verstellte er sich, damit sie seiner Geschichte glaubte und er sie bei Tag wie eine Fremde behandeln konnte, weil er sich vor seiner Familie und seinen reichen Freunden für ihre niedrigere Stellung schämte?
Fioretta schwirrte der Kopf und sie war froh über die Hand ihres Vaters auf ihrem Arm, weil sie sonst vollkommen in die Welt ihrer Gedanken abgedriftet wäre. Seine sanfte Berührung verband sie mit der Gegenwart. Sie nahm all ihre Kraft zusammen und wandte den Blick ab.
„Ihr habt Angst", meinte eine liebliche Stimme zu ihrer Rechten. Verwirrt drehte Fioretta den Kopf und erstarrte. Sie spürte, wie sie vor Staunen den Mund öffnete. Neben ihr stand die schönste Frau, die sie jemals gesehen hatte. Ihre Schönheit war so überirdisch, dass Fioretta am liebsten vor ihr auf die Knie gefallen und sie um Gnade angefleht hätte. Aber irgendwie schaffte sie es ihren Mund zu schließen und die Fremde zu bewundern.
Ihr blondes Haar war zu einer kunstvollen Frisur aufgesteckt und schimmerte im sanften Kerzenschein mit den goldenen Blumenspangen um die Wette. Ihre Züge waren absolut perfekt. Sie war makellos. Die ideale Frau. Ein Engel. Fioretta verlor sich in ihren verwirrenden Augen. So eine Farbe hatte sie noch nie gesehen.
Vertraulich zwinkerte die Schönheit ihr zu und beugte sich zu ihr. Ihre Haut verströmte einen berauschenden Duft von Rosen, Äpfeln und Zypressen. Wie in Trance schüttelte Fioretta die Finger ihres Vaters ab und trat näher an den Engel heran.
Die Fremde lächelte sie mitfühlend an und ergriff ihre Hände. Sofort fühlte sich Fioretta geborgen und sicher. Ihre verwirrenden Augen bohrten sich in ihre und hielten sie gefangen.
„Es ist vollkommen natürlich, dass du Angst hast, meine Liebe", sagte die Schöne und drückte sanft ihre Hände. „Die Liebe mag das schönste Gefühl auf der Welt sein, aber sie ist auch immer ein Risiko. Doch wenn du dich von deinen Zweifeln und Ängsten leiten lässt, verlierst du deine Chance auf Glück. Willst du das?"
Verwirrt schüttelte Fioretta den Kopf und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Die Nähe dieser Frau vernebelte ihren Verstand.
„Wer seid Ihr?", brachte sie stockend heraus. Einen Herzschlag blinzelte die Schönheit sie an, dann fiel sie in das melodischste Lachen, welches Fioretta je zu Ohren gekommen war. Verzückt verfiel sie wieder in ihre stille Bewunderung.
„Du wolltest doch einen Beweis", kicherte die Fremde amüsiert und nippte an einem Kelch Wein. Fioretta war gar nicht aufgefallen, dass sie ein Getränk in der Hand hielt, ehe der goldene Becher ihre sinnlichen Lippen berührte. Innerlich schalt sie sich für diese Unaufmerksamkeit. Wieso ließ sie sich nur so schnell von dieser Frau ablenken?
Wieder ernst blickte die Fremde ihr tief in die Augen, so als würde sie auf eine Antwort warten. Verwirrt legte Fioretta den Kopf schief.
„Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr sprecht, Madonna", gestand sie wahrheitsgemäß. Ihre innere Stimme riet ihr zur Höflichkeit. Wer auch immer diese Schönheit sein mochte, Fioretta wollte sie nicht verärgern.
Ungeduldig schnalzte die Dame mit der Zunge. Erschrocken zuckte Fioretta zusammen. Sie war es nicht gewohnt, dass eine andere Frau so selbstbewusst mit ihr sprach. Als sich Fioretta gerade bei ihr entschuldigen wollte, blickte die Fremde über ihre Schulter und verdrehte gereizt die Augen. Automatisch schlossen sich ihre Finger fester um Fiorettas. Bedeutungsschwer schaute sie dem Mädchen in die Augen.
„Uns läuft die Zeit davon, meine Liebe", meinte die Fremde bedauernd. „Ich wünschte, es wäre anders. Aber es gibt nur diesen Weg."
Vollkommen durcheinander versuchte Fioretta aus ihren Worten einen Sinn zu erkennen. Doch sie verstand diese Frau einfach nicht. Im nächsten Augenblick veränderte sich die Erscheinung der Fremden. Ihre Augen wurden eine wenig größer und blauer, ihre Wangen ein bisschen blasser, ihre Lippen schmaler und ihr Haar wirkte dunkler und röter im Schein der Kerzen. Obwohl Fioretta sie nur einmal aus der Ferne bewundert hatte, erkannte sie diese Frau sofort: Vor ihr stand Simonetta Vespucci.
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