Kapitel 25
Der bleiche Vollmond tauchte Florenz in sein mattes Licht. Mittlerweile war er den Weg so oft gegangen, dass Giuliano auf das Mondlicht nicht mehr angewiesen war. Aufmerksam blickte er sich nach allen Seiten um, ehe er kurz Anlauf nahm und an der Mauer nach oben sprang. Routiniert bekam er den Mauerkopf zu fassen und nutzte den Schwung seines Sprunges gekonnt aus, um sich nach oben zu ziehen. Lässig setzte er sich auf die Mauer und schaute auf den friedlichen Garten.
Ein Teil von ihm würde sich nie daran gewöhnen, dass er wie ein Dieb oder Herumtreiber durch die Nacht streifen musste. Aber ihm blieb keine andere Wahl. Er musste sie einfach sehen und so schlich er sich jede Nacht zu ihr, um wenigstens die kurze Zeit, die ihm in seinem eigenen Körper vergönnt war, mit ihr zu verbringen. Antonia, seiner kleinen Blume, seiner Fioretta. Auch wenn sie nicht die Seine war. Zumindest noch nicht.
Mit einer eleganten Bewegung ließ sich Giuliano von der hohen Mauer gleiten. Fast geräuschlos setzte er auf der harten Erde auf und lauschte in die nächtliche Dunkelheit des Gartens. In der Ferne bellte irgendwo ein Hund. Auf dem Baum über ihm mauzte eine Katze und musterte ihn mit neugierigen Augen. Langsam richtete er sich auf. So lautlos wie möglich klopfte er sich den Staub von seinen Kleidern. Dann huschte er leise zu ihrem üblichen Treffpunkt.
Schon von Weitem fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmte. Doch als er die Bank unter dem Strauch roter Rosen erreicht hatte, fehlte von ihr jede Spur.
Normalerweise war Fioretta immer vor ihm da und wartete hier auf ihn. Die Zeit vertrieb sie sich mit Lesen. Fioretta liebte Bücher. Nicht nur Romane und seichte Geschichten wie die anderen Frauen, die er kannte, sondern wirkliche Bücher. Je langweiliger ein Buch seinen Schwestern vorkommen würde, desto begeisterter interessierte sie sich dafür. Wäre sie ein Mann, hätte ein fantastischer Bankier aus ihr werden können oder ein hervorragender Gelehrter. Es war erfrischend mit einer Frau ein ernsthaftes Gespräch über Politik oder Geschichte führen zu können.
Als er ihr das erste Mal begegnet war, hatte ihn zuerst ihre Schönheit gereizt. Ihren messerscharfen Verstand hatte er zwar am ersten Abend schon entdeckt, aber dessen Qualität hatte er erst später richtig begriffen. Bereits am ersten Abend hatte Giuliano nachts wach gelegen, weil er an nichts anderes mehr denken konnte als an sie. Aus einer Laune heraus war er aufgestanden und hatte sich ein leeres Notizbuch gegriffen. Das Buch war nichts Besonderes. Der lederne Einband war schlicht und in einem geschmackvollen Weinrot gehalten. Giuliano konnte sich nicht erinnern, wann er es gekauft hatte. Vermutlich war es eines der Dinge, für die Apollo Giulianos Geld ausgegeben hatte, während er in seinem Körper war. Vielleicht war es auch einfach ein gut gemeintes Geschenk seiner Mutter gewesen, an das er sich nicht mehr erinnern konnte. Als Kind hatte Giuliano sehr gern geschrieben. Zwar hatte er überwiegend kleine Geschichten und Berichte verfassen müssen, doch wie sein Bruder hatte auch Giuliano gelernt eigene Gedichte zu verfassen. Natürlich hatte niemand besonderen Wert darauf gelegt ihn zu einem Verführer oder gar Romantiker zu erziehen. Seine Lehrer und auch seine Eltern waren der Ansicht gewesen, dass Giuliano aufgrund seines Aussehens darauf weniger angewiesen sein würde. So hatte er seine Gedichte aufgeben und sich mit anderen Künsten wie Mathematik, Geometrie und Astrologie näher beschäftigen müssen. Doch in dieser Nacht nach seiner ersten Begegnung mit Fioretta hatte er zum ersten Mal seit dreizehn Jahren wieder die Feder gezückt und ein Gedicht geschrieben. Beim Schreiben hatte er ihr lebensfrohes Gesicht vor sich gesehen. Seitdem schrieb er jede Nacht ein neues Gedicht über sie in sein Buch und wenn er ausgelaugt und zufrieden in sein Bett fiel, träumte er davon, wie sie es eines Tages in den Händen hielt. Sie war seine Inspiration und sein Buch war sein größter Schatz. Seine Gedichte waren wie Tagebucheinträge und mit jedem weiteren Gedicht wurde ihm klarer, wie er zunehmend Fioretta Gorini verfiel. In manchen seiner Träume sah er nicht sie, zumindest glaubte er, dass es sich bei der zarten Traumgestalt nicht um Fioretta handelte. Das Gesicht des Mädchens konnte er nicht sehen, da sie sich zum Lesen leicht über sein Buch beugte, wodurch ihr Schleier über ihre Schultern rutschte und ihr Gesicht verbarg. Die Statur und ihre Größe entsprachen Fiorettas, aber irgendetwas an ihr sorgte dafür, dass er in Apollos Körper auf dem Sonnenwagen zweifelte. Vielleicht war es die Kleidung, die zu prunkvoll für Fiorettas Geschmack war. Vielleicht lag es auch einfach nur an ihrer Haltung. Ganz gewiss lag es an der ihm vollkommen unbekannten Landschaft, die sich auf der anderen Seite des Fensters hinter ihr erstreckte. Oft wünschte sich Giuliano, dass sie von seinen Gedichten aufblicken und ihm ihr Gesicht zuwenden würde. Aber sie war vollkommen versunken in seine Worte und in seinen Träumen hatte er keine Stimme. Wie hätte er sie auch rufen sollen, wenn er sich ihres Namens nicht sicher war?
Gedankenverloren setzte sich Giuliano auf die kleine Bank und wartete auf Fiorettas Ankunft. Nach einer Weile begann er ungeduldig mit dem Finger gegen seinen Oberschenkel zu trommeln. Je länger er dasaß und auf sie wartete, desto besorgter wurde er. Es sah ihr weder üblich zu spät zu erscheinen, noch gar nicht aufzutauchen. War ihr etwas zugestoßen? Ging es ihr nicht gut oder schlimmer: War sie vermutlich auf dem Weg zu ihm von ihrem Vater entdeckt worden? Bei diesem Gedanken erbleichte Giuliano und sprang auf die Füße. Unruhig lief er auf der kleinen Fläche vor dem Rosenbusch auf und ab. Während er angestrengt in den Garten lauschte, schoss sein Kopf immer nach oben, um einen Blick auf das Haus zu erhaschen. Aber Fioretta hatte diesen Treffpunkt klug gewählt. Eine hohe Eiche versperrte nicht nur ihm die Sicht, der hineinblicken wollte, sondern schütze ihn auch vor all jenen, die zufällig oder bewusst auf den Garten hinausschauten.
Als er keine Sekunde länger in dieser quälenden Ungewissheit verharren konnte, schlich er im Schutz der Pflanzen an die Hauswand und lief eng an diese geschmiegt weiter in der Hoffnung, dass er nicht von jemandem gesehen werden würde, der zu viele Fragen über Giulianos späte Anwesenheit stellen würde. In den vergangenen Monaten hatte er zu viel Zeit darauf verwendet Fiorettas Ruf zu schützen, als dass er ihn jetzt gefährden wollte oder konnte. Mit einem Mal kam er sich unglaublich leichtfertig und egoistisch vor. Nachdenklich hielt er inne und ließ den Blick die Hauswand hinaufgleiten. Hinter einem der Fenster meinte er einen Schatten zu sehen. Doch er war sich unsicher, ob nicht eher seine müden Augen und sein sehnsüchtiges Herz ihm einen grausamen Streich spielten. Hinter keinem der Zimmer brannte noch Licht. Berechnend blickte Giuliano zum Mond und versuchte zu ermitteln, in welcher Stunde der Nacht er sich gerade befand. Es war spät. Zu spät. Diese Nacht würde er nichts mehr erreichen können.
Mit einem Seufzen wandte er sich ab, schlich die kalte Steinwand entlang zurück zu der Stelle, an der er fast vollkommen mühelos über die Mauer klettern konnte. Auf der Mauerkrone verharrte er einen Wimpernschlag und schaute zurück. Aber welches Zeichen er sich auch erhofft hatte, er hoffte vergeblich. Friedlich schlafend lag das Anwesen der Gorinis hinter ihm. Vorsichtig sprang er von der Mauer und streifte durch die nächtlichen Gassen. Verwirrt und besorgt kehrte er nach Hause zurück und benutzte wie jede Nacht den Dienstboteneingang. Von seiner Familie unbemerkt erreichte er sein Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Bevor er wusste, was er tat, holte er sein Notizbuch hervor und ließ seine Gefühle auf das Papier fließen. Doch es half ihm nicht. Als der Morgen graute, hatte er zwei lange Gedichte voller Traurigkeit, Unsicherheit und Sorge verfasst. Jedoch schwang in seinen Worten auch die Hoffnung mit, dass er sie bald wiedersehen würde.
Tief seufzte Giuliano, dann klappte er sein Notizbuch zu und griff nach einem Bogen Pergament. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie er ihr diesen Brief zukommen lassen sollte, vertraute er darauf, dass sein Bruder einen Weg finden würde. Kurz hatte er in Betracht gezogen seine Schwester Nannina einzuweihen, da Fiorettas Vater mit seinem Schwager befreundet war. Aber nur weil sich die Männer verstanden, bezweifele er stark, dass seine Schwester die zwar nur fünf Jahre jüngeren Fioretta wirklich als ihre Freundin betrachtete. Dafür waren die Interessen der beiden Frauen zu verschieden. Außerdem, wenn Giuliano ganz ehrlich zu sich selbst war, wollte er nicht, dass sich eine seiner Schwestern in sein Leben einmischte. Lorenzo war anders. Er war sein großer Bruder. Ohne ihn wäre Giuliano bereits vor Jahren gestorben. Doch auch ohne diesen Grund zur Dankbarkeit war Lorenzo nun einmal das Oberhaupt seiner Familie. Es war das Recht seines Bruders sich in sein Leben einzumischen oder zumindest zu wissen, was ihn bewegte.
Rasch formulierte er in seinem Brief an Fioretta all die Fragen, die ihn in dieser Nacht beschäftigt hatten. Obwohl er vorsichtshalber seine Worte so wählte, dass nur sie ihn verstehen würde, spürte er eine neue Unruhe in sich wachsen, die er nicht klar benennen konnte. Noch war er nicht dazu bereit mit seinem Bruder über sie zu sprechen. Vielleicht weil ein Teil von ihm wusste, dass in Lorenzos Augen mehr gegen als für sie sprach. Auch wenn Giuliano im Grunde seines Herzens wusste, dass dieses Gespräch unvermeidlich war. Trotzdem wollte er es noch ein paar Wochen hinauszögern. Kaum hatte er Fiorettas Brief versiegelt, schrieb er eine kurze Notiz an seinen Bruder mit der Bitte den Brief nicht zu lesen, sondern einfach nur diskret weiterzuleiten.
Lautlos ging Giuliano in Lorenzos private Arbeitszimmer und legte die beiden Schriftstücke auf dessen Schreibtisch. Nun blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Aber immerhin konnte er sich nicht vorwerfen, dass er nicht alles versucht hatte. Etwas leichter ums Herz ließ er sich wenig später in sein Bett fallen und driftete sogleich in einen traumlosen Schlaf.
Ein Monat. Genau einen Monat war es nun her, seitdem Lorenzo ihm versichert hatte, dass er seinen Brief diskret an Fioretta weitergeleitet hatte. Natürlich war dies keine Bestätigung, dass sie seinen Brief auch tatsächlich gelesen hatte. Aber der Grund dafür, dass ihre Antwort immer noch auf sich warten ließ, konnte nicht bei seinem Bruder liegen.
Unruhig schwenkte Giuliano seinen Kelch und beobachtete, wie sich der Wein darin bewegte. Vielleicht hat sie nicht geantwortet, weil sie sich gerade auf dem Land befanden und dieser Umstand eine diskrete Kommunikation für sie unmöglich machte. Doch Giulianos Herz sagte ihm, dass mehr hinter ihrem Schweigen steckte.
Ihm gegenüber saßen Sandro und Lorenzo. Ersterer musterte ihn nachdenklich, der andere hatte bereits vor einer halben Stunde seinen Kopf auf den Tisch gelegt und schnarchte nun selig.
„Was belastet dich, Giuliano?", fragte Sandros Stimme leise. Sofort erstarrte Giulianos Hand, während der Wein sich noch einen kurzen Augenblick träge weiterdrehte. Langsam hob Giuliano den Kopf und blickte Sandro gedankenverloren an. Einen Moment überlegte er, ob er sich ihm anvertrauen sollte. Soweit Giuliano wusste, ritt sein Freund jeden Morgen zur Villa der Gorini, um ein Porträt von Fioretta zu beenden, welches er bereits in Florenz begonnen hatte. Doch eine kleine Stimme in seinem Kopf wisperte ihm zu, dass es dafür noch zu früh war. Sein Gespräch mit Lorenzo war unangenehm gewesen, weil Lorenzo ihn an all die Dinge erinnert hatte, die gegen eine Verbindung mit Fioretta sprachen. Der wichtigste Grund war für seinen Bruder der Standesunterschied, der, wenn man recht darüber nachdachte, gar nicht so groß war, wie Lorenzo gern behauptete. Denn Lorenzo vergaß, dass Giuliano der Zweitgeborene war. Für Lorenzo stand Fioretta zu weit unter ihm. Denn für Lorenzo selbst stand jede florentinische Frau zu weit unter ihm, deshalb hatte er damals auch in den römischen Adel eingeheiratet. Aber Giuliano war nun einmal nicht Lorenzo. Aus diesem Grund befürchtete er auch nicht, dass Sandro die gleichen Dinge aufzählen würde, die Lorenzo ihm hatte einreden wollen. Vielmehr sagte ihm sein Bauchgefühl, dass Sandro noch nicht über den Verlust von Simonetta Vespucci hinweg war. Vielleicht würde er es nie sein und gewiss würde er nicht verstehen, dass nicht Giuliano, sondern Apollo eine Affäre mit dieser Frau gehabt hatte, die keine Frau, sondern eine verkleidete Göttin gewesen war.
Im gleichen Augenblick überkam Giuliano das drängende Bedürfnis Sandro die ganze Wahrheit zu erzählen. Es genügte ihm nicht, dass Lorenzo alles über ihn wusste. Er wollte, er musste sich seinem Freund erklären, damit dieser ihm endlich wirklich verstehen konnte. Doch wieso zögerte er nun? Wovor hatte er solche Angst? Oder war er nur zu betrunken, um einen klaren Gedanken zu fassen?
„Hast du dich manchmal gefragt, Sandro, ob Prudentius sich nicht doch geirrt hat?", meinte Giuliano behutsam und hoffte, dass sein Freund den Köder schlucken würde. Wenn Sandro nicht so begabt gewesen wäre oder einer anderen Familie entstammen würde, hätte er einen fantastischen Theologen abgegeben. Natürlich wurde Giuliano nicht enttäuscht.
„Was genau meinst du?", fragte Sandro mit wachsendem Interesse. Fieberhaft dachte Giuliano nach, aber nun konnte er das Gespräch nicht mehr in andere Bahnen leiten.
„Was ist, wenn die antiken Götter nicht gestorben sind?", platze aus Giuliano heraus. „Was ist, wenn nicht Gott, sondern das Chaos sie geschaffen hat? Was, wenn sie noch immer unter uns weilen und sich einen Spaß daraus machen nicht erkannt zu werden und als Tote zu gelten?"
Nachdenklich legte Sandro einen Finger an die Lippen und tippte dann immer wieder gegen seine Nasenspitze. Eine Weile blickte sein Freund ins Nichts, während er ernsthaft über Giulianos Fragen nachdachte.
„Ich glaube, aus dir spricht der Wein, mein Freund", gab Sandro bestimmt zurück und Giuliano schwand der Mut. „Alles ist Gottes Schöpfung und du weißt genau, dass es neben Gott keine anderen Gottheiten geben kann. Vielleicht haben sie sich selbst für Götter gehalten. Aber das sind sie nicht. Waren sie höhere Wesen? Ja. Besaßen sie Fähigkeiten, die denen Gottes gleichkamen, wenn sie auch niemals so mächtig waren wie er? Gewiss, denn auch sie waren seine Schöpfung und wenn sie gottähnliche Kräfte besaßen, dann nur, weil Gott sie ihnen gegeben hat. Das macht sie aber Gott nur ähnlich, so wie wir Menschen ihm ähnlich sind. Diese Wesen sind nicht unsterblich wie Gott. Sie mögen länger leben als ein Mensch, aber auch sie werden eines Tages vergehen, wenn sie nicht schon vor Jahrhunderten aufgehört haben zu existieren. Ewig ist nur Gott allein und alle Dinge kommen von Gott. Das Gute und das Schlechte. Das Schöne und das Hässliche. Das Starke und das Schwache. Alles kommt von Gott, denn selbst Luzifer ist nur eine Schöpfung Gottes. Prudentius wusste das. Ich weiß das und du, mein betrunkener Freund, du weißt das auch. Zweifle nicht an Gott, nur weil der Wein dich auf düstere Gedanken bringt!"
Bedrückt senkte Giuliano den Kopf und stellte fest, dass er schon wieder mit seinem Wein spielte. Hastig leerte er den Kelch mit einem Zug und stellte ihn entschlossen auf dem Tisch ab. Wer war er, dass er seinem Freund das nahm, was ihm das Wichtigste war: seinen unerschütterlichen Glauben an Gott?
Drei weitere Nächte verbrachte Giuliano in solch melancholischer Stimmung, dass er kaum etwas anderes tat, als seine Gefühle in Gedichten zu verarbeiten und wenn ihn das nicht weiterbrachte diese mit Wein zu betäuben.
Dann plötzlich wachte er auf und betrachtete verblüfft die vertraute Decke seines Schlafzimmers in Fiesole. Im ersten Moment konnte er nicht genau benennen, was ihn so verwunderte. Doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er schlug sich lachend mit der Hand gegen die Stirn. Warm und hell warf die Morgensonne ihre langen Strahlen durch das Fenster und kitzelte ihn im Gesicht.
Heute war der Tag der Sommersonnenwende und somit einer der wenigen Tage, an denen Giulianos Körper den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht allein ihm gehörte, da Apollo seine Pflichten auf dem Olymp erfüllen musste. Zur Sommer- und zur Wintersonnenwende tagte der Olympische Rat auf dem Olymp. An diesen beiden Tagen waren die zwölf olympischen Gottheiten von ihren üblichen Verpflichtungen befreit, um ihre Aufmerksamkeit ganz den Belangen der Welt zu widmen. Giuliano stellte sich diese Sitzungen ein bisschen wie die Treffen der Signoria vor, auch wenn die Priori nur aus neun Männern bestand und die Götter auch Frauen in ihrem Rat duldeten. Soweit Giuliano verstanden hatte, hätte Apollo ihm diese Pflicht ebenfalls überlassen. Doch die Gefahr als falscher Apollo entlarvt zu werden war bei einer größeren Ansammlung von Göttern zu hoch und so kam der Gott der Dichtkunst nicht umhin persönlich zu erscheinen.
Verschlafen setzte sich Giuliano im Bett auf und betrachtete zufrieden sein vertrautes Zimmer. Hier hatte er als Kind wunderschöne Sommer verbracht. Selig lächelnd überlegte er, was er mit seinem apollofreien Tag anstellen konnte. Ob Lorenzo ihn bereits verplant hatte?
Gut gelaunt schlüpfte Giuliano aus seinem Bett und in seine Kleidung. Dann verließ er zufrieden sein Zimmer und eilte zum Speisezimmer. Überrascht stellte er fest, dass Sandro und seine ganze Familie schon zum Frühstück versammelt waren. Von den Kindern Lorenzos fehlte jede Spur. Vermutlich nahmen sie gerade ihr Frühstück mit ihrer Kinderfrau ein. Giulianos spätes Auftauchen wurde von seiner Familie ignoriert. Lorenzo war noch ganz grau im Gesicht und sah so aus, als schwankte er noch, ob er sich wieder hinlegen oder einfach weiter trinken sollte, um sich besser zu fühlen.
Vergnügt schlenderte Giuliano zu seinem Platz neben Lorenzo. Im Vorbeigehen beugte er sich grinsend zu seiner Mutter herab, um ihr einen flüchtigen Kuss zur Begrüßung auf die Wange zu hauchen. Immer noch breit lächelnd ließ er sich auf seinen Stuhl nieder und griff nach einem der Brötchen, die in einem Körbchen in der Mitte des Tisches standen.
Gerade als er sich einen Becher Apfelsaft einschenken wollte, ertönte die feste Stimme seiner Mutter: „Wie geht es mit deinem Auftrag voran, Sandro?"
Sofort schoss Giulianos Kopf nach oben, wobei er sich beinahe den Saft über die Hand geschüttet hätte. Keiner der Anwesenden bemerkte seinen plötzlichen Anfall von Ungeschicklichkeit. Neugierig beobachtete er Sandro, der hastig seinen Bissen herunterwürgte, um Mutter antworten zu können.
„Gut", würgte Sandro hervor und trank eilig einen großen Schluck stark verdünnten Wein. „Die wichtigsten Bestandteile konnte ich bereits in meinem Studio in Florenz beenden. Aber gerade arbeite ich am Feinschliff. Dies dauert immer am längsten und ich kann noch nicht genau sagen, wann Signorina Gorini den Sommer ohne meine Anwesenheit genießen kann."
Die Vorstellung, dass Sandro Fioretta stundenlang zum stillen Sitzen zwang und sie damit vom Lesen abhielt, amüsierte Giuliano. Doch dann erinnerte er sich schlagartig daran, dass sie sich seit Wochen in Schweigen hüllte und ihm nichts anderes übrig blieb als seinen Erinnerungen an sie nachzuhängen und düstere Gedichte zu verfassen, während er mit schwindender Hoffnung auf ihre Antwort wartete.
„Soll ich dich begleiten, Sandro?", erkundigte sich Giuliano, zupfte betont lässig ein Stück von seinem Brötchen ab und steckte es sich in den Mund. Sofort spürte er alle Augen auf sich gerichtet. Aber er konnte so nicht weitermachen. Heute war seine einzige Gelegenheit mit ihr zu einer Zeit zu sprechen, die schicklich war. Sie würde ihn kaum ignorieren können, wenn er sich bei Tag in ihrer Nähe aufhielt. Außerdem hatte er Lust auf einen Ausritt. Lorenzo war nicht in der Lage ihm dabei Gesellschaft zu leisten. Dafür kannte Giuliano seinen Bruder zu gut. Bevor seine Familie ihn mit unangenehmen Fragen bombardieren konnte, fuhr er rasch fort: „Außerdem habe ich Lust auf einen kleinen Ausritt und die Gegend kenne ich besser als den Inhalt meiner Westentasche. Erst vor kurzem habe ich gehört, die Gärten der Villa Gorini sollen hier auf dem Land sogar noch prächtiger sein als der ihres Palazzo in Florenz."
„Woher weißt du, wie der Garten der Gorinis in Florenz aussieht?", verlangte seine Mutter zu erfahren. In ihrer Stimmung schwang eine Mischung aus Belustigung und mütterlicher Schärfe mit.
„Nannina hat mir von ihm erzählt", antwortete Giuliano unbeeindruckt und hielt dem bohrenden Blick seiner Mutter selbstbewusst stand. Wie von selbst formten sich ihre Lippen zu einem wissenden Lächeln. Ihr hatte er nie etwas vormachen können. Aus dem Augenwinkel nahm Giuliano wahr, wie sein Bruder einen Diener herbeiwinkte, der ihm sogleich in einen neuen Becher Wein einschenkte. Anscheinend brauchte Lorenzo für dieses Gespräch etwas, das ihn mehr stärkte als Apfelsaft, Käse und Brötchen.
„Wie stellst du dir das überhaupt vor?", entfuhr es Sandro müde. „Ich werde den halben Tag damit zubringen an dem Gemälde zu arbeiten. Was willst du die ganze Zeit machen? Im Garten spazieren?"
„Wieso nicht?", erwiderte Giuliano grinsend. „Ich könnte mich natürlich auch mit Signore Gorini unterhalten. Unser Schwager ist ganz angetan von ihm."
„Du bist aber kein Gelehrter, sondern ein Bankier", unterbrach Lorenzo ihn harsch. Zum ersten Mal an diesem Morgen fühlte Giuliano, wie seiner guten Laune ein Dämpfer versetzt wurde. Langsam wandte er den Kopf seinem Bruder zu und forderte ihn mit seinem Blick stumm heraus. Fragend hob Giuliano die Augenbraue und nach einigen Herzschlägen absoluter Stille schloss Lorenzo resigniert die Augen.
„Geh mit Sandro, wenn du gehen willst und denkst, dass dich das wirklich glücklich macht", sagte er matt und ignorierte die verwirrten Mienen seiner Gemahlin Clarice und seiner Mutter. „Aber vergiss nicht, dass du immer ein Medici sein wirst."
„Wie könnte ich das jemals vergessen", murmelte Giuliano mehr zu sich selbst und griff nach seinem Apfelsaft. Als sich seine Hand um den Becher schloss, blitzte der Siegelring an seinem Finger im Sonnenlicht auf und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Niemals würde er vergessen, wer er war. Aber Fioretta Gorini würde ihn nicht länger durch ihr Schweigen quälen. Vielleicht würde ihr Anblick ihn noch mehr peinigen als ihr Schweigen. Doch immerhin würde er dann die Gewissheit haben, dass sie ihn wahrhaftig ignorierte.
Es war Sandro, der seine Gedanken unterbrach und ihm leise gestattete ihn zur Villa der Familie Gorini am anderen Ende von Fiesole zu begleiten. Der Rest des Essens schwieg Giuliano und lauschte ohne großes Interesse den belanglosen Gesprächen, während er sich im Geist bereits die Worte zurechtlegte, die er an Fioretta Gorini richten wollte.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro