Kapitel 23
26. April 1476
Unbewegt wie eine Statue lag Simonetta in ihrem Bett und beobachtete, wie sich der Himmel vor ihrem Fenster langsam verfärbte. Das Schwarz der Nacht wurde zu einem dunklen Blau, dann verfärbte es sich zu einem intensiver werdenden Violett, mit einem Schlag wurde der Himmel grau, nur um kurz darauf langsam am Horizont immer röter zu werden. Ihre Zofe war über ihren Wunsch die Vorhänge offen zu lassen sehr verwundert gewesen. Immerhin war Simonetta krank. Todkrank. Vielleicht war die Zofe deshalb ihrem Wunsch auch letztendlich nachgekommen. Es war albern, dass wusste Aphrodite. Aber sie wollte wissen, wann sie diesen Körper verlassen musste und ein Teil von ihr gab sich dem lächerlichen Wunsch hin, dass er bei ihr sein würde, wenn die Zeit gekommen war.
Aphrodite wusste, dass dies nicht ihr Ende war. Wenn das Ende eintrat, würde sie in ihren eigenen Körper auf dem Olymp zurückkehren und ihr göttliches Leben wieder aufnehmen, als wäre sie nie fort gewesen. Aber zu fühlen, wie der letzte Funken Lebenskraft Simonettas Körper verließ, machte ihr die Vergänglichkeit aller Dinge nur allzu grausam bewusst. Denn nichts währte ewig. Auch wenn Aphrodite am liebsten die Zeit anhalten würde, um ewig in Simonettas Körper zu leben und ihr köstlich normales Leben zu führen, lag dies nicht in ihrer Macht. Denn es gab keine größere Macht als das Schicksal und Aphrodite spürte mit jeder Faser von Simonettas Körper, dass sie den nächsten Sonnenuntergang nicht in dieser Hülle erleben würde.
Ihr Atem ging rasselnd. Jeder einzelne Atemzug war ein harter Kampf, der ihre ganzen Kräfte unaufhaltsam aufzehrte. Sie spürte, wie ihr Herz einige Schläge aussetzte, nur um dann doch ruckartig wie ein verängstigtes Fohlen weiterzuschlagen. Sie musste einfach nur weiteratmen.
Dann ging die Sonne auf und sie spürte, wie er in die Stadt zurückkehrte. Seine Anwesenheit trieb ihr die Tränen in die Augen. Flatternd schlossen sich Simonettas Lider und ein trauriges Lächeln formte sich auf ihren Lippen.
Urplötzlich loderten Simonettas Glieder vor Schmerz auf und Aphrodites Seele klammerte sich verzweifelt an diesen schwachen, sterblichen Körper. Ein Beben durchlief sie, ruckartig setzte sie sich in ihrem Bett auf und war gerade geistesgegenwärtig genug, um ihr Taschentuch an ihren Mund zu pressen. Prustend spuckte sie warmes Blut und mit einem Mal war der Wunsch bei ihm zu sein so überwältigend, dass sie die Kontrolle über ihre Magie verlor. Verzweifelt streckte sich ihre Zauberkraft aus und versuchte ihn zu finden. Keuchend und am ganzen Körper zitternd nahm Aphrodite ihre Hand zurück und betrachtete das Taschentuch in ihren Händen. Rubinrot funkelte ihr Simonettas Blut entgegen. Eine Weile beobachtete sie, wie das Blut auf dem Stoff zu trocknen begann. Dann sank sie kraftlos zurück in die weichen Kissen und schloss erschöpft die Augen. Wenn sie einfach einschlafen würde, würde Simonettas Ende wenigstens friedlich sein.
Plötzlich wurde ihre Tür so heftig aufgerissen, dass sie beinahe aus den Angeln gerissen wurde. Erschrocken riss Aphrodite die Augen auf und blinzelte heftig, um sich an das matte Licht der aufgehenden Morgensonne zu gewöhnen. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie die hochgewachsene Gestalt erkannte, die soeben in ihr Zimmer stürmte. Mit zwei langen Schritten war er bei ihr und ließ sich auf die Bettkante sinken. Der gehetzte Ausdruck in seinen dunklen Augen brach ihr das Herz.
„Du bist gekommen", stellte sie zärtlich fest und nahm gar nicht wahr, wie brüchig und schwach Simonettas Stimme aus ihrer trockenen Kehle klang. Behutsam strichen seine Hände über ihr Gesicht und sie spürte, wie seine göttlichen Kräfte unter der sterblichen Haut des Medici prickelten. In Giulianos Augen spiegelte sich pures Entsetzen. Sein Herz war so in Aufruhr, dass es an ein kleines Wunder grenzte, dass er noch nicht die Kontrolle über seine Kräfte verloren hatte.
„Ich kann dich heilen, mein Schatz", raunte er und seine Stimme bebte vor Angst. Sein Angebot wärmte ihr Herz und führte sie für einen Wimpernschlag in Versuchung. Wenn sie ihm einfach gestatten würde sie zu heilen, dann hatte Simonetta noch eine Chance. Ihre Lippen formten sich zu einem matten Lächeln. Ganz gleich wie sehr sie sich Rettung für Simonetta ersehnte, war Aphrodite nicht bereit den blutigen Preis dafür zu bezahlen. Irgendwann würde er sie dafür hassen, wenn sie jetzt nicht stark blieb.
„Wenn du das tust, wirst du ihn zerstören", ermahnte sie ihn und versuchte sich die Schmerzen, die ihr das Sprechen verursachte, nicht anmerken zu lassen. Er musste ihr zuhören und sie verstehen. „Bevor du in seinen Körper geschlüpft bist, hast du Lorenzo das Versprechen gegeben, dass sein Bruder eine zweite Chance zu leben bekommen wird. Brich dieses Versprechen nicht für mich. Du bist kein Lügner. Du musst leben, solange sein Körper deine Anwesenheit ertragen kann. Du musst es nicht für Lorenzo oder Giuliano, noch nicht einmal für mich selbst. Du musst es allein für dich selbst tun. Zeit spielt für uns keine Rolle, aber für sie schon und wie eine Sterbliche zu leben hat mich gelehrt den Wert jeder einzelnen Sekunde wieder zu schätzen. Erlaube dir selbst zu leben."
„Das werde ich nicht", versprach er. Die bodenlose Verzweiflung in seinen Augen brachte sie fast um den Verstand. Trotzig wie ein kleiner Junge fuhr er fort: „Ich kann uns beide retten."
Sofort fiel sie in sich zusammen. Sie musste einen Weg finden ihn aufzuhalten. Sie liebte ihn mit all seinen Fehlern und Schwächen. Doch gerade jetzt konnte sie seinen Hang zum Egoismus nicht gebrauchen. Sie mussten beide stärker sein als sie waren. Denn zum ersten Mal in ihrem Leben mussten sie jemand anderen über sich selbst stellen. Giuliano verdiente es zu leben. Antonia Gorini verdiente ein Leben mit ihrer wahren Liebe. Weder Aphrodite noch Apollo durften die beiden um das Leben bringen, welches sie gemeinsam haben könnten. Apollo musste sie gehen lassen. Ihre Augen wurden unendlich schwer und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Flehend blickte sie zu ihm auf und versuchte gegen die Müdigkeit anzukämpfen, die sie von ihm fortzuspülen drohte.
Langsam wich das Entsetzen aus seinen Augen und Resignation flackerte in ihnen. In diesem Augenblick wusste Aphrodite, dass Apollo stark genug sein würde, um Simonetta sterben zu lassen. Giuliano würde diesen Tag überleben. Erleichterung durchströmte jede Faser ihres geliehenen Körpers. In ihrem ganzen Leben war sie noch nie so stolz auf jemand anderen gewesen. Der überhebliche, egoistische Gott, in den sie sich verliebt hatte, war zu jemandem geworden, den sie mit ganzer Seele lieben konnte.
„Ich werde Zuhause deine Rückkehr erwarten", versprach sie und blinzelte gegen ihre Tränen an. Ruckartig setzte sie sich auf und benutzte all ihre Kraft, um ihre weichen Lippen fordernd auf seinen Mund zu pressen. Ein Schauer erfasste seinen Körper, dann verlor er sich in ihrer Berührung. Obwohl ihr ganzer Körper in Flammen zu stehen schien, klammerte sie sich an ihn. Er war das Einzige, das sie noch in dieser Welt verankerte. Dennoch spürte sie, wie ihre Kräfte unaufhaltsam schwanden. Kraftlos sank sie zurück auf ihre Kissen. Sofort unterbrach er den Kuss und blickte besorgt und atemlos zugleich auf sie herab.
„Bitte verlass mich nicht", flehte er sie an. Doch es war zu spät. Im nächsten Moment wurde Aphrodites Seele gewaltsam aus Simonettas Körper geschleudert. Keuchend und am ganzen Leib zitternd sank sie auf die Knie und erkannte das vertraute Muster des Marmorbodens. Wimmernd hob Aphrodite den Kopf und blickte direkt in ihre eigenen Augen. Erschrocken zuckte sie vor diesem ungewohnten Anblick zurück. Ein erstickter Laut entrann ihrer Kehle. Sie war zu schwach gewesen, um Cattochinas Tochter das Leben zu geben, welches sich ihre Mutter für sie erträumt hatte. Dreiundzwanzig Jahre waren einfach eine viel zu kurze Zeit.
Gequält schloss sie die Augen, weil sie ihren eigenen Anblick nicht länger ertragen konnte. Mit aller Macht versuchte sie den in ihr tobenden Sturm an Gefühlen hinunterzuschlucken. Aber sie konnte ihre eigenen Gefühle nicht länger ignorieren. Am ganzen Leib zitternd gab sie ihren Widerstand auf und gestattete sich Simonettas Verlust zu fühlen. Schluchzend legte sie die Arme um ihren Oberkörper und brach weinend in ihrem wunderschönen Zuhause zusammen. Ein Teil von ihr war gestorben und niemals würde sie die Chance bekommen dieses Stück wiederzugewinnen. Dieses Leben hatte sie verloren und es war allein ihre Schuld.
Stundenlang lag sie so in sich zusammengekrümmt da und weinte ungehemmt. Als der Strom ihrer Tränen langsam abebbte, registrierte sie am Rande ihres Bewusstseins, wie lang die Schatten auf dem Boden bereits geworden waren. Irgendwann hatte sie keine Tränen mehr, die sie vergießen konnte. Doch ihr Gefühlsausbruch hatte sie so sehr ausgelaugt, dass sie sich nicht rühren konnte. Still und starr blickte sie auf die länger werdenden Schatten und beobachtete, wie das Licht des Tages unaufhaltsam schwächer wurde.
Plötzlich verlor ihr wunderschöner Marmorboden jegliche Farbe und wirkte nur noch kalt und dunkel. Der letzte Funken Sonnenlicht war verschwunden. Noch bevor diese Information ihrer Augen ihren Geist erreichen konnte, spürte sie aus ganzer Seele die Bedeutung dieses Augenblickes. Die Sonne war untergegangenen. Dieser schreckliche Tag war nun endgültig vorüber. Denn so deutlich wie noch nie zuvor spürte sie, wie seine Seele den Körper wechselte und der ihren plötzlich wieder nah war. Sie sollte aufstehen, sich die Tränen aus dem Gesicht wischen und sich ihm stellen. Aber noch immer war sie nicht in der Lage auch nur eine Faser ihres Körpers zu bewegen.
Blinzelnd starrte sie auf die bleichen Marmorfliesen, als sich plötzlich zwei fremde Arme um sie schlossen und sie an eine unbekannte Brust drückten. Sein fremder Geruch stieg ihr in die Nase und vermutlich hätte sie sich gegen seine Berührung wehren müssen. Aber ihre Seele erkannte die seine wieder. Apollo. Ihr Apollo. Er zog sich nicht von ihr zurück, weil sie ihn belogen hatte. Er war hier bei ihr und gab ihr genau das, was sie jetzt am meisten brauchte. Die vertraute, wenn auch nun viel mächtigere Hitze, die sein unsterblicher Körper ausstrahlte, wärmte ihre Glieder und seine vertraute Nähe erfüllte ihr ausgezehrtes Inneres. Instinktiv schmiegte sie sich enger an ihn und genoss das Gefühl von Geborgenheit, welches sie in seinen starken Armen empfand.
„Es tut mir leid", raunte sie mit heiser Stimme und rückte widerwillig ein kleines Stück von ihm ab, damit sie ihm in die Augen schauen konnte. Voller Liebe und Verständnis schimmerten diese im matten Mondlicht auf sie herab. Behutsam versiegelte er ihren Mund mit seinen Lippen und küsste sie so sanft, dass Aphrodites Herz einen Schlag aussetzte, nur um im nächsten Augenblick in ihrer Brust zu rasen. Noch nie hatte sie sich so verstanden, respektiert und geliebt gefühlt. Blinzelnd schloss sie die Augen und spürte mit jeder Faser ihres Körpers die pure, unsterbliche Liebe, die sie teilten.
„Versprich mir nur eins", wisperte Apollo nach einer Weile. Träge hob sie den Kopf und ihre Blicke kreuzten sich. Sein fein geschnittenes Gesicht wirkte ungewohnt ernst. „Triff bitte nie wieder eine solche Entscheidung über meinen Kopf hinweg. Zu oft habe ich vollkommen hilflos mitansehen müssen, wie denen, die ich liebe, schreckliche Dinge zustoßen und dich so zu sehen hat mir beinahe den Verstand geraubt. Ich werde deine Ansichten immer respektieren, aber stell mich nie wieder so vor vollendete Tatsachen."
„Ich schwöre es dir sogar beim Fluss Styx", flüsterte sie lächelnd zurück und küsste ihn zärtlich. Grinsend vergrub er die Hand in ihrem Haar und presste sie enger an sich. Doch plötzlich hielt er inne und zog sich zurück. Verwirrt runzelte Aphrodite die Stirn und legte den Kopf schief. Frustriert fuhr sich Apollo mit der Hand durch das helle Haar und da dämmerte ihr, was ihm auf der Seele lag.
„Ich werde hier auf dich warten", versicherte sie ihm ruhig. Blinzelnd blickte er sie an und streckte die Hand nach ihr aus. Lächelnd schob sie die Finger zwischen seine. „Meine Tage werde ich mit meiner Pflicht füllen, aber ich habe jedes Wort so gemeint, welches ich in Florenz zu dir gesagt habe. Du darfst dein Wort nicht meinetwegen brechen. Mein Leben lang habe ich auf dich gewartet, Apollo. Ich weiß nicht, warum wir nicht schon vor Jahrtausenden zueinander gefunden haben. Aber jetzt habe ich dich endlich gefunden und ich werde dich nie mehr loslassen, außer du bittest mich darum."
Sie wollte noch so viel mehr sagen. Doch sein nachdenklicher Gesichtsausdruck ließ sie verstummen.
„Genau das ist es, was mir Kopfschmerzen bereitet", sagte er mehr zu sich selbst und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. „Wer würde davon profitieren uns getrennt zu sehen? Wer würde ein Paar zu ewiger Einsamkeit und unaufhörlichem Leid verdammen? Wir sind doch nicht wichtig genug, dass wir für irgendjemanden eine Bedrohung darstellen. Alles, was ich will, ist meine Ewigkeit mit dir in Frieden zu verbringen."
Seine Frage traf sie bis ins Mark. Ihr Inneres gefror zu Eis und unwillkürlich verkrampften sich ihre Finger um seine Hand. Natürlich hatte sie eine Vermutung. Denn nur eine Person war mächtig genug einen solchen Täuschungszauber über einen solch langen Zeitraum zu wirken. Unweigerlich begannen ihre Gedanken in eine Zeit abzuschweifen, die sie aus ihrem Gedächtnis zu verbannen versuchte.
„Was hast du?", erkundigte sich Apollo besorgt und verscheuchte die Erinnerungen, die sie mit sich in einen wirren Strudel der Vergangenheit ziehen wollten. Energisch schüttelte Aphrodite den Kopf und ihre Gedanken klärten sich.
„Was ist, wenn wir nur zueinander gefunden haben, weil wir nicht ganz wir selbst waren?", fragte sie leise. „Wer auch immer uns auseinanderhalten wollte, könnte nur deshalb gescheitert sein, weil der Täuschungszauber an unsere unsterblichen Körper gebunden war. Wenn wir jetzt als Paar auftreten, warnen wir ihn, dass wir uns nicht an die Gesetze gehalten haben."
„Und bringen damit ganz Florenz in Gefahr", griff Apollo ihren Gedanken auf und fuhr sich erneut frustriert durchs Haar. Sein Körper vibrierte vor Anspannung. Knurrend sprang er auf und begann im Zimmer auf und abzuschreiten wie ein eingesperrtes Tier. Nur zu gut sah sie ihm an, dass ihn die gleichen Gedanken plagten wie sie. Sie waren beide zu egoistisch, um ihre Beziehung aufzugeben, solange Giuliano am Leben war. Doch fühlten sie sich der Familie Medici und ihrer Stadt so stark verbunden, dass sie ihnen mit ihrem Handeln keinen Schaden zufügen wollten.
„Wir werden unsere Beziehung wohl eine Weile für uns behalten müssen", seufzte er und ließ sich neben sie auf ihr Bett fallen. Die Aphrodite vor Simonetta hätte ihn vermutlich aufgezogen. Aber Simonetta hatte Aphrodites Wesen auf eine Art und Weise verändert, die sie womöglich nie ganz verstehen würde. Statt ihn mit einem Scherz auf andere Gedanken zu bringen, kuschelte sie sich stumm an ihn und hauchte einen Kuss auf seine nackte Brust. Gedankenverloren legte er seine Arme um sie und zog sie an sich, als ob er sie nie wieder loslassen wollen würde. Sofort durchflutete sie ein tiefes Gefühl von Frieden. Allmählich wurden ihre Lider schwer und sie glitt in einen wohltuenden, traumlosen Schlaf.
Wenige Tage später stand Aphrodite vor ihrem Spiegel, doch sie war blind für die Schönheit ihrer göttlichen Gestalt. Wie von selbst veränderte sich ihr heller Chiton zu einem schweren, modernen Trauerkleid. Ihr offenes, hellblondes Haar begann sich zu locken und steckte sich auf ihrem Kopf zu einer kunstvollen Frisur auf. Auf ihre Wangen legte sich eine hauchdünne Schicht Rouge, wodurch sie sofort lebendiger aussah. Ihre Wimpern wurden dunkler und voluminöser. Ihre Lippen bekamen einen zarten, rosigen Schimmer. Elegant fiel der schwarze Schleier über ihre Schultern und bedeckte züchtig ihr Haar. Erst als sie sich wieder wie eine Frau dieser Zeit vorkam, nahm Aphrodite ihr Spiegelbild wirklich wahr. Sofort fielen ihr all die kleinen Unterschiede zwischen Simonettas und ihrem wahren Gesicht ins Auge und ihr Herz wurde schwer. Ihre eigenen Haare waren heller, ihre Züge ebenmäßiger, ihre Lippen eine Spur voller, die Farbe ihrer Auge undefinierbar. Sie vermisste Simonettas Gesicht im Spiegel. In tiefer Trauer wischte sich die Göttin eine Träne von ihrer makellosen Wange und versuchte ruhig weiter zu atmen. Diesen Tag würde sie mit der Fassung und Anmut begegnen, die einer Göttin würdig war.
Automatisch veränderte sich ihr Spiegelbild und zeigte ihr, was sie sehen wollte. Bleich und starr lag der sterbliche Körper, den sie noch vor Kurzem mit Leben gefüllt hatte, aufgebahrt im Haus der Vespucci. Das blütenweiße Kleid, welches die Tote trug, bildete einen krassen Gegensatz zum Schwarz ihres eigenen Kleides. Auch wenn Schnitt und Stoff identisch waren.
Vor Trauer gelähmt beobachtete Aphrodite, wie sich der kleine Raum mit Menschen füllte, die Aphrodite nie zuvor oder höchstens flüchtig von Weiten gesehen hatte. Sie alle wiesen eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit zu Marco auf. Dies hätte ihre zweite Familie sein können, erkannte sie. Aber Simonetta war ihnen nie begegnet und nun taten sie so, als würde der Tod dieser jungen Frau ihnen das Herz brechen. Dabei hatten sie im Leben nie Interesse an ihr gezeigt. Nicht einmal, als Simonetta Marco im Sommer auf eine Villa auf dem Land begleitet hatte, war sie einem dieser Menschen begegnet. Jede vergossene Träne war eine Lüge. Sie konnte diesen Anblick nicht länger ertragen.
Wütend schloss Aphrodite die Augen und konzentrierte sich darauf ihn zu finden. Als sie die vertraute Wärme seiner Aura spürte, entwich ein kleines Seufzen ihren Lippen. Blinzend schlug sie die Augen auf. Mit dem Rücken zu ihr stand Giuliano über seinen Schreibtisch gebeugt. Seine Hände umklammerten die Holzplatte so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Bedächtig trat Aphrodite zu ihm und legte ihre schlanke Hand auf seinen Oberarm. Augenblicklich entspannte sich Giulianos Körper unter ihrer Berührung und sie schmiegte sich tröstend an ihn.
„Ich weiß nicht, wie ich diesen Tag ohne dich hätte überstehen sollen", gestand Apollo leise. Eine Weile hielt sie ihn einfach nur fest, dann erkundigte er sich leise bei ihr, ob ihr Plan wirklich aufgehen würde. Stumm nickte sie und hauchte einen kleinen Kuss auf Giulianos Nacken. Diese kleine Geste hatte sie bereits unzählige Male getan, während sie in Simonettas Körper gelebt hatte. Aber nun fühlte es sich anders an. Nun wusste sie, wie seidig sich sein Haar zwischen ihren Fingern und wie verletzlich sich diese empfindliche Stelle an seinem Nacken unter ihren Lippen anfühlte. Doch dies war nicht der einzige Grund. Es fühlte sich anders an, weil dies ihr unsterblicher Körper war, während Apollos Seele sich noch immer in Giulianos Körper befand. Aphrodites Körper war nicht dafür geschaffen den sterblichen Körper von Giuliano zu lieben. Für Apollos hingegen war sie geboren worden.
„Niemand wird den wahren Grund herausfinden, weshalb ich heute in Florenz bin", wisperte sie mehr zu sich selbst. „Zusätzlich befindet sich ein Teil von mir in London, zwei in Venedig, sogar fünf in Rom und Athen und ein weiterer in Paris. Ich hatte ganz vergessen, wie anstrengend es ist an mehreren Orten gleichzeitig zu sein."
Belustigt schnaubte Apollo. Vorsichtig drehte er sich zu ihr um und gerade als er Giulianos Arme um sie legen wollte, rief eine Stimme nach dem jungen Medici.
„Das ist seine Mutter Lucrezia", raunte Apollo ihr verschwörerisch ins Ohr. „Unter keinen Umständen darf man sie jemals warten lassen. Ihr Unmut ist schlimmer als alles, was sich Zeus jemals ausdenken könnte."
Obwohl Aphrodite nicht zum Lachen zu Mute war, musste sie über diesen Vergleich kichern. Dann trat sie einen Schritt zurück und gab ihm stumm zu verstehen, dass er vorangehen sollte. Sofort wollte Apollo nach ihrer Hand greifen, doch im letzten Moment besann er sich.
„Die Sterblichen können dich nicht sehen", stellte er überrascht fest und Aphrodite nickte traurig. Natürlich würde sich Aphrodite nicht vor den Augen aller Sterblichen verstecken können. Die Gesetze der Magie erlaubten ihr jedoch sich vor denen zu verbergen, die weder ein Teil der Welt der Unsterblichen noch jemals mit dieser in Berührung gekommen waren. Aber es war äußerst unwahrscheinlich, dass sich unter den Anwesenden ein Halbgott befinden würde. Doch Lorenzo würde sie sehen. Mit einem traurigen Lächeln fuhr Apollo ernst fort: „Dann werde ich mich nun von der Frau verabschieden, durch die ich gelernt habe wieder an die Liebe zu glauben."
Sprachlos blickte sie ihm hinterher, der auf dem Absatz kehrt machte und würdevoll aus dem Zimmer schritt. Mit einem Schlag wurde Aphrodite bewusst, dass sie noch nicht bereit war sich ihren Gefühlen zu stellen. Am Rande ihres Bewusstseins spürte sie diese bodenlose, alles verschlingende Traurigkeit in sich aufwallen, die teilweise mit Simonettas Tod in Zusammenhang stand. Neugierig blickte sich Aphrodite in Giulianos Zimmer um, welches sie noch nie zuvor betreten hatte. Es war geschmackvoll und schlicht zugleich eingerichtet. Dies war ein richtiges Zuhause. Mit einem Seufzen wandte sie sich von Giulianos Habseligkeiten ab, doch sie kannte sich in diesem Haus zu wenig aus, um den Weg zum Ausgang allein zu finden.
Gerade als Apollo Giulianos Mutter entschuldigend auf die Wange küsste, erschien sie lautlos an seiner Seite und strich sich den schwarzen Stoff ihres Kleides glatt. Neben Giulianos Mutter stand deren Schwiegertochter Clarice Orsini und gab ihrem jüngsten Sohn Giovanni einen Abschiedskuss auf die Stirn. Das Kind war noch kein halbes Jahr alt, doch es lächelte seine Mutter voller Güte und Wärme an, während sein vier Jahre alter Bruder Piero schmollend zwischen seinen Schwestern auf dem Treppenabsatz stand. Das Oberhaupt der Familie, Clarices Gemahl Lorenzo, war noch immer geschäftlich in Pisa.
„Lasst uns aufbrechen", meinte Giulianos Mutter freudlos und schenkte ihrem Sohn ein tröstendes Lächeln. Als Lucrezia den Kopf drehte, ging ihr Blick einfach durch Aphrodite hindurch. Erleichtert atmete Apollo aus und strich unauffällig mit den Fingerspitzen über ihren Handrücken. Zeitgleich setzten sie sich in Bewegung und schritten durch die Straßen von Florenz zur Kirche San Salvatore di Ognissanti. Aphrodite wusste nicht, weshalb Simonettas Körper ausgerechnet dort beigesetzt wurde. Doch als sie sich neben Apollo auf der harten Holzbank niederließ, kämpfte sie mit ihren Tränen. Die Kirche war wunderschön. Zwar nicht ganz so gigantisch wie die Kathedrale Sana Maria del Fiore oder so opulent wie die Basilica di San Lorenzo. Aber dennoch wunderschön. Auch wenn ihr die Kirche wirklich gut gefiel, konnte sie nicht anders als das Gotteshaus mit den vielen Tempeln zu vergleichen, welche die Menschen in ihrem Namen errichtet hatten. Aphrodite vermisste diese Zeit der bedingungslosen Verehrung, der Opfer und der erhabenen Rituale. Ihr fehlte das Feuer der Kohlebecken, von denen immer ein Hauch Wärme ausging. Sie vermisste das leise Knacken der Kohlen und die vertraute, liebliche Kräutermischung. Geblieben war nur der Weihrauch. Die Christen hatten versucht das Beste aus ihrem auf einen Gott fixierten Glauben zu machen. Sie haben ihm Rituale gewidmet, neue Feiertage begründet und ihm Häuser gebaut, in denen sie zu ihm in aller Öffentlichkeit beten konnten, weil sie eine Zeit lang nur im Verborgenen zu ihm sprechen konnten. Doch aller christlicher Prunk täuschte sie nicht über die Leere hinweg, welche die Schönheit und die Erhabenheit des antiken Glaubens hinterlassen hatte.
Eine Weile beobachtete die Göttin reglos, wie sich die Kirche langsam füllte, die Menschen ihre Daumen in das Weihwasser tunkten und sich demütig bekreuzigten. Dabei lauschte sie den Gesprächen der Sterblichen. Plötzlich verstummten alle Gespräche. Leise, melancholische Musik setzte ein und ein gewaltiger Lärm drang durch die geöffneten Türen ins Kirchenschiff. Besorgt sprang Aphrodite auf und wirbelte herum. Langsam und andächtig näherte sich die Trage mit der Verstorbenen. Dieser Anblick erinnerte Aphrodite an die Begräbnisse der alten Zeit in Rom. Tränenüberströmte Gesichter erwiesen der jungen Frau die letzte Ehre, schrien ihren Namen, sangen herzzerreißende Lieder auf ihre Schönheit und Simonetta Vespucci war tot nicht weniger schön als im Leben. Ihr weißes Kleid leuchtete von Weiten durch die Menge und unterstrich die tote Blässe ihrer Haut. Ihr blondes Haar leuchtete sanft im Sonnenlicht. Mit jedem Schritt, die sich der kleine Leichenzug der Kirche näherte, erinnerte sie Aphrodite mehr an eine Schlafende. Es rührte sie zutiefst, wie viel Liebe, Respekt und Verehrung ihr die Florentiner entgegenbrachten. Tränen strömten über das Gesicht der Göttin und verschleierten ihre Sicht. Rührung und Trauer raubten ihr den Atem.
Andächtig erhob sich Apollo und blickte Simonetta entgegen. Dabei berührten sich ihre Schultern für einen Wimpernschlag. Diese kleine Berührung verhinderte, dass Aphrodites Herz in tausend Teile zersprang und sie die Kontrolle über ihre Gefühle verlor.
Der Gottesdienst war mit Abstand der Schlimmste, den Aphrodite jemals über sich hatte ergehen lassen müssen. So viele leere Worte, hohle Phrasen und falsche Versprechungen. Die Seele der Verstorben würde niemals ins gelobte Reich des Herren reisen. Aphrodite suchte keine Absolution für ihre Fehler und erst recht nicht für die angeblichen Sünden, die sie in Simonettas Körper begangen hatte. Ohne Apollo an ihrer Seite hätte sie diese Farce nicht ertragen. Er war ihr Zuhause, ihre Familie, ihr Schicksal.
Statt den Lügen des Priesters zu lauschen, betrachtete sie Simonettas schönes Gesicht. Es war ihr so vertraut und lieb wie ihr eigenes und es brachte sie beinahe um den Verstand, dass ihr dieses Gesicht nie wieder zufällig im Spiegel begegnen würde.
Irgendwann war die Messe gelesen, die Lieder gespielt und während Apollo an Giulianos Stelle sein Beileid bekundete, trat Aphrodite zu der Toten und strich ihr liebevoll eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
Es gab viele Dinge, die sie ihr gern gesagt hätte. Aber ihre Trauer schnürte ihr die Kehle zu. Also begnügte sie sich mit einem Abschiedskuss auf die Stirn. Dies war mehr als eine Hülle. Dies war das Ende ihres sterblichen Lebens. Ohne das Gebet ihrer Mutter hätte dieser Körper niemals gelebt. Schweren Herzens richtete sich die Göttin auf und trat einen Schritt zurück. Plötzlich lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Unbehaglich drehte Aphrodite den Kopf und blickte direkt in ein vertrautes Augenpaar, welches sie voller Verwunderung musterte. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Er sah sie. Er sah sie wirklich. Wann hatte er ihr wahres Ich in Simonetta erkannt? Mechanisch trat er einen Schritt auf sie zu und Aphrodites Knie zitterten vor Angst. Schnell wandte sich die Göttin ab und verschmolz mit der trauernden Menge. Bevor er sie erreichen konnte, hatte sie sich bereits in Luft aufgelöst und war auf den Olymp zurückgekehrt. Solange Giuliano lebte, durfte sie nicht nach Florenz zurückkehren. Doch sie ahnte, dass es bereits zu spät war. Der Schaden war unwiderruflich angerichtet. Bald würde ihre Welt in Flammen aufgehen. Erneut würden Unschuldige den Preis für ihre Fehler bezahlen, wenn unsterblicher Zorn nach göttlicher Vergeltung sann.
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