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Kapitel 20

Markerschütternde Schreie zerrissen die friedliche Idylle. Im ersten Augenblick hoffte sie inständig, diese schmerzhaft vertrauten Laute stammten von einem verletzten Tier. Doch diese Hoffnung war genauso trügerisch wie der Frieden dieses himmlischen Ortes. Ohne zu zögern, stürmte sie den Schreien entgegen und nach wenigen Herzschlägen entdeckte sie die Ursache des Lärms. Natürlich war dies kein Tier. Hier oben gab es kein Wild mehr, welches erlegt werden konnte. Die gequälten Schreie stammten aus der Kehle einer hageren Gestalt. Wirr rahmten die Haare das einst stolze Gesicht der Schreienden ein. Ihre große Gestalt war in sich zusammengekrümmt und ihre dürren Arme hatten sich fest um ihren Oberkörper geschlungen, so als fürchte sie vor Schmerz in der Mitte entzweigerissen zu werden. Gehetzt huschten ihre tiefgrünen Augen umher, ohne dass ihr Blick wirklich etwas erfassen konnte.
Beim Anblick ihrer Mutter verwandelte sich die Herbeieilende schlagartig wieder zu dem unsicheren, verängstigten Mädchen, welches mit dieser viel zu vertrauten Situation gänzlich überfordert war. Hilflos blickte sie sich um, doch anders als früher war sie nun allein. Schwer schluckte sie die in sich aufkeimende Angst hinunter und zwang sich die Distanz zu ihrer Mutter zu überbrücken, um die Schreiende behutsam in den Arm zu nehmen. Sanft wisperte sie hohle Worte in das Ohr ihrer Mutter, während sie sanft über deren zerzauste Locken strich. Unzählige Male hatte sie diese kleinen Gesten bei ihrem Bruder beobachtet. Schon als sie beide noch Kinder waren, war es ihm ein Bedürfnis gewesen anderen zu helfen und sie von ihren Schmerzen zu heilen. So war es für ihn vollkommen natürlich zu Mutter zu gehen und ihren Schmerz zu lindern. Sie hingegen war bei jedem Anfall vor Angst und Wut so gelähmt gewesen, dass sie ihm nur stumm zusehen konnte. Wenn sie sich aus ihrer Starre lösen konnte, war sie vor Scham und Eifersucht aus der Höhle gestürmt und auf die Jagd gegangen. Denn es war um so vieles einfacher etwas zu töten als es zu heilen. Sie war keine Heilerin, aber dafür war sie die geborene Jägerin.
Mutter war eine Titanin und wie die Götter konnten Titanen nur an einer einzigen Krankheit leiden: Wahnsinn. Ihr Bruder hatte immer gespürt, wie er den Wahnsinn, der Mutter zu verschlingen drohte, zurückdrängen konnte. Dieses Gespür fehlte ihr gänzlich und nun verfluchte sie im Stillen ihre mangelnden Fähigkeiten.
„Ich will meinen Sohn!", kreischte Mutter und wand sich ruckartig aus ihrer Umarmung. Vollkommen vor den Kopf gestoßen blickte Artemis auf ihre Mutter herab, die sich auf den Wildblumen krümmte. Langsam formte sich aus den verzehrten Schmerzenslauten sein Name und hallte in ihrem Kopf nach. Apollo. Apollo. Natürlich brauchte Mutter Apollo. Niemand brauchte Artemis. Sie musste zu ihm.
Bebend vor Angst rief Artemis ihre ganze Macht zu sich und ließ sich von ihrer Magie direkt auf seinen Sonnenwagen katapultieren. Mutters verzweifelte Schmerzensschreie hallten immer noch in ihren Ohren und vibrierten in ihrem Körper, als sie den Arm ihres überraschten Bruders ergriff.
„Was zum Teufel?", entfuhr es ihm entgeistert, doch immerhin hatte sie ihn so überrumpelt, dass er sich nicht von ihr losmachen konnte. Artemis war so erleichtert die vertraute, beruhigende Hitze seiner Haut unter ihren Fingern zu spüren, dass ihr seine seltsam ungewohnte Ausdrucksweise nicht auffiel.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren!", meinte Artemis mit überraschend fester und ruhiger Stimme. Ihr Ton verriet nicht den Sturm an Gefühlen, der in ihrem Inneren jedes Mal tobte, wenn Mutter einen ihrer Anfälle hatte. Eine Spur gehetzter fuhr sie fort: „Wir müssen sofort zu ihr! Sie braucht dich jetzt!"
Apollo runzelte sichtlich verwirrt und öffnete bereits den Mund zum Widerspruch, als Artemis die Geduld mit ihm verlor. Wenn er sie meiden wollte, dann war das nach allem, was sie ihm angetan hatte, verständlich und irgendwie versuchte sie zu lernen mit dem Verlust ihres Zwillings zu leben. Doch Mutter brauchte ihn wirklich. Sie hatte ihn immer gebraucht und Artemis wusste, dass Apollo Mutter viel zu sehr liebte, als dass er sie in ihrem Zustand jemals fallen lassen konnte.
Bevor er reagieren konnte, bohrten sich ihre Finger tiefer in seinen Unterarm und sie fühlte seine vertraute Magie unter seiner Haut pulsieren. Instinktiv griff sie danach und als ihre Auren miteinander verschmolzen, zog sie ihn mit sich zurück auf die kleine Lichtung zu ihrer Mutter. Sobald die markerschütternden Schreie sie empfingen, erstarrte Apollos Körper neben ihr. Langsam zog sie ihre Hand zurück und zwang sich den Blick von Mutters ausgezehrter Gestalt abzuwenden. Stattdessen blickte sie zu ihrem Bruder auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf die Schreiende und zum ersten Mal in ihrem Leben wirkte Apollo vollkommen hilflos. Seine Schultern hatten sich vor Unentschlossenheit verkrampft, sein Mund stand leicht offen, doch kein Laut entwich seinen fein geschwungenen Lippen und in seine smaragdgrünen Augen trat ein Ausdruck, der Artemis' Herz vor Angst schneller schlagen ließ.
„Komm", wisperte sie sanft und ließ ihre Finger zwischen seine gleiten. Verwirrt blinzelte er auf ihre ineinander verschlungenen Finger herab und mit einem Schlag wirkte er unglaublich jung. Letztes Mal hatten sie einander so an den Händen gehalten, als Vater auf Delos aufgetaucht war. Mutters Schrei zerriss die Erinnerung, die sich in Artemis' Geist geformt hatte und erinnerte sie daran, weshalb sie hier mit ihm war.
„Sie braucht dich", erinnerte sie ihn einfühlsam und zog ihn vorsichtig mit sich näher auf ihre Mutter zu. Plötzlich straffte Apollo die Schultern und machte sich von ihr los. Mit drei langen Schritten war er bei Mutter und strich ihr sanft die Haare aus dem Gesicht. Strahlend und zart zugleich lächelte er Mutter an, die schlagartig verstummte. Der Anflug eines zaghaften Lächelns huschte über ihr Gesicht, als sie schwach die Hand nach ihm ausstreckte und auf seine Wange legte. In diesem Moment beneidete Artemis ihren Bruder für seine Fähigkeit einfach immer das Richtige zu tun.
Ruckartig zog Mutter ihre Hand von seiner Wange und stieß ihn unsanft von sich. In ihren Augen tobten Zorn und Wahnsinn, die sie ihm mit aller Kraft entgegenschleuderte.
„Du bist nicht mein Sohn!", fuhr sie Apollo wütend an und Artemis strauchelte getroffen zurück. „Ich will meinen Jungen! Ich will meinen Jungen!"
Einige Atemzüge starrte Apollo sie starr vor Entsetzen an. Die Hilflosigkeit in seinen Augen brach Artemis das Herz und plötzlich überkam sie der überwältigende Drang ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten. Ein Gefühl, welches sie in Apollos Gegenwart noch nie gespürt hatte. Aber in diesem Augenblick erinnerte er sie so gar nicht an den arroganten, aber hilfsbereiten Gott, den sie ihr Leben lang gekannt hatte. In diesem Augenblick war er einfach nur ein kleiner Junge, der die Welt um ihn nicht mehr verstand.
Vollkommen unvermittelt veränderte er sich plötzlich. Seine Aura war mit einem Schlag voller, wärmer, mächtiger als zuvor. Sein Wesen schien plötzlich die ganze Lichtung zu fluten und die Kraft, die von ihm ausging, ließ Artemis auf die Knie sinken. Im selben Moment verstummte Mutters Mantra und sie blickte aus großen, klaren Augen voller Vertrauen zu ihm auf. Fordernd streckte sie ihre Arme nach ihm aus und sofort kam er ihrem Wunsch nach. Behutsam ließ er sich neben Mutter zu Boden sinken, legte seine starken Arme um sie und sein Kinn auf ihrem Kopf ab.
„Mein lieber, lieber Junge", raunte Mutter glücklich, schmiegte sich an ihn und schloss zufrieden die Augen. Sacht fuhr er ihr durch das wirre Haar, welches sich unter seinen Fingern entwirrte und seinen alten Glanz zurückbekam. Allmählich wurden Mutters Atemzüge gleichmäßig.
Mit großen Augen blickte Artemis ihren Bruder an und versuchte zu begreifen, was sie gesehen hatte. Aber sie konnte es einfach nicht verstehen. Sie konnte ihn nicht mehr verstehen. Als sich ihre Blicke kreuzten, musste sie sich eingestehen, dass ihr Bruder etwas Wichtiges vor ihr verbarg und es allein ihre Schuld war, dass er sich ihr niemals anvertrauen würde. Doch hier auf Mutters Wiese gab sie sich selbst das Versprechen, dass sie sein Vertrauen zurückgewinnen und ihn vor dem, was er vor ihr verborgen hielt, beschützen würde. Ganz gleich wie viel Zeit es sie auch kosten würde. Denn Zeit war das Einzige, welches sie im Überfluss besaß.

Die Sonne war bereits vor ungefähr einer Stunde untergegangen. Bleich und fahl tauchte der Mond die Lichtung in sein silbriges Licht, als Apollo sich plötzlich bewegte. Behutsam veränderte er seine Arme um Mutters Körper und erhob sich mit ihr auf seinen Armen. Sofort war Artemis auf den Beinen und trat einen Schritt auf die beiden zu. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, trug Apollo Mutter ans Ende der Lichtung. Dort befand sich beinahe vollkommen von ein paar Sträuchern verborgen eine Höhle. Als ihr Vater Zeus vor ungefähr tausend Jahren beschlossen hatte, dass alle Götter der Welt der Sterblichen den Rücken kehren und künftig nur noch auf dem Olymp leben mussten, hatten Apollo und sie diesen Ort für ihre Mutter geschaffen. Mutter hatte Delos nicht verlassen wollen und so hatten ihre Kinder ein Abbild ihres liebsten Teils der Insel auf dem Olymp erschaffen.
Wie ein zweiter Schatten folgte Artemis ihrem Bruder und beobachtete, wie er Mutter auf das alte Bett legte und die Decken fürsorglich über ihr ausbreitete. Dann drückte er Mutter rasch einen Abschiedskuss auf die Stirn, wandte sich von ihr ab und verließ die Höhle. Aus dem Augenwinkel registrierte Artemis die kleine Lichtkugel, die beständig neben Mutters Kopf schwebte. Wie gern hätte Artemis selbst einen kleinen Funken des Wesens ihres Bruders, das auf sie aufpasste und ihr ein Gefühl von Sicherheit gab.
Mit ernster Miene verließ Apollo die Höhle, ohne sich ein einziges Mal zu ihrer schlafenden Mutter umzudrehen. Geräuschlos folgte sie ihm in die Nacht hinaus und betrachtete seine in Mondlicht getauchte Gestalt, die sich wortlos von ihr entfernte. Sie hatte ganz vergessen, dass sein helles Haar im Mondlicht beinahe weiß wirkte. Im Sonnenlicht besaß sein Blond einen zarten Rotstich, den sie im Stillen immer bewundert hatte. Doch nach Sonnenuntergang schien sein Haar aus reinem Mondlicht zu bestehen. Unsicher lief sie hinter ihm her und fuhr sich durch ihre langen, dunklen Locken. Ihr Haar hatte sich zum Jagen schon immer besser geeignet. Bei Tag war es so braun wie die Stämme der Bäume des Waldes, bei Nacht so finster wie der Himmel über ihnen.
Unvermittelt blieb Apollo stehen und drehte sich zu ihr um. Sie waren nun so weit von Mutters Höhle entfernt, dass sie nicht mehr zu sehen war. Unsicher trat sie einen Schritt näher und blickte ihm forschend in das ausdruckslose Gesicht.
„Verfolgst du mich?", zog er sie spottend auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Blinzelnd legte Artemis den Kopf schief, worauf Apollo nur theatralisch seufzte und sich gegen den nächstgelegenen Baumstamm sinken ließ. Vor ihr stand nun der Apollo, der er heute war und den sie nur aus der Ferne beobachtet hatte. Dies war nicht ihr Zwilling, mit dem sie auf Delos unzertrennlich gewesen war und dies war ganz sicher nicht der verletzliche Junge, der mit Mutters Zustand so überfordert gewesen war.
„Du hättest in den vergangenen Minuten einfach verschwinden können", erwiderte Artemis und war erleichtert, wie ruhig ihre Stimme klang. Verächtlich schüttelte Apollo und blickte sie so intensiv an, dass sie sich wie eine Närrin vorkam.
„Du irrst dich. Du hättest jederzeit verschwinden können. Aber ich gehe immer erst einmal ein Stück zu Fuß, damit meine Präsenz sie nicht mit einem Schlag verlässt. Der kleine Trick mit der Lichtkugel wirkt nur sehr schwach und ist kein Ersatz für mein sonniges Wesen. Wenn Mutter spürt, dass ich fort bin, wird sie aufwachen und alles geht wieder von vorn los", antwortete er genervt und zog arrogant eine Augenbraue nach oben. „Die interessante Frage ist deshalb eher, weshalb du mir durch den Wald folgst und nicht einfach verschwindest, so wie du es immer gern tust. Also was willst du von mir?"
Verletzt stieß sie zischend die Luft aus und öffnete den Mund für eine beißende Erwiderung. Aber ihr fiel keine Geeignete ein. Rasch presste sie die Lippen aufeinander und funkelte ihn trotzig an. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. Das Schweigen dehnte sich zwischen ihnen aus und wurde Artemis mit jedem Atemzug unerträglicher.
„Was ist mit dir passiert?", flüsterte sie heiser und schluckte schwer. Sein Blick wurde so intensiv, dass ihre Knie schwach wurden.
„Ich bin einfach nur erwachsen geworden", antwortete er prompt und seine Lippen verzogen sich zu einem arroganten Grinsen. Am liebsten hätte sie ihn an den Schultern gepackt und geschüttelt, bis dieses dämliche Grinsen von seinem Gesicht verschwand. Stattdessen kam sie ihm bedrohlich nahe, stemmte die Hände in die Hüften und baute sich selbstbewusst vor ihm auf. Berechnend funkelte sie zu ihm auf und versuchte auf seinem Gesicht etwas anderes als Arroganz und Kälte zu entdecken.
„Warum hat Mutter behauptet, dass du nicht ihr Sohn wärst?", fragte sie streng und für einen Wimpernschlag spannten sich Apollos Schultern unmerklich an. Flüchtig blitzte etwas in seinen Augen auf. Im schwachen Licht wirkten sie vollkommen schwarz.
„Weil ihr Verstand ihr einen sehr grausamen Streich gespielt hat", erwiderte Apollo leise und hielt ihrem ungläubigen Blick stand. Ein Teil von Artemis wollte ihn mit all ihren Beobachtungen konfrontieren und von ihm eine Erklärung für die vielen Dinge fordern, die sie an ihm nicht mehr verstand. Doch stattdessen sagte sie nur: „Es fühlte sich an, als wärst du nicht ganz du selbst gewesen. Ich weiß, es klingt verrückt. Aber deine Aura war so schwach und kühl..."
Apollo zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sein kalter Blick war wie ein Messer, welches er direkt in ihr Herz rammte. Augenblicklich verstummte Artemis und biss sich auf die Zunge. Der metallische Geschmack von Blut füllte augenblicklich ihren Mund und sie verfluchte sich selbst, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte. Eine Weile starrte Apollo vollkommen ruhig von oben auf sie herab und sie war sich sicher, dass er ihr gegenüber keinerlei Rechenschaft ablegen würde. Doch als er den Mund schließlich öffnete, durchströmte Hoffnung ihren Körper und ließ ihr Herz schneller schlagen.
„Ich sage dir das jetzt zum letzten Mal, Schwester", sagte Apollo gefährlich leise und beugte sich näher zu ihr herab. „Halte dich aus meinem Leben raus!"
Ohne ihre Antwort abzuwarten, stieß er sich von seinem Baumstamm ab, kehrte ihr den Rücken zu und verschmolz mit den Schatten um sie herum. Artemis wollte ihm folgen und ihm versichern, dass sie kein Interesse daran habe noch einen weiteren Augenblick sich aus seinem Leben herauszuhalten. Sie wollte ihn davon überzeugen, dass sie ihn, ihren Zwilling, nicht mehr als Fremden betrachten konnte. Aber sie war vollkommen erstarrt. Ihre Beine verweigerten ihr den Dienst. Ihr ganzer Körper zitterte wie Espenlaub, doch sie bemerkte es nicht. Wie gelähmt stand sie da und blickte auf den dunklen Fleck zwischen den Bäumen, hinter dem ihr Bruder verschwunden war. Ihre Gedanken rasten, während langsam die in ihr aufkeimende Angst ihr Herz ergriff und ihren Verstand vernebelte.
Dann spürte sie ganz deutlich, wie der letzte Rest Wärme verschwand. Ihr Bruder war fort. Er hatte diesen Ort, der sie so schmerzlich an ihr gemeinsames Zuhause auf Delos erinnerte, verlassen und das Fehlen seiner Aura ließ sie zum zweiten Mal an diesem Tag kraftlos auf die Knie sinken. Ohne ihn war ihr mit einem Schlag furchtbar kalt. Fröstelnd schlang sie die Arme um ihren Oberkörper und versuchte die Einsamkeit zurückzudrängen. Aber sie war zu schwach und diese erdrückende, alles verschlingende Leere breitete sich in ihrem Körper aus. Noch nie in ihrem Leben hatte sich Artemis so zurückgewiesen und allein gefühlt, wie in diesem Moment.

~ ℱ ~

Nachdenklich zeichnete Apollo mit dem Daumen den feinen Schwung ihrer Lippen nach und ertappte sich bei der Frage, wie sich wohl ihre eigenen Lippen anfühlen würden. Dieser Körper war genauso geliehen wie Giulianos, nur dass sie ihn sich nicht mit der sterblichen Seele teilen musste. Vor seinem kleinen Handel mit den Medici-Brüdern hatte Apollo niemals die Kontrolle über einen sterblichen Körper übernommen. Bisher hatte er immer seine Kräfte benutzt, um seinen eigenen Körper so zu verändern, dass er sich gefahrlos unter die Sterblichen mischen konnte. Aber noch nie hatte er wirklich ein sterbliches Leben führen können – wenn auch nur von Sonnenaufgang bis -Untergang.
Simonettas Lippen entschlüpfte ein kleiner, wohliger Seufzer, doch sie wachte nicht auf. Gedankenverloren strich Apollo über ihr schönes Gesicht, während seine Gedanken automatisch zurück auf den Olymp wanderten. In den vergangenen Tagen hatte er kaum Giulianos Arbeit in der Bank nachgehen können, weil er immer wieder an seine verdammte Schwester denken musste. Artemis war schlau genug, um aus ihren Beobachtungen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ihre klägliche Konfrontation hatte ihm das nur zu deutlich vor Augen geführt. Er konnte bloß hoffen, dass ihr Verhältnis schlecht genug war, damit sie keine weiter Nachforschungen betrieb und zugleich gut genug war, dass sie mit ihren Vermutungen nicht zu Vater rannte, um ihn zu verpetzen.
„Was bedrückt dich, Liebster?", murmelte eine schlaftrunkene Stimme an seinem Ohr und überrascht zuckte er zusammen. Sofort hielt seine Hand inne und er drehte den Kopf zu ihr. Wie zwei tiefe Seen funkelten ihre Augen zu ihm auf und er beugte sich vor, um sie zu küssen. Flink schmiegte sie sich an ihn und streichelte sanft seine Wange. Ihr warmer, süßer Atem traf ihn mitten ins Gesicht und behutsam legte er seine Lippen auf ihren Mund. Gerade als er sie noch enger an sich ziehen wollte, löste sie sich atemlos von ihm und rückte ein kleines Stück von ihm ab. Sofort vermisste er ihre Nähe und fröstelte.
„Sag mir, was dich bedrückt", raunte sie und strich ihm eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihm in die Augen fiel. Ihr Blick war so flehend und voller Sorge, dass ihr Anblick ihm das Herz zu zerreißen drohte.
„Ich befürchte, dass meine Schwester etwas von meinem Doppelleben ahnt", gestand er und vergrub das Gesicht in ihrem Hals, weil er seine eigene Angst nicht in ihren Augen gespiegelt sehen wollte. Beschwichtigend strich sie ihm durchs Haar und drückte ihm einen Kuss auf die Schläfe. Dann schlang sie die Arme um ihn und hielt ihn fest, als würde sie ihn vor allen Gefahren dieser Welt beschützen wollen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass dies tatsächlich in ihrer Macht stand. Abgesehen von seinem Vater kannte er keine stärkere Gottheit als sie und wenn Artemis Vater ihre Vermutungen erzählen würde, wäre Vater früher oder später auch hinter ihr her. Zwar hatte er noch nie erlebt, dass sich Vater jemals mit ihr angelegt hätte. Aber Aphrodite war sehr alt und sehr mächtig. Vermutlich sogar mächtiger als sein Vater. Dieses Wissen war so tröstlich, dass er sich in ihren Armen ein kleines bisschen entspannen konnte. Doch dann tauchte vor seinem geistigen Auge das Gesicht des Jungen auf, in dessen Körper er sich gerade befand. Apollo und Aphrodite waren unsterblich. Sie besaßen beide Kräfte, mit denen sie sich gegen seinen Vater zur Wehr setzen konnten – vor allem gemeinsam. Aber wer würde Giuliano beschützen? Wenn Apollo diesen Körper nicht mehr aufsuchen würde, würde der junge Medici sterben. Wer würde diesen Verlust mehr betrauern als er? In diesem Augenblick erkannte Apollo, dass sich sein Vater an ihm auf genau diese Weise rächen würde. Wenn auch nur, um ihm dieses Leben frei von göttlichen Regeln und Verpflichtungen wegzunehmen.
Nach einer Weile drückte er ihr einen sanften Kuss aufs Schlüsselbein, ehe er aus seinem Versteck an ihrem Hals hervorkam und sie sacht anlächelte. Aber sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Ihr Blick ging ins Leere, während ihre Finger unsichtbare Muster auf seine Haut zeichneten. Sie war vollkommen in die Welt ihrer Gedanken versunken und obwohl Apollo gern einen Blick in ihren Kopf gewagt hätte, hielt er seine Neugier im Zaum und wartete, bis sie bereit war ihre Gedanken mit ihm zu teilen. Ihr Gesicht war frei von jeglichen Emotionen und in diesem Moment war das Sterbliche aus ihren Zügen gewichen. Obwohl seine Erinnerungen an sie alle verschwommen und verzerrt waren, sah sie nun genauso aus wie ihre wahre, göttliche Gestalt. Mit diesem nachdenklichen Gesichtsausdruck hätte sie niemanden täuschen können.
„Wir werden einen Weg finden sie zu beschützen", murmelte Aphrodite mehr zu sich selbst. Dann schüttelte sie unmerklich den Kopf, um ihre düsteren Gedanken zu vertreiben. Strahlend erwiderte sie sein Lächeln und automatisch zog er sie enger in seine Arme. Doch diese seltsame Melancholie, die sie beide bei dem Gedanken an morgen ergriffen hatte, konnten sie einfach nicht abschütteln. Träge schloss er die Augen und versuchte einfach nur diesen kostbaren, gestohlenen Augenblick mit ihr zu genießen.
„Mein Vater wird einen Weg finden diese Stadt dafür büßen zu lassen, dass sie uns so lange aufgenommen hat", meinte er gequält und schlug die Augen wieder auf. Ihr Blick war hart und entschlossen, während sie sich so süß und verführerisch zugleich an ihn schmiegte. Sanft umfasste sie mit ihren Händen sein Gesicht, während erneut die Sterblichkeit aus Simonettas Gesicht wich.
„Ich werde nicht zulassen, dass Zeus dieser Stadt, die uns beiden so viel bedeutet, Schaden zufügt", versprach sie feierlich und hauchte einen zarten Kuss auf seinen Mundwinkel. „Und falls er es wagen sollte auch nur einen Finger gegen die Medici zu rühren, werde ich ihn erinnern, wo sein Platz ist."
„Du meinst an der Spitze aller Götter?", meinte er und konnte nur mit Mühe ein hysterisches Lachen unterdrücken. In seinem langen Leben war er von seinem Vater immer wieder daran erinnert worden, wo sein Platz war. Als sein Vater verfügte Zeus über genügend Macht über ihn, sodass er ihm letzlich immer gehorchen musste. Auch wenn er sehr erfindungsreich war die Regeln und Befehle seines Vaters zu umgehen. Als Gott der Dichtkunst und des Weissagens wusste Apollo besser als jeder andere, dass die genaue Wortwahl entscheidend war. Sonst hätte er jetzt niemals hier mit der Göttin der Liebe in seinen Armen in der Welt der Sterblichen liegen können.
„Ich werde ihn erinnern, wie er dorthin gekommen ist", antwortete Aphrodite so leise, dass sich Apollo nicht sicher war, ob er sie richtig verstanden hatte. Doch bevor er nachfragen konnte, küsste sie ihn mit einer solchen Leidenschaft, dass sein ganzes Denken aussetzte. Instinktiv klammerte er sich an sie, während er sich einfach fallen ließ. Sie war alles, was wirklich zählte.

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