Kapitel 16
5. Dezember 1469, Florenz
Gestaltlos schwebte die Stimme des Priesters von der Kanzel über die Köpfe seiner Gemeinde hinauf zu der hohen, kunstvoll gearbeiteten Decke. Wie jeden Sonntag saß Simonetta neben ihrem Mann auf der harten Holzbank in der Basilica di San Lorenzo und versuchte ihre mangelnde Begeisterung vor den Menschen zu verbergen. Noch nie hatte Aphrodite gern an Zeremonien teilgenommen, die einer anderen Gottheit gewidmet waren und jede Woche den scheinheiligen Worten eines Schwindlers lauschen zu müssen, langweilte sie. Diese Sterblichen waren so dumm. Sie lauschten den Worten eines Mannes, der sich anmaßte, das Wort ihres einen, wahren Gottes zu kennen, nur weil er ein Buch darüber gelesen hatte. Dennoch raffte sie sich jeden Sonntag und zu den Feiertagen, von denen es in dieser Religion nach ihrem Geschmack eindeutig zu viele gab, auf und ging wie eine gute Christin in die Messe. Ihr Körper wusste, was zu tun war. Sie schwieg, wenn sie schweigen musste. Sie senkte den Kopf, wenn er gesenkt werden musste und sie sang, wenn Gesang erforderlich war. Aber ihr Herz konnte diesen Glauben nicht anerkennen.
Ihr einziger Lichtblick war seine Anwesenheit. Die Basilica di San Lorenzo nahm für sich nicht nur in Anspruch die älteste Kirche von Florenz zu sein, sondern sie diente den Medici als Pfarrkirche. Natürlich lechzte Marco nach den geringen Augenblicken an Aufmerksamkeit, die ihm die Medici nach der Messe jeden Sonntag widmeten und so besuchte er treu die Messe dieser Kirche. Auch heute waren die Medici in der vorderen Reihe versammelt und lauschten aufmerksam den Worten ihres Priesters. Aber niemand hing so gebannt an seinen Lippen wie die schwangere Clarice Orsini. Ihre Frömmigkeit übertraf alles, was Simonetta ja erlebt hatte und obwohl sie ihren Glauben nicht teilen konnte, faszinierte die junge Frau Aphrodite. Deshalb freute sie sich für das Glück der Sterblichen, die sich über ihren Zustand noch nicht sicher war, auch wenn ihre Haut bereits den typischen Glanz aufwies. Aphrodites Gefühl sagte ihr, dass Clarice ein Mädchen unter dem Herzen trug und nicht den Erben, den sie Lorenzo so sehnlich schenken wollte und Simonetta hoffte, dass Clarice nicht enttäuscht sein würde. Doch wenn dies der Fall sein würde, würde ihre Schwiegermutter ihr zur Seite stehen können – immerhin hatte Lucrezia Tornabuoni Lorenzo erst nach drei Töchtern empfangen.
Neben Clarice und damit direkt vor ihr saß er, Apollo. Auch wenn er in diesem Augenblick im Körper von Giuliano de' Medici steckte. So konnte Simonetta von ihrem Platz an Marcos Seite problemlos Giulianos Hinterkopf anstarren, ohne dass jemand etwas Anstößiges daran entdecken konnte. Ein Teil von ihr sehnte sich danach, dass Apollo alle Vorsicht vergaß und sich zu ihr umdrehte. Sein Lächeln würde für einen Herzschlag die Langeweile des Gottesdienstes verscheuchen. Aber Apollo tat, als würde er sich brennend für die Predigt des Christenhirten interessieren. Aphrodite war es schon zuwider als Schaf bezeichnet zu werden. Vielleicht konnte Apollo seinen Worten auch mehr Gehalt abgewinnen als sie. Für sie war die Lehre dieser Religion eine einzige Lüge, mit der sie nicht anfangen konnte. Wie sollte sie das auch? Sie war eine Göttin und diese Religion lebte davon, dass es nur einen wahren Gott gab. Aber wenn sie keine Göttin war, was sollte sie dann sein? Diese Frage beschäftigte sie bereits ihr ganzes Leben und sobald einer dieser neumodischen Priester den Mund aufmachte, kehrten ihre Gedanken zu dieser einen, zentralen Frage ihrer Existenz zurück, die ihr seit Jahrtausenden Kopfschmerzen bereitete.
Erst als die Menschen um sie herum sich erhoben, um von ihrem guten Hirten den Segen des einen wahren Gottes in Form einer geschmacklosen Oblate und eines Schluckes sauren Weins - als Sinnbild für den Leib und das Blut Christis - geben zu lassen, konnte Simonetta ihre Gedanken zum Schweigen bringen. Langsam folgte sie Marco und reihte sich hinter ihm in die Reihe der Wartenden ein, wobei sie sich dazu zwang nicht zu Apollo am Anfang der Schlange zu schauen.
Doch auch wenn sie ihn nicht ansah, so spürte sie seine Anwesenheit mit jeder Faser ihres Körpers und wusste ganz genau, wo er sich gerade befand. In würdevoller Langsamkeit rutschte Simonetta in der Schlange nach vorn. Die vielen Blicke, die sich von allen Seiten auf sie richteten, ignorierte sie mit der gleichen Erhabenheit, die Aphrodite bereits vor Jahrhunderten zu den heute als heidnisch und fehlgeleitet geltenden Zeremonien der Sterblichen zur Schau getragen hatte. Diese göttliche Erhabenheit war die einzige Art von stillem Protest, den sie sich in ihrer Situation erlauben konnte.
Als Marco beiseite trat, um ihr Platz zu machen, schritt Aphrodite anmutig nach vorn und sank in einer fließenden Bewegung demütig vor dem Priester auf die Knie, der so vehement ihre Existenz leugnete und dadurch blind für die Wirklichkeit war. Ein einziger Gedanke von ihr würde genügen, um alle Anwesenden an die wahre Macht der Götter zu erinnern. Doch auch wenn dieser Gedanke verlockend war, zügelte sie sich. Aphrodite war nicht mehr allein in dieser Zeit. Er war bei ihr und jeder Fehler ihrerseits würde unweigerlich auch auf ihn zurückfallen. Denn auch wenn Aphrodite sich jeglichen irdischen und himmlischen Konsequenzen entziehen konnte, so war Apollo seinem Vater fast vollkommen schutzlos ausgeliefert. Wenn Zeus jemals erfahren sollte, was Apollo und sie in dieser Stadt alles getan hatten, dann würde Zeus Rache für ihre Regelbrüche wie gewohnt grausam ausfallen. Je länger ihr Treiben vor Zeus' neugierigen Augen verborgen blieb, desto besser konnte sie im Stillen ihre Verteidigung vorbereiten. Egal was Zeus planen würde, sie würde bereit sein, um ihn aufzuhalten. Apollo hatte bereits genug unter ihm gelitten.
Gehorsam öffnete Simonetta den Mund, damit der heuchlerische Priester ihr dieses geschmacklose Ding auf die Zunge legen konnte. Sobald er seine Finger von ihren Lippen entfernt hatte, schloss Simonetta ihren Mund und unterdrückte den Reflex zu würgen. Stattdessen konzentrierte sie sich auf den vertrauten Geruch des brennenden Weihrauches. Wenn sie die Augen schloss und die Stimmen der Sterblichen um sich herum vollkommen ausblendete, konnte sie sich fast einreden, dass sie sich wieder in der Antike befand. Ein Teil von ihr trauerte um die herrlichen Früchte und Opfergaben, die zu ihren Ehren entrichtet worden waren, als die fade Oblate auf ihrer Zunge schwer wie Blei wurde. Aus weiter Ferne hörte sie die dünne Stimme des Priesters einen Segen für sie sprechen. Gespielt demütig nippte sie an dem dargebotenen Kelch und Stolz durchflutete sie, als sie aufgrund des unangenehmen Geschmackes in ihrem Mund keine Miene verzog. Rasch schluckte sie das geschmacklose Teigding mit einem winzigen Schluck des sauren Weines herunter und vermied es dem Priester in die Augen zu sehen, als sie sich würdevoll erhob. Wortlos trat sie an Marcos Seite und verließ mit ihm das prunkvolle Kirchenschiff.
Sobald sie über die Schwelle trat, hatte Simonetta das Gefühl freier zu atmen. Nur Marcos Hand auf ihrem Rücken erinnerte sie daran, dass sie keineswegs freier war. Doch bevor sie sich weiter darüber Gedanken machen konnte, versank sie in seinen dunklen Augen, in denen etwas aufblitzte, was sie nicht richtig einordnen konnte. Im nächsten Moment murmelte er eine halbherzige Entschuldigung und kam direkt auf Marco und sie zu. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, nur um im nächsten Augenblick viel schneller zu schlagen. Sofort senkte Simonetta den Blick und hoffte, dass keine verräterische Röte auf ihren Wangen zu sehen war. Dann verschmolzen ihre Auren auch schon miteinander und ihr Herzschlag beruhigte sich. In seiner Nähe fühlte sie nichts als tiefen Frieden. Langsam hob sie den Kopf und lächelte ihm zaghaft ins Gesicht.
„Können wir etwas für Euch tun, Messer Medici?", wollte Marco freudig überrascht wissen, bevor Simonetta die Chance hatte etwas zu sagen. Missmutig zog sich Aphrodite hinter ihre Mauern zurück und versteckte sich hinter ihrer sterblichen, belanglos lächelnden Fassade namens Simonetta Cattaneo Vespucci. Apollo zog nur lässig Giulianos Augenbraue nach oben, als lägen die Gründe seines Auftauchens auf der Hand.
„Ich denke nicht, dass Ihr etwas für mich tun könnt, Messer Vespucci", erwiderte Apollo galant und schenkte Marco ein feines Lächeln. „Aber mich interessiert Eure Meinung über das Gemälde, für welches Eure reizende Frau und ich Modell gestanden haben."
Einen Herzschlag musterte Marco Apollo, als könnte er die verborgene Absicht hinter dessen Worten nicht ergründen. Dann begann Marco sich auch schon über irgendwelche modernen Techniken und Farben auszulassen, die Sandro in seinem Kunstwerk verarbeitet hatte und Simonettas Gedanken schweiften sehr schnell ab. Das Gemälde war atemberaubend schön gewesen und dies lag nicht an irgendwelchem modischen Schnickschnack. Sandros Talent ging weit über gewöhnliches Handwerk hinaus und kein anderer Sterblicher hätte dieses Gemälde jemals so erschaffen können wie er.
„Ist Euch nicht wohl, Madonna?", raunte Giulianos samtige Stimme und riss sie aus ihren Gedanken. Überrumpelt blickte sie zu ihm auf und versank in seiner Aura. Ihr ganzer Körper sehnte sich danach seine Nähe zu spüren. Unmerklich verdunkelten sich Giulianos Augen, so als hätte Apollo ihre sündigen Gedanken gehört.
„Verzeiht, meine Herren. Mir ist ein wenig übel von dem sauren Messwein", murmelte Simonetta schnell zur Entschuldigung für ihre Unaufmerksamkeit, ohne darüber nachzudenken, was sie gerade am hellerlichten Tag am Ausgang einer Kirche zugab. Perplex blinzelten Marco und Apollo sie einen Herzschlag an, dann legte Apollo Giulianos Kopf in den Nacken und lachte laut auf. Reflexartig bohrten sich Marcos Finger tiefer in ihr Fleisch und Aphrodite ignorierte den Schmerz, der Simonettas Körper durchzuckte. Beschämt huschte Simonettas Blick zu ihrem Mann, der aussah, als wüsste er nicht, wie er auf Apollos kleinen Gefühlsausbruch reagieren sollte. Schließlich entschied sich Marco recht bald dafür in Giulianos Lachen halbherzig einzufallen. Pikiert blickte sich Simonetta nach allen Seiten um, aber niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen. Schließlich wurde Apollo wieder ernst und Marcos Griff um ihre Taille lockerte sich.
„Ich werde mit Lorenzo sprechen, ob wir einen wohlschmeckenderen Wein für die Messe spenden können", kicherte Apollo und legte für einen Wimpernschlag beschwichtigend Giulianos Hand auf ihren Oberarm. „Wenn sich herumspricht, dass in unserer Basilica di San Lorenzo nur saurer Wein ausgeschenkt wird, werden die Pazzi und Albizzi dies als Vorwand benutzen, um unsere treuen Kirchgänger mit teurem Wein abzuwerben. Ich will mir gar nicht ausmalen, was mein Großvater Cosimo, Gott möge seiner Seele gnädig sein, davon halten würde!"
Wieder lachte Marco so falsch, dass Simonettas Inneres zu Eis erstarrte. Entschuldigend blickte sie Apollo kurz in die Augen, ehe sie mit dem nächsten Wimpernschlag demütig ihren Kopf senkte. Kaum war Marco wieder ernst geworden, stellte Apollo besorgt fest, dass ihr Gesicht wirklich sehr blass aussah. Prüfend musterte Marco Simonetta von der Seite und gab zu, dass auch er ihre Haut als ungewohnt hell empfand. Gespielt aufrichtig besorgt legte er seine kalte Hand auf ihre Wange, als könnte er damit herausfinden, was ihr fehlte. Als Marco genug von seinem kleinen Schauspiel hatte, verabschiedete er sich überschwänglich von Apollo, ehe Marcos Hand auf ihrem Rücken Simonetta dazu zwang loszulaufen. Als Marco sie so an ihm vorbei führte, streiften für einen Augenblick Giulianos Hände die ihren und Simonetta spürte die geschmeidige Oberfläche eines kleinen Stückes Pergaments, welches Apollo ihr unauffällig in die Hand schob. Automatisch schloss sie ihre Finger um das Pergamentstückchen und ließ es in eine Tasche ihres Rockes gleiten. Wie ein Talisman trug sie das kleine Stück mit sich und versicherte sich immer wieder, dass es noch immer an seinem Platz war. Ihr ganzes Wesen drängte sie danach einfach alle Vorsicht fallen zu lassen, das Pergament hervorzuholen und zu lesen. Aber ihr Verstand hielt sie jedes Mal zurück. Denn sie war umgeben von Sterblichen, auf deren Unwissenheit sie baute. Eines Tages würde Hermes zu ihnen kommen und Antworten aus ihnen herausbekommen. Aphrodite musste diese Antworten kontrollieren und Hermes einen Schritt voraus sein.
Erst als ihre Zofe die Tür hinter sich schloss, griff Simonetta nach dem Pergament und holte es hervor. Ungeduldig strich sie das Pergament glatt und überflog die kurze Nachricht, die Apollo in seiner eleganten Handschrift für sie auf der dünnen Haut hinterlassen hatte.
Morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang.
Lächelnd strich Aphrodite sanft über die Tinte und prägte sich die kleinen Details seiner Schrift ein, dann ließ sie das Pergament in Flammen aufgehen und beobachtete versonnen, wie die kleine Notiz zu Staub zerfiel, der durch einen Windzug hinaus in die Nacht getragen wurde.
Langsam erhob sie sich und machte einen Schritt auf das offene Fenster zu, um es zu schließen. Doch da passierte es zum ersten Mal. Vollkommen unvermittelt verkrampfte sich ihr Körper und sie hatte das Gefühl, als würde plötzlich das Gewicht des Himmels auf ihrer Brust lasten und ihr die Luft zum Atmen rauben. Aus ihrer Kehle drangen entsetzliche Laute. Ihr Magen rebellierte und verwirrt blieb Aphrodites Blick an Simonettas Spiegel hängen. Aus großen Augen blickte ihr die Sterbliche verwirrt entgegen, wie von selbst wanderte eine ihrer Hände zu ihrem Mund, als etwas ihren Körper sie erschütterte, was Aphrodite noch nie erlebt, aber bei den Sterblichen immer wieder hatte beobachten können. Sie hustete. Wie war das nur möglich? Götter konnten mental krank werden, aber körperlich? Nein, Unsterbliche litten nicht an den Krankheiten der Sterblichen. Aber warum wurde ihr Körper dann von diesem Husten geschüttelt.
„Ich habe dich gewarnt, dass jede Magie ihren Preis hat", erklang eine mitleidige Stimme hinter ihr und Simonetta wirbelte zu dem Sprecher herum. Lässig lungerte Eros auf ihrem Bett und musterte sie besorgt. Ängstlich schlug ihr Herz wie ein junger Hengst aus. Ein weiteres Husten erschütterte ihren Körper, während sie über die Worte ihres treuen Freundes nachdachte. In der Nacht, in welcher Aphrodite sich dazu entschied in Simonettas Körper zu schlüpfen, hatte er sie sofort aufgesucht und sie gewarnt, dass ihre Entscheidung ungeahnte Konsequenzen haben würde. Damals hatte sie seine Warnung mit einem kindlichen Wimmern quittiert und die zu ihr eilende Cattocchia ihn vertrieben, ohne dass Aphrodite aus ihrer Rolle eines Neugeborenen fallen musste. Natürlich lebte Aphrodite schon lang genug, um zu wissen, dass Magie ihren Preis hatte. Niemand konnte die Gesetze der Magie brechen, aber bisher hatte sie deren Grenzen immer zu ihren Gunsten zurechtbiegen können.
„Natürlich hat noch nie eine unsterbliche Seele so lange in einem sterblichen Körper gelebt wie deine in Simonettas", sprach Eros ihren nächsten Gedanken aus. „Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Magie ihren Preis von dir fordert."
Genervt strich sich Aphrodite eine lose Haarsträhne hinter das Ohr und setzte sich auf die Bettkante. Tief horchte sie in sich hinein, doch ihr Husten schien ebenso schnell verflogen zu sein, wie er erschienen war.
„Ich verstehe das nicht", gestand sie leise und wich Eros' dunklem Blick aus. „Was genau geschieht mit mir? Welchen Preis muss ich bezahlen?"
Eros seufzte schwer und strich die seidene Bettdecke unter sich glatt. Doch er schwieg eisern und irgendwann verlor Aphrodite die Geduld. Mit klopfendem Herzen hob sie den Kopf und erwiderte offen seinen Blick. Ein weiteres Mal seufzte Eros tief, dann fuhr er fort: „Ist es nicht offensichtlich, Aphrodite? Deine Seele ist unsterblich, aber dieser Körper ist es nicht. Deine Anwesenheit mag ihn das Leben überhaupt erst ermöglicht haben, aber dennoch ist deine gesamte Existenz einfach zu überwältigend und führt dazu, dass dieser Körper langsam, aber sicher vergeht. Schau in den Spiegel. Siehst du denn nicht, dass deine wahren Züge allmählich die sterbliche Hülle verformen? Siehst du noch Simonetta Vespucci oder erkennst du bereits dein wahres Gesicht?"
Reflexartig drehte Aphrodite Simonettas Kopf und warf einen langen, prüfenden Blick in den Spiegel. Doch es spielte keine Rolle, wie lange sie dieses sterbliche Gesicht ansah. Es spielte keine Rolle, ob Eros die Wahrheit sagte oder sie anlog. Denn letztendlich hatte jede Magie ihren Preis und sie hatte immer gewusst, dass ihre Zeit in diesem Körper begrenzt war. Deshalb sollte es für sie auch eigentlich keine Rolle spielen, wie viel Zeit ihr noch blieb. Aber dennoch hämmerte Simonettas Herz vor Angst wie verrückt in ihrer Brust, sodass ihr Blut in ihren Ohren rauschte.
„Was soll ich dagegen tun?", wisperte sie und ihre Verzweiflung sprach aus jeder Pore von Simonettas Spiegelbild.
„Niemand kann diesen Prozess vollkommen aufhalten", entgegnete Eros bestimmt und legte ihr eine Hand auf den Arm. „Gewiss verfügt Apollo über die nötige Kraft deine Symptome dauerhaft zu vermindern. Aber auch er kann diesen Prozess nicht vollständig aufhalten. Mit seiner Hilfe bleiben dir vielleicht noch zwanzig Jahre anstelle von sieben. Aber trotzdem wird deine Anwesenheit früher oder später diesen Körper vernichten."
Mit einem Satz war Aphrodite auf den Beinen und eilte aus dem Zimmer. Doch an ihrer Tür erstarrte sie. Unschlüssig ruhte ihre Hand auf ihrer Klinke. Ihre Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Sie musste all ihre Kraft aufbringen, um sich zu Eros umzudrehen und ihn forschend zu mustern.
„Warte, jede Magie hat ihren Preis", erinnerte sie sich selbst mehr als ihn. „Was wird geschehen, wenn Apollo mir hilft?"
Eros' Lippen verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln und am liebsten hätte Aphrodite ihn angeschrien ihr endlich die ganze Wahrheit zu erzählen. Aber sie biss die Zähne zusammen und blickte ihn abwartend an.
„Kannst du dir das nicht denken, meine Liebe?", erwiderte Eros auf seine nervige Weise. „Apollo wird niemals in seiner wahren Gestalt in diesen Gemächern erscheinen, solange er seine Anwesenheit in dieser Stadt auf dem Olymp geheim halten will. Du hast doch gesehen, wie er beinahe die Kontrolle über seine Kräfte verloren hat."
Voller Entsetzen starrte sie ihn an und eine kleine, egoistische Stimme in ihrem Hinterkopf raunte ihr zu, dass Apollo alles tun würde, um ihr zu helfen und der Preis, den er dafür zahlen musste, für ihn keinerlei Bedeutung besaß. Aber Aphrodite erinnerte sich nur zu gut daran, wie Giulianos Körper beinahe unter ihren Fingern verglüht war und wie heiß sich seine Lippen während ihres ersten Kusses angefühlt hatten.
„Giuliano", hauchte sie und vor Grauen zitterte ihre Stimme. Der leise ausgesprochene Name hing zwischen ihnen wie eine düstere Prophezeiung. „Simonetta kann nur Leben, wenn Giuliano stirbt."
Eros' Schweigen war Antwort genug. Verzweifelt vergrub Aphrodite das Gesicht in Simonettas Händen und versuchte die wirren Gefühle, die in ihr tobten, zu beruhigen. Schwankend taumelte Aphrodite auf das Bett und ließ sich auf die weiche Matratze neben Eros fallen. Vollkommen durcheinander blickte sie zu der tristen Decke hinauf. Allmählich beruhigten sich ihre Gefühle und ihre Gedanken klärten sich. Möglicherweise wäre Apollo sogar gewillt diesen Preis für sie zu bezahlen. Aber sie war es nicht.
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