28 {Wenn das Gerüst zusammenfällt}
《Aus Jeans Leben》
"Jean? Wieso sagt deine Mutter, dass ihr euch so lange nicht gesehen habt?" Lilly sieht mich misstrauisch an. "Klar, sie ist sehr anhänglich, aber du bist erst zwei Tage weg. Das ist schon ein bisschen übertrieben, oder?" Oh nein... Gleich wird sie herausfinden, dass ich weder in Clichy noch hier war. Ich bin geliefert.
Meine Mutter hastet schnell die Treppe hoch und umarmt mich zur Begrüßung innig. "Bin ich froh, dich endlich wiederzusehen! Du hattest nicht angerufen, deshalb dachte ich, ich besuche dich einfach spontan." Sie zwinkert mir zu. "Oh, hallo Lilly. Entschuldigung, dass ich euch störe." Ein kurzes Händeschütteln. Ich will Meré gerade fragen, ob sie mit ins Wohnzimmer will, als ihr Blick auf Lillys Arme fällt. "Oh, Kind, was hast du denn da gemacht?" Entsetzt starrt sie auf die aufgemalten Wunden. "Ach, das ist Kunstblut. Jean und ich wollen Oliver ein bisschen erschrecken."
"Achso." Lachend geht maman weiter ins Wohnzimmer, wo es wie nach einem Massaker aussieht. "Ach du Schreck. Na da wünsche ich dir aber viel Spaß, das ganze wieder sauber zu bekommen."
"Danke, aber das schaffe ich schon." Um ehrlich zu sein, habe ich daran gar nicht gedacht. Egal, das Putzmittel, was ich mir neulich gekauft habe, verspricht strahlenden Glanz und natürlich, dass die Möbel sauber werden. Ob es tatsächlich so gut ist, werde ich noch herausfinden.
"Und? Wie weit bist du mit dem Lernen? Die ersten Klausuren hast du bestimmt schon geschrieben, oder?" Maman setzt sich in den Sessel neben dem Sofa. "Die Lernerei geht erst gerade los", meint Lilly lachend. "Kein Grund, sich Stress zu machen." Mist...
Skeptisch schaut maman zu mir. "Du sagtest doch, ihr würdet ganz viele Klausuren schreiben und deshalb sollte ich nicht kommen."
Du bist so was von tot.
Ich weiß, Senfie, ich überlege schon, wie meine Beerdigung aussehen soll.
Ich wäre für gar keine Beerdigung sondern eine Grube in irgendeinem Wald.
Bei dir würde noch nicht mal jemand bemerken, dass du tot bist.
Doch, mein Freund Kevin würde eine Gedenkfeier für mich organisieren.
Warte mal... seit wann hast du einen Freund?
Er springt immer von Kopf zu Kopf und eines Tages war er auch mal in deinem.
Ich hatte mal zwei innere Stimmen? Dich und deinen Ketchup-Kevin? Gott, stehe mir bei!
Freundlich, wie wir ihn kennen. Dann nenne ich Charlie jetzt auch Chili-Charlie.
Niemals.
"Charlie bleibt Charlie."
"Hallo? Jean, was redest du da?" Maman schnippst vor meinem Gesicht herum. "Er führt mal wieder Selbstgespräche", erklärt Lilly ihr. "Genau. Ich habe mich gerade mit Senfie über ihren Freund Ketchup-Kevin unterhalten." Hoffentlich fragt Maman nicht, wer Charlie ist.
"Und wer ist Charlie?" War ja klar, dass ich mal wieder Pech habe.
"Erinnerst du dich noch an das Mädchen, dem du meine Handynummer gegeben hast? Die bald auch hier studiert?" Ein erleuchtender Ausdruck huscht über mamans Gesicht. "Ah, ja. Ich erinnere mich. Wirklich eine reizende junge Dame. Grüß sie doch bitte von mir."
"Klar, mach ich." Hoffentlich ist das Thema jetzt gegessen. "Wann kommst du denn mal wieder nach Clichy? Ich war letztens noch in der Eisdiele, dort waren ein paar alte Schulkameraden, die sich nach dir erkundigt haben", maman lächelt, nichtsahnend davon, dass gerade mein gesamtes Gerüst aus Lügen ins Wanken gerät. Lilly öffnet den Mund, um etwas zu sagen, doch ich schüttele meinen Kopf, um ihr zu sagen, dass sie es lassen soll. Sie nickt. Puh, wenigstens meiner Mutter muss ich keine weitere Lüge auftischen.
"Maman? Wir können uns gerne heute Abend treffen, aber Oliver kommt gleich und er wird uns das ganze hier garantiert nicht abkaufen, wenn du putzmunter auf dem Sofa sitzt", sage ich vorsichtig. "Oh, natürlich. Ich wollte eh noch ein wenig shoppen gehen und ich glaube kaum, dass du Lust hast, mich dabei zu begleiten." Sie steht auf, umarmt mich noch kurz und winkt Lilly zum Abschied zu. "Ich rufe dich dann später an. Au Revoir!"
Als sie endlich aus der Wohnung verschwunden ist, atme ich erleichtert aus. "Also? Was hat das alles zu bedeuten? Von wegen, du bist für ein paar Tage in der Heimat!" Lilly verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich höre?"
"Können wir das bitte wann anders besprechen? Oliver kommt gleich und wir müssen noch ein paar Sachen für die WG erledigen." Flehend sehe ich sie an. Sie gibt nach und legt sich wieder auf den Boden, um die Leiche zu spielen. Es sieht zwar nicht gerade authentisch aus, aber naja. Oliver ist eh ein leichtes Opfer. Da klingelt es auch schon und ich haste zur Sprechanlage. Lilly und ich haben ausgemacht, dass ich am Anfang noch ganz normal sein soll.
"Hi Oliver! Komm rein, wir warten schon auf dich." Ich betätige den Summer, während mein bester Freund murmelt, dass es doch etwas länger gedauert hat, als gedacht. Schnell ziehe ich die Haustür auf, schnappe mir das blutige Messer und positioniere mich hinter dem Wohnzimmerschrank. Wir hören, wie Oliver die Treppe hochkommt. Er stellt irgendetwas auf der Kommode im Flur ab. "Jean? Lilly? Hallo?" Er bewegt sich in Richtung Wohnzimmer. "Leute, ich hab was für euch mitgebracht, also kommt mal raus. Ich weiß, dass ihr mich mal wieder erschrecken wollt." Seine Stimme zittert. Gleich wird er an der Tür zum Badezimmer entlangkommen und den roten Handabdruck sehen.
Jean! Ich rieche Pizza.
Nicht jetzt, Senfie! Ich muss mich konzentrieren, gleich kommt mein Auftritt.
Hallo? PIZZA! Pizza ist das coolste auf der ganzen Welt.
Gleich, Senfie. Hätte ich nur einen Off-Knopf, um dich auszuschalten.
"Ihh, was ist das denn? Jean? Haallooo?" Jetzt hat er den Handabdruck entdeckt. "Ganz ruhig, Oliver, es ist bestimmt nur Ketchup", redet er auf sich selber ein. Langsam geht er auf die Wohnzimmertür zu. Ein paar Sekunden lang hört man gar nichts, dann geht die Tür quitschend auf. Es ertönt ein heller Schrei und ich denke erst, dass es Lilly war, die geschrien hat, bis mir wieder einfällt, dass Oliver ja wie ein Mädchen schreit. Ein weiterer Grund, weshalb er immer von uns gemobbt wird. "Oh mein Gott, Lilly!" Geht es weiter. "Kannst du mich hören?" Ich luge hinter der Schranktür hervor. Er hat sich hingekniet und tastet nach Lillys Puls. Jetzt kommt mein Auftritt.
"Oliver! Mein guter Freund. Wie schön, dich zu sehen", begrüße ich ihn mit einer Stimme, die so gar nicht nach mir klingt. Sofort dreht er sich um und sieht mich mit großen Augen an. "Je..Jean. Ha-Hallo. Ähm, wie, wo, was?" Verängstigt schaut er erst in mein Gesicht, dann auf das Messer, was ich in der Hand halte. "Du.. Warst du das?"
Ich lache dreckig. Naja, so gut, wie ich es kann. "Natürlich. Wer denn sonst?"
"Egal. Was ist mit Lilly passiert?"
"Was wohl?" Ich deute auf das Messer. "Das gleiche, was jetzt mit dir passieren wird." Ich sehe die blanke Angst in seinen Augen. "Nein!" Hinter ihm steht Lilly langsam auf. Durch seine Angst hört Oliver nicht, wie sie langsam zu ihm hinläuft und ihm schließlich ihre Hand auf seine Schulter legt. "Ah! Lilly? Du lebst noch?" Entsetzt blickt er zwischen uns beiden hin und her. "Aber ich dachte, du wärst tot!"
"Deine Ermordung kann ich mir doch auf keinen Fall entgehen lassen", entgegnet sie. "Oh mein Gott..." Oliver will weglaufen, doch Lilly hindert ihn daran, indem sie ihn festhält. "Wage es nicht, dich zu wehren. Ich kann Karate!"
"Hä, seit wann das denn?"
"Es gibt vieles, was du von mir nicht weißt, Oliver. Vieles, was du gar nicht wissen willst", lacht sie unheimlich. "Bitte! Kommt doch wieder zur Besinnung. Was habe ich euch getan?"
Lilly und ich blicken uns nur kurz an, verständigen uns ohne Worte und brechen dann in schallendes Gelächter aus. "Nichts, aber es ist einfach immer wieder lustig, dir Angst einzujagen", antworte ich ihm schließlich. Oliver schnappt empört nach Luft. "Alter, habt ihr mir einen Schreck eingejagt. Wieso sind wir bloß befreundet?" Doch dann stimmt er in unser Gelächter ein. "Unsere Verarsche war total schlecht und du fällst einfach trotzdem darauf rein!" Lilly grinst und ich stimme ihr zu. "Das war Kunstblut. Und ehrlich, Lillys Wunden sehen auch nicht gerade echt aus." Oliver nickt zustimmend. "Ich war total geschockt. Aber jetzt kommt, die Pizza wird kalt."
"PIZZA?" Da hat Senfie wohl doch Recht gehabt.
"Ich bin so nett und bringe euch Essen mit und das hier ist der Dank dafür", antwortet Oliver beleidigt. "Ja, ja, ja", winkt Lilly ab und läuft in den Flur, um die Pizza zu holen. "Oh, wie geil! Dönerpizza!" Ich schaue Oliver mit großen Augen an. "Dönerpizza? Du bist mein Held!" Jetzt ist es Oliver, der abwinkt. "Ach, keine große Sache. Ich mache das gerne öfters, wenn ich dafür nicht so oft den Waschdienst oder Küchendienst übernehmen muss."
"Träum weiter!" Erwidere ich lachend.
~♡~
Nachdem wir die Pizza aufgegessen haben entwerfen wir gemeinsam Pläne für die WG und sprechen über gewisse Regeln, die gelten sollen.
"Wie wäre es, wenn jeder für sein eigenes Zimmer verantwortlich wäre, was Sauberkeit und so etwas angeht. Und um die anderen Räume wie Wohnzimmer, Küche und so weiter kümmern wir uns alle gemeinsam. Einmal die Woche wird gesaugt", schlägt Oliver vor. Ich nicke zustimmend. "Das ist eine gute Idee. Ich finde es auch wichtig, dass ihr mir versprecht, nicht an mein Essen im Kühlschrank zu gehen, die nur mir gehören. Ansonsten beschrifte ich sie alle." Augenverdrehend geben die beiden mir ihr 'Okay'. Schnell haben wir grobe Pläne und Richtlinien entwickelt. Ich hätte wirklich nicht gedacht, dass es so unkompliziert werden würde.
"Wie war eigentlich das Treffen mit Monsieur Rodier?" fragt Lilly Oliver auf einmal. Dieser wirkt nicht gerade erfreut über die Nennung dieses Namens. "Erinnere mich bloß nicht daran. Ich muss gleich nochmal hin, weil er nicht anders Zeit hat."
"Tja, ich war so schlau, mich nicht bei ihm eingeschrieben zu haben. Aber du wolltest ja nicht auf mich hören." Es war wirklich so. Ich habe Oliver vor diesem Typen gewarnt. Auf Facebook hatte ich gelesen, dass er ständig Tests schreiben lässt und nicht gerade fair bewertet. Doch Oliver meinte, von einem Kumpel nur gutes gehört zu haben und jetzt hat er den Salat. "Okay, ich gebe es zu. Noch einmal schreibe ich mich ganz sicher nicht bei ihm ein", sagt er schließlich. "Ihr habt echt nicht gerade Glück mit euren Dozenten. Bin ich froh, nicht euren Studiengang gewählt zu haben", seufzt Lilly. Während sie Chemie studiert, machen Oliver und ich unseren Bachelor in Physik. Was Charlie für ein Fach gewählt hat, weiß ich allerdings nicht. Das könnte ich sie bald mal fragen.
"Physik ist das einzig wahre. Chemie ist einfach nur komplett bescheuert."
"Oliver, das sagst du nur, weil deine Lehrerin dir damals in Chemie fast ne vier gegeben und dir dadurch den Durchschnitt versaut hätte. Außerdem hat Physik ziemlich viel mit Chemie zu tun, also hör auf zu meckern", geht Lilly dagegen an. Ich verdrehe nur meine Augen. "Leute? Hört einfach auf, euch zu streiten. Bis in zwei Tagen ist das hier immer noch nur meine Wohnung." Die beiden benehmen sich echt wie zwei kleine Kinder.
Als wärst du besser. Dein Teddy liegt ja immer noch in deinem Schlafzimmer.
Er heißt nicht Teddy, sondern Carsten. Und er wird immer einen Ehrenplatz haben.
Wenn ich ein Gesicht hätte, würde ich jetzt meine Augen verdrehen.
Oliver schaut kurz auf sein Handy. "Sorry, aber ich muss jetzt leider los. Monsieur Rodier, der Arsch von Professor wartet auf mich."
"Viel Glück." Ich umarme ihn kurz.
"Salut!" Schreit er ins Wohnzimmer, wo Lilly gerade durch die Programme des Fernseher zappt. "Bis übermorgen, überheblicher Physikstudent, den ich nicht kenne!" Schreit diese genauso laut zurück.
Sobald Oliver weg ist, hole ich mein Handy, um Maman zu schreiben, dass ich gleich komme.
"Ich fahre gleich mit dem Fahrrad zur Bücherei, meine Mutter steht dort in der Nähe und wartet auf mich. Du kannst gerne noch deine komische Sendung zu Ende gucken, die vorgibt, witzig zu sein. Oliver und ich stehen dann übermorgen um neun bei dir auf der Matte und laden die Kartons ins Auto. Die Möbel, die zu groß sind, kommen dann in den Bully von Olivers Kumpel. Soweit alles klar?" Geistesabwesend habe ich mir bereits meine Jacke angezogen und den Haustürschlüssel in der Hand, bereit zum Aufbruch.
"Eine Sache hätte ich da noch. Ich erwarte eine Erklärung."
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