"Sie müssen unbedingt etwas von meinem selbstgebackenen Honigkuchen probieren, Miss Eastbrook." Bendetta Birdwhistle war eine außergewöhnliche Frau. Schon bei Evangelines gestrigem Treffen hatte die Gattin des Bürgermeisters geschickt mit ihrer modischen Haube die grauen Strähnen in ihrem flachsblonden Haar abgedeckt. Mrs. Birdwhistles Kleider schienen direkt dem Trend der französischen Frauen zu entspringen, auch wenn Evangeline sich nicht erinnern konnte, jemals ein typisch französisches Kleid gesehen zu haben. Sie war sich sicher, dass sie so aussehen mussten.
Über den gedeckten Tisch im Speisezimmer der Bürgermeister Familie, warf ihr Henry Birdwhistle einen warnenden Blick zu, als seine Ehefrau den Honigkuchen erwähnte. Evangeline bildete sich sogar ein, dass der etwas untersetzte Mann leicht mit dem Kopf schüttelte. Fast so als würde er ihr sagen wollen, dass der Kuchen kein guter Einfall war. Evangeline richtete ihren Blick wieder auf Bendetta Birdwhistle, die ihr mit einem auffordernden Lächeln ein großes Stück des Honigkuchens anbot.
"Ich bin mir sicher dass er wunderbar schmeckt." Evangeline legte das Essbesteck beiseite und streckte ihren Rücken unbemerkt durch. "Aber ich bin so satt, dass er bestimmt nicht mehr reinpassen wird."
"Zu schade." Mrs. Birdwhistle setzte einen bedauernden Ausdruck auf. "Dann packe ich Ihnen etwas für später ein. Sie sollen nicht hungrig aus meinem Haus gehen", scherzte sie. "Susan, bitte richte den kleinen Korb für Miss Eastbrook, wenn du fertig gegessen hast."
Susan Birdwhistle bejahte leise und widmete sich anschließend wieder ihrem Teller. Die Tochter des Bürgermeisters hatte während des Essens so wenig gesprochen, dass Evangeline sie schon wieder ganz vergessen hatte.
"Unsere Susan ist kein sonderlich gesprächiger Mensch. Das hat sie von ihrem Vater", begann Mrs. Birdwhistle das Gespräch erneut aufzunehmen und Henry Birdwhistle seufzte ertappt. Vermutlich war er sogar eine recht gesellige Person, aber seine Frau redete genug für alle, die sich mit ihr in einem Raum aufhielten.
"Wie alt sind Sie, Miss Eastbrook? Sie müssten eigentlich im selben Alter mit unserer Tochter sein", fragte Bendetta Birdwhistle interessiert.
"Ich bin dieses Jahr dreiundzwanzig geworden." Evangelines Herz fühlte sich leichter an, nachdem sie ausnahmsweise die Wahrheit über sich gesagt hatte.
"Dann hat mich mein Gefühl also nicht getäuscht. Susan wird in einigen Tagen dreiundzwanzig." Die schmalen Lippen der Bürgermeisterfrau verzogen sich zu einem Lächeln. "Wenn alles gut geht, wird meine Tochter nächstes Jahr einen namenhaften Geschäftsmann aus Nashville ehelichen. Ich könnte nicht stolzer auf sie sein."
Evangeline bemerkte, dass sich die Hände von Susan Birdwhistle zu Fäusten zusammenzogen. Ihr schien es nicht zu gefallen, dass ihre Mutter so offen vor dem Besuch über ihre Heiratspläne sprach. Oder wollte sie diesen Mann gar nicht heiraten?
"Was könnte davor noch schiefgehen?", hörte Evangeline Susans Frage und ahnte, dass sie die Antwort schon kannte.
"Der Krieg, mein Kind", mischte sich nun auch Henry Birdwhistle ein, nachdem er sich mit einem bestickten Tuch über den Schnauzbart gewischt und sich im Stuhl zurückgelehnt hatte. "Hier in Greeneville haben wir noch wenig zu befürchten. Nashville allerdings ist eine große Stadt und für die weiteren Kriegshandlungen sicherlich nicht uninteressant. Wenn man bedenkt, dass die Südstaaten-"
"Liebster, ich sagte dir bereits, dass ich an unserem Mittagstisch nichts über Politik hören möchte", unterbrach seine Ehefrau und legte dabei ihre Hand sanft auf seine. "Du weißt, wie missmutig es eine Frau stimmen kann, wenn sie sich über die sinnlose Gewalt und Habgier eines Mannes den Kopf zerbricht. Erzählen Sie lieber etwas über sich, Miss Eastbrook. Gibt es bei Ihnen auch jemanden, der auf Sie Zuhause wartet?"
Evangeline spürte an ihrem schnellen Herzschlag, dass sie einmal erfahren haben musste, was es bedeutete, einen Menschen zu lieben. Und auch wenn sich in ihrem Kopf der vertraute Nebel um die Vergangenheit zog, erinnerte sich ihr Herz. Ihre Eltern waren tot, das war ihr bewusst. Einen anderen Menschen, einen Mann, den sie einmal geliebt haben muss... zu Evangelines Herzklopfen kam ein ziehen in der Magengegend, das sie nur zu gut kannte. Die Angst, die sie dazu bewegt hatte, die Lüge um Angela Eastbrook erst aufrecht zu erhalten. Fürchtete sie sich vor einem Menschen, den sie eigentlich lieben sollte?
"Miss Eastbrook?", unterbrach Mrs. Birdwhistle ihre Gedanken. Evangeline hob rasch den Kopf. "Nein. Da gibt es niemanden." Obwohl es ein kalter Dezembertag war, schwitzten ihre Hände.
Bendetta Birdwhistle sah sie mitleidig an. "Machen Sie sich nichts draus, Liebes. Es gibt viele unverheiratete Männer in Greeneville. Wenn ich da zum Beispiel an den alten Jacobs denke... ich bin ja schon länger der Meinung, dass dieser einsame Wolf eine heimliche Angst vor allen weiblichen Geschöpfen hat." Mit einem Mal hob sie erfreut ihre Augenbrauen. "Vergessen Sie den alten Jacobs. Wir haben einige Junggesellen in Ihrem Alter, Miss Eastbrook. John MacQuoid, Toby Bowler, James Dankworth oder sogar unseren Arzt, Dr. Murphy. Da findet sich bestimmt jemand für Sie."
"Bendetta!", griff Mr. Birdwhistle ein und schüttelte so empört den Kopf, wie Evangeline sich innerlich fühlte. "Unsere Stadt ist doch kein Heiratsmarkt für Frauen auf Durchreise!"
Enttäuscht senkte Mrs. Birdwhistle die Schultern. "Miss Eastbrook ist so eine reizende Person. Mich würde es freuen, wenn sie auf Dauer in Greeneville bleiben würde."
"Das ehrt mich. Allerdings habe ich nicht vor, so lange zu bleiben. Sobald ich stark genug für die Postkutschenüberfahrt bin, verlasse ich Greeneville", antwortete Evangeline mit einem höflichen Lächeln.
"Sie möchten zurück zu Ihrer Familie. Das verstehe ich", lenkte die Frau des Bürgermeisters ein und legte ihr Besteck auf den leeren Teller. "Oh, bevor ich es vergesse; Thimon Bythesea vom Postamt hat mich darum gebeten, Ihnen diesen Brief zu überreichen. Er ist gestern von Ihrer Mutter eingetroffen. Sie ist bestimmt sehr erleichtert, dass es Ihnen wieder gut geht."
Evangelines Lächeln verhärtete sich, als Mrs. Birdwhistle aufstand und wenige Sekunden später mit einem Briefumschlag zurückkam. Dankend nahm sie ihn entgegen und versteckte ihn in ihrer Rocktasche des Kleides. Das Papier wog schwerer als ein Dutzend Steine an ihrem Bein.
Geduldig wartete sie, bis es an der Zeit war das Haus der Birdwhistles zu verlassen und sich zu verabschieden. Mit einem kleinen Bastkorb am Arm spazierte sie die unebene Straße entlang und versuchte den Gedanken an Mrs. Eastbrooks Brief zu verdrängen. Sie würde diesen Brief nicht öffnen. Immerhin handelte es sich dabei um private Zeilen an ihre Tochter und wenn sich Evangeline jetzt schon wie eine Gesetzlose vorkam, würde es nur noch schlimmer werden sobald sie diesen Brief gelesen hatte.
Aus der Ferne erkannte sie Hannah Gastrell, die mit vier schreienden Kindern eilig aus dem Gemischtwarenhandel gegenüber der Arztpraxis trat und einen strengen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Sie winkte ihr zur Begrüßung und Hannah winkte schnell zurück, bevor sie einen der blonden Jungen am Arm hinter sich her zog. Evangeline achtete darauf, so wenig erdigen Schlamm wie möglich von der Straße in Dr. Murphys Praxis zu tragen, der an ihren Schuhen klebte und freute sich, dass die Verandastufen nicht mehr ganz so schmerzhaft waren, wie sie es von gestern in Erinnerung hatte. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, kam ihr jemand vom Inneren des Hauses zuvor. Ein bullig aussehender Mann stapfte an ihr vorbei. Sein Blick war verfinstert, seine Mundwinkel verhärtet, als er sich sichtlich wütend ein letztes Mal umdrehte. "Sie sind ein Quacksalber, Doc. Ich möchte Sie auf meinem Grundstück nie wieder sehen!" Fast überrumpelte der Fremde sie. Er ging mit großen Schritten auf sein geschecktes Pferd auf der anderen Straßenseite zu, schwang sich darauf und ritt so schnell davon wie er gekommen war. Evangeline legte überrascht ihre Stirn in Falten.
"Wollen Sie da noch lange so stehen bleiben?", bemerkte sie die tief grollende Stimme des Arztes und wurde augenblicklich rot. In Sekundenschnelle huschte sie durch die Tür und schloss sie hinter sich.
Ephra Murphy stand in seinem weißen Leinenkittel neben der leeren Patientenliege, die Evangeline gestern nicht gesehen haben konnte, weil die tragbare Trennwand ihr die Sicht versperrt hatte. Seine Arme hatte er vor der Brust verschränkt, eine tiefe Zornesfalte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen. Er war mindestens genauso wütend wie der Mann, der so aufbrausend die Praxis verlassen hatte.
"Wer war das?", hakte Evangeline vorsichtig nach. Dr. Murphys Brustkorb hob und senkte sich stark. "Richard Winnigton. Ihm gehört eine Ranch weiter außerhalb." Kurz schwieg er, ehe er seine blauen Augen verdrehte."Ich sehe Ihnen Ihre Neugier an der Nasenspitze an. Sie möchten wissen, was passiert ist."
"Werden Sie es mir erzählen?" Evangeline schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln, auch wenn sie seine Dickköpfigkeit und seine Unhöflichkeit nicht leiden konnte. Ihr war nicht entgangen, dass Bendetta Birdwhistle in ihrer Aufzählung der unverheirateten Männer auch seinen Namen erwähnt hatte. Und das trieb ihr an diesem Tag das zweite Mal die Röte auf die Wangen.
"Gehen Sie lieber hoch in das Krankenzimmer. Ich sehe heute Abend nach Ihnen." Schlecht gelaunt griff er nach einem Schlauch, das mit einem trichterförmigem Endstück und zwei Elfenbeinstücken für die Ohren verbunden war, die er auf der Patientenliege liegen gelassen hatte. Er bückte sich über ein kleines Regal, das dicht an der hinteren Wand der Praxis aufgestellt war, um das Stethoskop an seinen geordneten Platz zu legen.
Evangeline verkniff sich die Bemerkung, dass er sich wie ein beleidigtes Kind aufführte und nicht sie ein erwachsener Mann, der laut Mrs. Birdwhistle sogar im heiratsfähigen Alter war. Sie war gerade die ersten Treppenstufen nach oben gegangen, als sie ihren Namen hörte. "Miss Eastbrook, wir sollten uns kurz darüber unterhalten, wo Sie in den nächsten Wochen wohnen werden."
Verwundert blieb Evangeline stehen. "In den nächsten Wochen? Ich hatte nicht vor bis zum Frühling in dieser Stadt zu bleiben."
Dr. Murphys strengen Gesichtszüge verhärteten sich, als er in ihr Sichtfeld trat und sich die Ärmel des Kittels hochkrempelte. "Allerdings kann ich es nicht verantworten, dass Sie die tagelange Fahrt nach Hause antreten, bevor Sie nicht vollständig gesund sind. Die Postkutschenfahrten sind ohnehin schon anstrengend genug. Mit Ihrer Kopfverletzung wäre eine Reise leichtsinnig und dumm."
"Meinem Kopf geht es bestens. Ich kann nicht so lange bleiben", widersprach sie ihm und erntete dafür ein böses Funkeln in seinen Augen. "Sie haben Glück, dass Sie überhaupt noch leben, Angela. Sie sehen doch an Mr. Jenkins, was durch den harten Schlag alles hätte passieren können. Ich wette mit Ihnen, er wäre dankbarer mit Ihrem Schicksal umgegangen."
Evangeline öffnete den Mund, um etwas zu erwiedern und schloss ihn gleich wieder. Dr. Murphys Mundwinkel zuckten bei seinem Sieg für einen Augenblick nach oben. "Sie müssen sich eine andere Übernachtungsmöglichkeit suchen. Ich habe nur zwei Patientenräume in meiner Praxis und beide sind belegt. Als Arzt habe ich den Schwur abgegeben, dass ich jeden Kranken versorgen werde, der in meine Praxis kommt. Und dieser Pflicht kann ich nicht nachgehen, wenn Sie eines der Zimmer für meine Patienten dauerhaft bewohnen."
Sie lachte gespielt auf. "Ich bin also gesund genug, um von Ihnen vor die Tür geworfen zu werden, aber nicht gesund genug, um nach Hause zu fahren?" Sie ärgerte sich über ihn, auch wenn sie wusste, dass er ihr bereits lange genug das Krankenzimmer gegeben hatte, obwohl sie es nicht mehr benötigte. Und der Gedanke, dass er recht hatte, ärgerte sie nur noch mehr.
"Sie sind so scharfsinnig." Beinahe gleichgültig zuckte er mit den Schultern, als sich die Praxistür öffnete und ein junger Mann verlegen den Kopf durch den Spalt steckte. "Haben Sie einen Moment Zeit für mich, Doc?"
"Natürlich, Martin. Kommen Sie rein." Dr. Murphy drehte Evangeline den Rücken zu. Im letzten Moment bekam sie seinen rechten Arm zu fassen und beobachtete den überraschten Ausdruck in seinen Augen. Ihre Finger standen in Flammen und das, obwohl sie nur den Stoff seines Arztkittels berührte. Sie musste sich sogar ein wenig vorbeugen, weil sie den Arzt von den Stufen aus um einige Zentimeter überragte. "Sie sind ein guter Arzt, Dr. Murphy. Aber ein schrecklicher, sturer Mann", sprach sie so leise, dass nur er sie hören konnte. Kurz glaubte sie in dem Blau seiner Augen Belustigung aufblitzen zu sehen. Dann setzte er seinen vertrauten Gesichtsaudruck auf und befreite sich aus ihrem Griff.
Evangeline spürte die Hitze von ihren Fingern bis in ihre Wangen. Ohne sich noch einmal umzudrehen nahm sie die letzten Stufen in das obere Stockwerk und blieb vor der Tür ihres Krankenzimmers stehen. Sie lehnte ihre glühende Stirn gegen das kalte Holz. Was war nur in sie gefahren? Sie sollte sich lieber darum kümmern, dass sie die nächsten Tage ein Dach über dem Kopf hatte, statt den Gedanken um Ephra Murphy nachzuhängen. Vielleicht konnte Hannah Gastrell ihr ja ein Zimmer anbieten. Und trotzdem hatte Evangeline nicht vor, bis zum Frühling in Greeneville zu bleiben. Der schwere Brief in ihrer Tasche verriet ihr, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde, bevor die Lüge aufflog.
Ihr Blick glitt zur Tür, die sich links neben ihrer befand. Sie hatte nicht gehört, dass sich Mr. Jenkins Gesundheitszustand gebessert hatte, aber bis zum Frühling würde er sicher nicht ohnmächtig sein. Mit spitzen Fingern umfasste sie den Türknauf in das nebengelegene Krankenzimmer und öffnete es eine Handbreit.
Das Zimmer war abgedunkelt. Dr. Murphy hatte die schweren Gardinen fast ganz zugezogen. Mit klopfendem Herzen schlich Evangeline durch die Tür und erkannte mit jedem Schritt in die Richtung seines Krankenbettes das Gesicht des Buchhalters. Er war so blass, dass sich die Haut kaum vom weißen Laken unter ihm abhob. Sie atmete zitternd die Luft aus, als sie seine Hand berührte, die wie tot neben ihm lag. Er war warm und das, obwohl er so kalt erschien. Ruckartig zog sie ihre eigene Hand zurück und betrachtete noch eine Weile sein Gesicht. Die schweren Lider, die fahle Haut und eingefallenen Wangen. Sie ertrug diesen Anblick nicht und drehte sich um. Als sie aufschaute, bemerkte sie an der Wand vor ihr einen Wandspiegel, den auch sie in ihrem Zimmer hatte. Trotz des wenigen Lichts erkannte sie die braunen Locken, die sich aus ihrer Frisur unter der Haube gelöst hatten und fast ihr Schlüsselbein berührten. Evangeline sah sich selbst in die Augen.
Und sie kannte nicht die Frau, die sie dort vor sich sah.
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