Eiseskälte
Die Postkutsche ächzte und schleuderte gegen das morsche Brückengeländer. In Sekundenschnelle gab das Holz nach. Erst das eine, dann das zweite Rad rutschten von der Fahrtbahn. Jemand schrie. Angela wusste nicht, ob sie es gewesen war oder einer der anderen Fahrgäste. Sie klammerte sich an das erste, was ihre Hände zu fassen bekamen. Die Holzverkleidung des Kutschfensters.
Mit schreckgeweiteten Augen sah sie, wie sich die Welt um sie herum verkehrte. Die Kutsche stürzte in den Abgrund. Ein kurzes Gefühl von Schwerelosigkeit, dann ein dumpfer Schlag auf das reißende Wasser des Flusses. Angela spürte die eisige Kälte an ihren Beinen, ehe sie das Bewusstsein verlor und in die Schwärze glitt...
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Ein schmerzhaftes Pochen ließ sie ihre Augen öffnen. Sie blinzelte, erkannte doch nichts mehr als Schwärze, spürte das schneidende Wasser auf ihrer Haut. Die Postkutsche war seitwärts liegen geblieben, während sich der Fluss erbarmungslos einen Weg durch das Innere bahnte.
Eine Schwere lag auf ihrem Bein. Sie hatte ihn sich bei dem Unfall zwischen den Bänken eingeklemmt. Die Stoffe ihres Kleides klebten unangenehm an ihrer Haut. Schweratmend versuchte sie sich von der Bank zu lösen, bis dunkle Punkte vor ihren Augen aufblitzten. Sie verlor die Orientierung, lehnte sich kraftlos gegen die harte Lehne hinter ihr und kreischte auf, als sie dabei beinahe ins Bodenlose fiel. Ein Blick hinter sich verriet ihr, dass da ein großes Loch klaffte. Sie erkannte sogar die verlockende Böschung des Ufers dahinter. Die Kälte schnitt ihr den Atem ab und raubte ihren Verstand.
Sie blinzelte einige Male. War das ein lebloser Körper, der mit dem Gesicht im Wasser auf dem Fluss davontrieb? Schnell sah sie sich in der Kutsche um. Der Buchhalter hatte seine Augen geschlossen. Blut klebte an seiner Schläfe. Sie verzog ihr Gesicht. Das war viel zu viel Blut. Es färbte das umliegende Wasser dunkelrot. Ihr Blick glitt weiter durch das Innere des Kutschraumes. Die junge Frau war verschwunden. War sie es, die sie gesehen hatte oder handelte es sich dabei um den Kutscher?
Eine Gänsehaut durchfuhr ihren zitternden Körper. Dann gab sie sich endlich der Dunkelheit hin und verschwand in der Ohnmacht.
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Sie erwachte erst wieder, als eine wunderbare Wärme sie erfasst hatte. Es dauerte einige Augenblicke, bevor sie verstand, dass sie sich nicht mehr im Fluss befand. Ihren Blick hatte sie starr gegen die Decke gerichtet. Jemand bewegte sich neben ihr.
"Miss Eastbrook?"
Vorsichtig drehte sie den Kopf in die Richtung aus der die Stimme gekommen war. Ein Mann stand neben dem Bett. Seine Hand hatte er um ihr Handgelenk gelegt und maß mit zwei Fingern den Puls.
"Wo bin ich?" krächzte sie leise und versuchte sich aufzurichten. Der unbekannte Mann schob sie bestimmt zurück in den Kissen.
Seine blauen Augen musterten ihr Gesicht. "Sie sind in meiner Arztpraxis in Greeneville. Mein Name ist Dr. Ephra Murphy", stellte er sich kurzgebunden vor.
Sie runzelte die Stirn. Greeneville. War sie auf dem Weg dorthin gewesen? Sie konnte sich nur noch an eine Postkutsche erinnern, an den aufkommenden Regen, an das kalte Wasser. Über den Rest ihrer Erinnerungen hatte sich ein dichter Nebel gezogen.
Dr. Murphy beäugte sie wissentlich. "Sie haben sich schwer am Kopf gestoßen. Ich bin froh, dass Sie überhaupt aufgewacht sind. Ich dachte, dass Sie an einer Gehirnblutung sterben werden."
Gehirnblutung. Der Unfall. Wieso war alles so wirr in ihrem Kopf? Wie war sie hierher gekommen?
"Wie fühlen Sie sich, Miss Eastbrook?" unterbrach der Arzt ihre ohnehin schon zusammenhanglosen Gedanken.
"Mir ist schwindelig." Ihr Mund war staubtrocken. Sie schluckte. "Und mein rechtes Bein schmerzt fürchterlich."
"Können Sie es bewegen?"
Ganz langsam zog sie das Bein an und zuckte zusammen. Dr. Murphy nickte. "Ich werde es untersuchen. Womöglich ist es verstaucht oder gebrochen. Sie sollten sich solange nicht mehr aus dem Bett bewegen." Er steckte konzentriert seine Hände in die Hosentaschen, machte dann auf dem Absatz kehrt und blieb im Türrahmen des Krankenzimmers stehen. "Ich schicke Ihnen gleich meine Schwester vorbei. Sie kann Ihnen beim Anziehen helfen."
Erst jetzt bemerkte sie, dass sie unter der Decke nichts außer der Leibwäsche trug. Brennende Röte trat auf ihre Wangen. Zum Glück war Dr. Murphy in diesem Moment aus dem Zimmer verschwunden. Sie zog die Decke ein Stück höher. Wieso konnte sich sich an nichts mehr erinnern? Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild eines treibenden toten Körpers auf und sie erschauderte. Sie hätte sich niemals in diese Postkutsche setzen dürfen.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken. Ihr Bein pochte quälend. Eine Frau steckte den Kopf durch den Türspalt. Die braunen Haare, die unter der Haube hervorschauten, hatte sie notdürftig am Hinterkopf zusammengebunden.
"Miss Eastbrook, mein Bruder sagte bereits, dass Sie wach sind."
Erneut versuchte sie, sich aufzurichten. Doch der Schwindel machte ihren Versuch zunichte. Ächzend legte sie den Kopf wieder in das weiche Kissen.
"Ephra bat mich, Ihnen beim Ankleiden zu helfen." Schon war die Frau an ihrem Bett angekommen. Ihre Hände glühten beinahe vor Hitze, als sie sie berührte. Sie lächelte nur entschuldigend. "Tut mir leid, ich habe den ganzen Tag in der Wäscherei gearbeitet, nachdem ich Sie versorgt hatte."
Die Frau zog einen kleinen Korb hervor, der hinter dem Nachttisch versteckt lag. "Ich heiße Rebecca Archer. Sie dürfen mich gerne Becca nennen." Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie in den Korb und setzte sich an die Bettkante. "Nachdem die Männer Sie am Nolichucky River gefunden und in die Praxis meines Bruders gebracht haben, habe ich Ihnen das nasse Kleid ausgezogen. Ich hoffe, das war für Sie in Ordnung."
Sie nickte zögernd. Rebecca war ein sehr redseliger Mensch. Kaum enstand der Ansatz einer Redepause, sprach sie wild darauf los.
"Ich habe das in Ihrer Tasche gefunden, die Sie im Kleid eingenäht hatten." Rebecca brachte aus dem Korb eine Brosche mit goldverziehrtem Adler hervor. Sie runzelte die Stirn. Wieso kam ihr diese Brosche so fremd und doch so vertraut vor? Gedankenverloren nahm sie das Schmuckstück an, welches Rebecca ihr in die Hand gelegt hatte.
"Nur deshalb konnten wir auch wissen, wer Sie sind. Ihr Vater hatte schon vor mehreren Wochen einen Brief an Mr. Birdwhistle geschickt und uns über Ihre Ankunft informiert."
"Mr. Birdwhistle?" War die erste Frage, die durch den Nebel in ihrem Kopf hindurchdrang.
"Greenevilles Bürgermeister." Becca zuckte mit den Schultern, als wäre es selbstverständlich, dass sie es wissen musste. Aber warum sollte ihr Vater die Stadt über ihre Ankunft informieren? Noch einmal stellte sich in ihr die Frage, ob sie überhaupt nach Greeneville wollte. Wieso war sie in diese Postkutsche gestiegen?
"Sie erinnern sich nicht. Richtig?" Beinahe enttäuscht verzog Becca das Gesicht. "Ephra hat mich vorgewarnt, aber ich dachte nicht, dass es so schlimm ist." Sie stellte den Korb auf dem Boden ab und stand auf. "Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Eastbrook. Mein Bruder hilft Ihnen, dass Sie vollständig genesen können. Er ist zwar sturer als ein Esel und redet weniger als ein Stein, aber er ist ein guter Arzt." Beteuerte sie und das Lächeln fand den Weg zurück auf ihre Lippen.
Sie verstand nichts mehr. Zu leer waren ihre Gedanken. Zu dumpf der Schmerz in ihrem Bein.
"Wir sollten uns beeilen, bevor er kommt. Sie wollen doch wenigstens angezogen sein, wenn er Sie behandelt. Nicht wahr?" kicherte Rebecca und verschwand für einen Moment im Nebenzimmer, nur um mit einem blau bestickten Nachtkleid zu erscheinen. "Viele Ihrer Reisekoffer lagen im Wasser und sind weggespült worden. Ein paar Kleider von Ihnen konnten die Männer noch retten. Zum Glück auch dieses. Es wäre bestimmt nicht angenehm gewesen, jetzt mit einem Promenadenkleid im Krankenbett zu liegen." Beccas Augen glänzten belustigt.
Reisekoffer? Wasser? Promenadenkleider? Es drehte sich alles, je mehr sie versuchte, sich zu erinnern. Das blaue Kleid in Rebeccas Händen kam ihr fremd vor. Fremder, als die Brosche, die sie selbst fest umklammert hielt.
"Kommen Sie, ich helfe Ihnen." Vorsichtig stützte Becca sie ab, als sie den Oberkörper hob. Ihr Kopf pochte schmerzhaft, genauso wie ihr Bein. Es war eine nervenaufreibende Prozedur, bis Rebecca sie in das blaue Nachtkleid gesteckt hatte und sie sich wieder hinlegen konnte. Wohlig seufzend schloss sie für einen kleinen Augenblick die Augen.
Die Tür öffnete sich ein zweites Mal und herein kam ein Mann, den sie schon einmal gesehen hatte. Die hellbraunen Haare standen wirr vom Kopf ab, sein Blick war unergründlich. Dr. Murphy. Die Röte schoss in ihre Wangen.
"Becca, du kannst uns jetzt alleine lassen", wandte er sich an seine Schwester, die zum Abschied nickte und verschwand. Erst als die Tür ins Schloss fiel, steckte Dr. Murphy seine Hände in den weiß gestärkten Leinenkittel und machte ein paar Schritte auf sie zu. Solche Kittel hatte sie bisher nur bei Stadtärzten gesehen. Jedoch nie, dass ein Landarzt sie auch trug.
"Wie geht es Ihrem Bein?"
"Besser", hauchte sie leise.
"Darf ich?" Mit dem Finger zeigte er auf die Decke, die sie verdeckte und zum dritten Mal spürte sie die verräterische Röte in ihrem Gesicht. "Ich werde nur so viel wie nötig freilegen, um Ihr Bein zu untersuchen", beruhigte er sie und sie nickte verbissen.
Behutsam schob er die Decke beiseite und sie verkrampfte sich. So viel hatte bisher nie ein Mann von ihr gesehen. Als er das spärliche Kleid ein wenig zur Seite zog, zuckte sie zusammen. Er konnte sicher bis zum Knie alles erkennen.
"Tut das weh?" Dr. Murphy berührte die geschwollene Stelle am Schienbein. Sie zischte auf und schloss die brennenden Augen. Das war ihm wohl Antwort genug.
"Ich denke nicht, dass Sie sich etwas gebrochen haben. Das sieht mehr nach einer einfachen Prellung aus. Ich gebe Ihnen eine abschwellende Salbe mit Rosskastanienzusätzen und lege ein Kompressionsverband an. In ein paar Tagen sollte es abgeheilt sein." Aus einem der kleinen Wandschränkchen, dir ihr davor nicht aufgefallen waren, zog er ein Glas mit gelblich wirkender Paste. Mit wenigen Handgriffen hatte er es auf dem Bein aufgetragen. Ihre Haut brannte an den Stellen, die er berührte, als er den Verband herumwickelte und sie zudeckte.
"Ich lasse Sie ein wenig schlafen und gebe Mr. Birdwhistle Bescheid, dass Sie aufgewacht sind." Dr. Murphy stellte die Salbe zurück, besah sie mit einem Blick, den sie nicht wirklich deuten konnte und ging zur Tür. "Ihm wird ein Stein vom Herzen fallen, wenn er erfährt, dass Charles Eastbrooks Tochter den Unfall überlebt hat."
Die Zimmertür schwang hinter ihm zu und sie fühlte sich, als würde jemand den Boden unter ihren Füßen davonreißen. Ihr Herz raste in ihrem Brustkorb. Endlich hatte sich der Nebel ein wenig gelöst. Sie verstand die verwirrenden Sätze des Arztes und seiner Schwester.
Sie fragte sich, wie es passieren konnte. Sie fragte sich, ob es überhaupt so einen Zufall gab. Mit klammen Fingern umfasste sie die Brosche in ihrer Hand.
Aber wie sollte sie den Menschen, die sich so freundlich um sie gekümmert hatten, klarmachen, dass sie nicht Angela Eastbrook, sondern Evangeline Relish war?
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