Die Scamall
"Werde ich irgendwann genauso hübsch sein wie du, Miss Angela?" Amalias süße Engelsstimme zauberte Evangeline ein Lächeln auf die Lippen. Sie gab dem kleinen Mädchen einen Kuss auf die Stirn, ehe sie die blonden Strähnen wieder in ihre Hand nahm und mit der Bürste kämmte. Amalia bestand darauf, dass niemand mehr außer Evangeline ihre Haare anfassen durfte. Selbst bei ihrer Mutter jammerte das Mädchen und blieb solange stur, bis Hannah die Mühe aufgab.
"Du bist doch schon wunderschön", erklärte Evangeline und beobachtete im Wandspiegel, wie das Mädchen ihre Nase kräuselte. "Mama sagt das auch immer, aber ich bin mir da nicht so sicher. Meine Kleider sind nicht so schön wie deine und meine blonden Haare sind noch lange nicht so schön wie deine dunklen Locken", redete sie einfach weiter, während sie ihr eigenes Spiegelbild betrachtete. "Oh, und glaubst du, dass ich aus meinen Sommersprossen herauswachse, wenn ich größer werde? Ich habe sie heute Morgen gezählt und es sind zwei weniger als letzten Sommer."
Evangeline begann die Haare des Mädchens zu flechten. "Wieso willst du deine Sommersprossen nicht mehr haben?" Mit dem Zeigefinger stupste sie Amalias Nase, die von den Sommersprossen bedeckt war und das Mädchen kicherte.
Eine Weile sagten sie beide nichts. Erst als Evangeline mit ihrer Arbeit fertig war, unterbrach Amalia die Stille. "Anthony hat mir gesagt, dass meine Nase so aussieht, als wäre ich in seinen Ameisenhaufen gefallen. Mädchen sollen keine Flecken im Gesicht haben."
Empört stieß Evangeline die Luft aus und legte ihre Hände auf die kleinen Schultern des Mädchens. "So etwas zu sagen ist schrecklich. Er wird sich irgendwann dafür schämen und merken, dass du sehr wohl Sommersprossen haben darfst." Amalia senkte ihren Blick auf ihre Hände und Evangeline dachte fieberhaft darüber nach, was sie noch sagen konnte. Dann zuckten ihre Mundwinkel nach oben. "Findest du deine Mama ist eine hübsche Frau, Amalia?"
Das blonde Mädchen hob wieder ihren Kopf und ihre Augen strahlten Evangeline durch den Spiegel an. "Natürlich. Sie ist die schönste Mama, die man haben kann."
"Findest du Susan Birdwhistle hübsch?" Evangeline erinnerte sich an das Aussehen der Tochter des Bürgermeisters und musste lächeln, als Amalia nur mit dem Kopf nickte. "Und ist dir aufgefallen, dass deine Mama auch Sommerprossen auf der Nase hat? Susan hat sogar einen Leberfleck im Gesicht. Und trotzdem ist sie wunderschön. Weißt du auch warum?"
Diesmal schüttelte das Mädchen den Kopf und hörte aufmerksam zu.
"Weil es ihnen egal ist, ob sie Flecken im Gesicht haben oder nicht. Und es sollte jedem, der sie sieht, auch egal sein. Wenn das nächste Mal jemand sagt, dass deine Sommersprossen nicht schön sind, dann sag ihm, dass das falsch ist. Und wenn er dann immer noch nicht aufhört, dann-"
"Dann zeige ich ihm die Zunge?", beendete sie Evangelines Satz und beide lachten.
"Ja, dann zeigst du ihm die Zunge", bestätigte Evangeline und beobachtete, wie das Mädchen ihre Schultern straffte. "Gut, dann suche ich jetzt Anthony", verkündete sie glücklich und war schon aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt, bevor Evangeline sie aufhalten konnte. Am Ende würde Hannah sie dafür ohne Umschweife aus dem Gasthaus werfen, weil sie ihren Kindern so ein Verhalten beibrachte. Um das Schlimmste zu verhindern, eilte sie hinter Amalia her und fand sie und Anthony im Garten. Der ältere Bruder wühlte unbeeindruckt mit den Händen im kalten Schlamm, während Amalia mit ihren zierlichen Beinen in ein weiteres Paar Schuhe ihres Bruders geschlüpft war, einen Meter von ihm entfernt stand damit ihr Kleid nicht schmutzig wurde und unentwegt die Zunge ausstreckte.
Evangeline unterdrückte ein lautes Lachen und kehrte in das Gasthaus zurück. Anthony scherte es nicht, was seine Schwester da tat und trotzdem nahm sie sich vor, mal ein ernstes Wörtchen mit dem Jungen zu reden, wenn sie heute Abend in das Gasthaus zurückkehrte.
Sie verabschiedete sich von Hannah, die mit Alfred und Arthur in der Küche backte und zog den schweren Mantel an, der sie vor der beißenden Kälte auf der Fahrt schützen sollte. Schweigend spazierte sie die Hauptstraße entlang. Sie war von einzelnen blattlosen Bäumen und Sträuchern umsäumt. Ihr kurzer Weg führte vorbei an der Wäscherei zur alten Schmiede, die gegenüber vom Postamt lag. Sie nickte den einzelnen Menschen zu, die ihr entgegenkamen und bog dann in eine kleine Gasse, in dessen Schatten sich der Eingang zur Schmiede befand. Laute Hammerschläge, das Geräusch von Eisen auf Eisen, drang in ihre Ohren und sie hatte Mühe nicht bei jedem Schlag zusammenzuzucken.
"Hallo, hört mich jemand?", versuchte sie gegen den Lärm anzutreten und tatsächlich verstummten für eine Weile die lauten Geräusche. Ein groß gebauter Mann mit ungepflegtem Bart und rußverschmiertem Gesicht trat aus einer Nische, die wohl in das hintere Arbeitszimmer führte. Die Hitze des Feuers war ihm an dem Schweiß, der von seiner Stirn abperlte, anzusehen.
"Wie kann ich Ihnen helfen, Miss?" Er fischte aus seiner Hosentasche einen ausgefransten Lappen, mit dem er erst seine Hände und dann das Gesicht abwischte.
"Guten Morgen, Mr. Jonas", begrüßte sie ihn und setzte ein höfliches Lächeln auf. "Ich brauche eine Droschke. Man sagte mir, dass-"
"Angela Eastbrook." John MacQuoid erschien aus der selben Nische, aus der auch sein Onkel gekommen war. "Es freut mich sehr, Sie zu sehen."
"Gut John, dann übernimmst du das Gespräch. Du weißt doch, wie ungern ich mich mit Frauen unterhalte", sprach der bärtige Mann und Evangeline vermutete, dass der letzte Satz nicht für ihre Ohren bestimmt war.
John warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder an seinen Onkel wandte und ihm etwas unverständliches zuflüsterte. Dann verschwand Mr. Jonas im Arbeitszimmer und das Hämmern begann von vorne.
"Sie dürfen ihm seine Art nicht übel nehmen. Es ist nur so, dass er sein Leben lang nur seinen Bruder hatte und sich vor Frauen ein wenig scheut. In Wahrheit ist er ein sehr netter Mensch", klärte Mr. MacQuoid auf und Evangeline bezweifelte bei jedem harten Hammerschlag, den sie hörte, dass so ein Mann Angst vor ihr haben konnte. Wobei sie auch Angst vor Insekten hatte und war das nicht mindestens genauso komisch?
"Wenn Sie wollen zeige ich Ihnen, welche Droschken wir zur Auswahl haben." Er legte seine Hand auf ihren Rücken und sie spürte die Hitze, die von ihm ausging, als er sie in einen Nebenraum führte, der sich als angebauter Stall entpuppte.
"Das ist sehr freundlich von Ihnen, allerdings weiß ich schon, welche Droschke ich haben möchte." Evangeline beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, ehe sie vor den mit Leinentüchern abgedeckten Droschken stehen blieben.
"Ah ja? Und welche soll es werden?", fragte er ehrlich interessiert und seine warmen braunen Augen leuchteten aufmerksam. Hatte sich Evangeline womöglich zu schnell auf Rebeccas Erzählungen verlassen und Mr. MacQuoid war in Wahrheit ein guter Mensch? Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie so schnell ein Urteil über einen anderen fällen konnte, obwohl sie die Person noch nicht kannte.
"Die Scamall."
Überrascht legte ihr Gegenüber die Stirn in Falten. "Die Scamall also. Wissen Sie denn, wie Sie mit der Droschke umgehen müssen?"
Sie blickte beschämt auf eines der Leinentücher, um ihm nicht in die Augen zu sehen. "Nein, aber ich bin mir sicher, dass ich es schnell lernen werde." John MacQuoid musste sie für verrückt halten, dass sie nach einer Droschke fragte, obwohl sie sich nicht einmal sicher war, ob sie bereits jemals eine selbst gefahren war.
"Begleitet Sie niemand auf Ihrer Fahrt?", fragte er weiter und ihre Wangen röteten sich leicht, als sie daran dachte, dass sie gerne Ephra Murphy bei sich gehabt hätte. Stattdessen schüttelte sie wortlos den Kopf, wie es Amalia vor wenigen Stunden bei ihr getan hatte.
"Angela, selbst wenn ich Ihnen die Scamall überlasse, werden Sie als unerfahrene Person ein Pfand dalassen müssen, falls etwas mit der Droschke passiert." Mr. MacQuoid kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. Gerade als Evangeline bereits die Hoffnung aufgegeben hatte, begann sich sein Mund zu einem Lächeln zu verziehen. "Gut, ich schlage Ihnen etwas vor." Seine Augen glitzerten, als er sie musterte. "Ich fahre Sie zu Ihrem Ziel, solange es sich dabei um keine Fahrt von mehreren Stunden handelt und hole Sie später von dort ab. Damit sparen Sie das Pfand und die Angst vor einer einsamen Droschkenfahrt."
Evangeline lachte erleichtert auf und John MacQuoid grinste über das ganze Gesicht. "Sie werden schnell feststellen, dass Sie gar keine bessere Fahrbegleitung hätten finden können und als Dank für meine Hilfe begleiten Sie mich nächsten Sonntag zu einem Spaziergang. Was sagen Sie?"
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Evangeline hatte Ja gesagt und diese Entscheidung nicht bereut. John MacQuoid wirkte zwar auf den ersten Blick wie ein Mann, der zu sehr von sich selbst überzeugt war, allerdings besaß er die Größe auch Evangelines Stärken anzuerkennen und eigene Schwächen einzugestehen. Das Gespräch zwischen ihnen war aufgelockert und sie genoss es, über lustige Anekdoten aus Johns Vergangenheit in Chicago und ihren peinlichen Erlebnissen in Greeneville zu lachen.
Die Fahrt verging schnell und mit einem Winken verabschiedete sie sich, als er sie vor Mr. Jacobs windschiefem Häuschen abgesetzt hatte.
"Der Jonas - Neffe also."
Sie wirbelte herum und wäre fast wieder an dem Saum ihres Kleides hängen geblieben. Mr. Jacobs saß mit rauchender Pfeife auf dem Schaukelstuhl auf der Veranda und versuchte sein Grinsen zu verbergen. Seine Beine hatte er in eine Rot-Blau karierte Decke gewickelt. "Ich wusste doch, dass du in Greeneville bleiben würdest."
"Ich weiß nicht was Sie meinen", sie runzelte ihre Stirn und trat neben ihn auf die Veranda. Mr. Jenkins nahm einen tiefen Zug aus seiner Tabakpfeife und hustete. "Ganz einfach. Die meisten Menschen, die nach Greeneville kommen, bleiben nicht länger als paar Tage. Als ich damals mit meiner Daliah in die Stadt gekommen bin, sagte sie mir 'George, ich denke wir sollten eine Weile hier bleiben'." Mit der zitternden Hand deutete er an den Horizont hinter die Baumkronen des Pinienbaumwaldes. "Mittlerweile hat sie das Weite gesucht und lebt irgendwo in Knoxville oder Seymour, während ich hier in Greeneville versauere. Die Stadt lässt einen nicht mehr los, wenn man erst einmal geblieben ist."
"Ich habe aber nicht vor, in Greeneville zu bleiben", widersprach sie fest. Evangeline hatte gar keine andere Möglichkeit, als die Stadt zu verlassen. Ihr vergangenes Leben schrie förmlich danach. Hatte sie nicht erst das ganze Wagnis in Kauf genommen, um einen Neuanfang zu beginnen?
"Ja ist klar." Er sah gedankenverloren und mit trüben Augen in die Ferne, bevor er sich wieder zurück in die Gegenwart blinzelte. "Ich erwarte mindestens einen Platz in der ersten Reihe bei der kirchlichen Trauung. Sonst zieht es immer so schrecklich im Rücken. Auch wenn es allgemein bekannt ist, dass dieser Schönling MacQuoid auf die kirchlichen Traditionen pfeift. So ein Taugenichts."
"Mr. Jacobs!", rief Evangeline laut aus und stemmte ihre Arme in die Hüfte. Doch das schien den alten Mann nicht zu stören. Er lachte herzlich auf und entblößte dabei seine schiefen Zähne.
"Ach Himmel bist du empfindlich." Er wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und erhob sich aus dem Stuhl. Die Decke ließ er achtlos auf den Boden fallen. "Komm lieber ins Haus und iss was, bevor du mit dem Wind davonfliegst. Haben dir deine Eltern nicht genug zu Essen gegeben, Mädchen?"
"Vor allem haben mir meine Eltern beigebracht, nicht böse Dinge über andere Leute zu sagen", maßregelte sie ihn, als sie ihm ins Innere folgte und wohlig durch die Wärme aufseufzte.
"Das schert mich aber nicht. Ich sage frei heraus, was mir in den Kopf kommt", erwiderte er gelassen. Evangeline verkniff sich eine Antwort und musterte mit hochgezogenen Augenbrauen den gedeckten Tisch. Sie erkannte ein paar Brotscheiben, einen Löffel Butter, eine bereits geöffnete Dose Hering und zwei Tassen Kaffee und wurde augenblicklich von einem schlechten Gewissen heimgesucht, weil sie einem alten, gebrechlichen Mann jetzt auch noch das Essen wegessen sollte. Vielleicht sagte sie ihm einfach, dass sie keinen Hunger hatte. Oder sie aß eine trockene Scheibe Brot und überließ ihm den Rest. Immerhin konnte sie danach nochmal bei Hannah Gastrell ihr Mittagessen nachholen. Evangeline zwang sich zu einem Lächeln und nahm auf einem der wackeligen Holzstühle Platz. Ihr Blick glitt durch den Raum und sie erschrak. So wie es aussah, bestand das Haus lediglich aus dem einen Raum und einem weiteren abgegrenzten Bereich für die Toilette. Decken, Werkzeug und leere Konservendosen türmten sich an der einen Wand, während die andere Wand notdürftig ausgebessert wurde, damit der Wind nicht durch die Ritze der Holzverkleidung pfeifen konnte. Staub flirrte in der Luft und brannte in Evangelines Augen genauso sehr, wie der strenge Geruch von verfaultem Essen und alter Wäsche in ihrer Nase.
"Bedien dich ruhig. Ist zwar kein Königsmahl, aber ich habe alles für dich herausgeputzt."
Sie schluckte. Sah es normalerweise noch viel schlimmer aus? Evangeline versuchte sich nichts anmerken zu lassen und nahm den ersten Bissen der viel zu trockenen Brotscheibe. "Möchten Sie nichts essen?", stellte sie nach einer Weile die Frage und der alte Mann winkte ab. "Mit dem Essen begleiche ich nur eine alte Schuld. Am Ende esse ich dir die 10 Pence weg und ich muss dich noch einen Mittag bei mir ertragen."
Mit einem großen Schluck kaltem Kaffee spülte sie das Brot hinunter. Sie ahnte, dass er eigentlich glücklich über ihren Besuch war, denn sein Gesicht erhellte sich mit jeder Minute, die sie länger blieb. Auch wenn er es niemals zugeben würde. Und Evangeline wusste, dass sie nicht das letzte Mal bei ihm gewesen war.
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