Angela hatte sich einer schnellen Morgentoilette unterzogen, bevor sie ihr eigenes kleines Zimmer verließ und die Stufen nach unten in den Speisesaal ging. Die blonden Haare hatte sie sorgfältig nach oben gesteckt und mit einer Haube verdeckt. Sie entdeckte Mr. Jenkins an einem der hinteren runden Tische. Ohne die anderen Gäste des Hauses bei ihrem Frühstück zu stören, schlängelte sie sich an den Tischen vorbei und zog den gegenüberliegenden Stuhl des Buchhalters hervor.
Der alte Mann hob wortlos seine Augenbraue. Er senkte den Blick wieder auf seine Zeitungsausgabe, die er sicher bei dem rufenden Zeitungsjungen auf der anderen Straßenseite erstanden hatte.
"Guten Morgen." Versuchte sich Angela an einer höflichen Begrüßung und nahm auf dem Stuhl Platz. Das weiße Leinentuch des Tisches reichte fast bis zu ihrem Schoß.
"Morgen." Grummelte Mr. Jenkins gedankenverloren. Er hatte bis spät in die Nacht gewartet, ehe die Reisekoffer im Gasthaus eingetroffen waren. Dunkle Schatten bildeten sich unter seinen müden Augen. Angela hatte gehört, wie er im Nebenzimmer ständig auf und ab gegangen war.
"Präsident Lincoln hat Ulysses Grant zum Oberbefehlshaber ernannt." Begann er zu erzählen, was er in der Zeitung gelesen hatte. Die immer noch frische Druckerschwärze hatte seine Finger dunkel verfärbt.
"Ulysses Grant?" Den Namen hatte sie einmal gehört, als sie noch im Anwesen ihrer Eltern war. Angela schluckte, viel zu weit war ihr Zuhause entfernt.
"General Grant hat die Truppen bei der Schlacht von Vicksburg angeführt. Die Südstaaten haben eine Niederlage einstecken müssen." Klärte Mr. Jenkins sie auf. Die Südstaaten, dachte Angela, hatten einige Niederlagen hinter sich. Und ein kleiner Teil in ihr hoffte, dass die Nordstaaten den Krieg für sich entscheiden würden, obwohl sie selbst zu den Südstaaten gehörte. Ihr Vater galt lange Zeit als einer der größten Sklaventreiber South Carolinas. Angela hatte es verabscheut, dass die Männer Eigentum ihrer Familie waren und unter barbarischen Umständen auf den Plantagen arbeiteten. Umso mehr hatte sie sich gefreut, als sich Charles Eastbrook von der Sklavenhaltung abgewandt hatte und nun ein besseres Arbeitsverhältnis zu schaffen versuchte. Sie wusste, dass nicht alle mit der Entscheidung ihres Vaters einverstanden waren. Von den umliegenden Plantagenbesitzern wurde er belächelt. Selbst Mr. Jenkins hatte seinem Missmut Luft gemacht, als er von den Plänen erfuhr. Und auch sie war sich nicht sicher, ob ihr Vater es tat, weil sein Gewissen ihn plagte oder weil er davon ausging, dass es spätestens nach dem Krieg sowieso darauf hinauslaufen würde. Ihr Vater teilte seine Gedanken selten mit ihr.
"Wir sollten so schnell wie möglich weiterfahren. Am besten gleich am Abend." Entschlossen schlug er die Seiten der Zeitung zusammen. "Frühstücken Sie und dann machen wir uns an die Arbeit."
Angela verdrehte unauffällig die Augen. Natürlich wusste sie, dass Arbeit auf sie wartete. Mr. Jenkins behandelte sie wie ein kleines Kind. "Finden Sie nicht, dass die Abreise heute Abend etwas übereilt ist? Bis dahin ist womöglich noch nicht einmal die Kutsche repariert." Fragte sie stattdessen und seine Augen funkelten sie böse an.
"Die Lage spitzt sich weiter zu. Ich werde nicht riskieren, dass Ihnen wegen den fragwürdigen Plänen Ihres Vaters etwas zustößt und er mich entlässt."
Wieder verdrehte sie die Augen. Und sie sollte Recht behalten. Nachdem sie das Frühstück, welches die Haushälterin an den Tisch getragen hatte, zur Hälfte aufgegessen hatte, verließen sie und der Buchhalter das Haus. Angela suchte eine gut belebte Straße aus und begann mit der Austeilung der Flugblätter. Ihr Vater war von der Idee vielleicht nicht begeistert, aber es gefiel ihr besser, als Reden vor großen Menschenmassen zu führen. Dafür war Angela einfach nicht geboren.
Gegen Nachmittag, als ihr die Füße vom Laufen wehtaten und die Damenhalbstiefel sicher Blasen auf ihrer Haut hinterlassen hatten, kehrte sie alleine zum Gasthaus zurück.
Mr. Jenkins empfing sie an der Tür mit einem typisch grimmigen Blick. "Die Kutsche ist nicht fahrtauglich. Wird es vielleicht auch nie wieder sein. Durch das Schlagloch hat sich die Radachse vollkommen verbogen."
"Was haben Sie jetzt vor?" Sie nahm auf der kleinen Bank an der Hauswand der Gasthauses Platz, um ihre Füße ein wenig zu entlasten.
"Wir fahren mit der nächsten Postkutsche bis nach Nashville oder Greeneville. Dort hat ihr Vater ohnehin geplant, die Kutsche durch ein anderes Gefährt zu ersetzen. Eine einzige Kutsche hält den undankbaren Weg durch die unbelebte Prärie nicht aus." Er setzte einen Hut auf, der an den Seiten ausgefranst war, und zog ihn sich tief ins Gesicht. Mr. Jenkins duldete keine Widerworte, so gerne Angela ihm auch widersprochen hätte. Montgomery war eine schöne Stadt. Es sprach nichts dagegen, einen Tag länger zu bleiben.
"Die Postkutsche fährt in zwei Stunden ab. Ich erwarte Sie dann hier." Brummte er vor sich hin, nickte ihr stumm zu und schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen die malerische Straße entlang. Seufzend richtete sie sich auf. Sie verstand allmählich, warum der alte Jenkins nie in seinem Leben geheiratet hatte. Wie um alles in der Welt sollte sie es schaffen ein anständiges Bad zu nehmen und sich vollständig anzukleiden und zu frisieren, wenn er sie so früh erwartete? Sie zog verärgert die Augenbrauen zusammen und verschwand im Gasthaus.
Pünktlich hatte sie auf ihre Begleitung auf der Bank gewartet. Ihre Reisekoffer hatte netterweise ein männlicher Gast des Hauses für sie die schmale Treppe nach unten getragen. Gerade als sie verärgert aufschnauben wollte, weil er nicht gekommen war, pfiff er ihr von der anderen Straßenseite zu. Angela zog säuerlich die Augenbrauen nach oben. Sie war doch kein Hund, der angerannt kam, wenn er rief. Mit einem leichten Kopfnicken deutete sie auf die schweren Reisekoffer neben ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. Mr. Jenkins verstand. Er ballte seine Hände zu Fäusten, zog den albernen Hut tiefer ins Gesicht und überbrückte die letzten Meter zu ihr. Absichtlich langsam richtete Angela die angesteckte Brosche an ihrem Kleid. Sie hatte sich Anfangs ernsthaft angestrengt, um ein besseres Verhältnis zum Buchhalter aufzubauen. Wenn er aber nicht wollte, konnte sie vor ihm ebenso die verzogene Göre aus reichem Elternhause spielen, um ihn auf die Palme zu bringen.
Gemächlich folgte sie dem Mann, der schwer schnaufend ihre Koffer hinter sich herzog und lächelte. Der Weg zur Postkutschenstation war kurz und so hatte Angela nicht allzu viel von diesem Spaß. Sie ließ sich vom Kutscher in die Postkutsche helfen. Diese war viel geräumiger, heller und wie sie leider auch feststellen musste, ungemütlicher, als ihre alte Kutsche. Sie schloss ihre Augen und lehnte sich gegen die harte Lehne der Bank. Mr. Jenkins hatte erwähnt, dass die Reise die halbe Nacht dauern würde. Ihr Rücken würde ihr diese Fahrt keinesfalls danken.
Während Mr. Jenkins die letzten Worte mit dem Kutscher wechselte, der nicht älter als siebzehn oder achtzehn war, summte Angela ein Lied vor sich hin. Die Tür öffnete sich und hastig stieg eine Frau ein, die im gleichen Alter sein musste. Ihre fast schwarzen Locken waren in einen einfachen Knoten gesteckt. Sie beachtete Angela nicht, hatte sich gedankenverloren auf die Bank entgegen der Fahrtrichtung gesetzt und blickte mit einem Ausdruck in den Augen aus dem Fenster, den Angela so noch nie gesehen hatte. War es Angst? Oder Trauer? Sie konnte es nicht sagen. Das Musselinkleid der Frau war von Flecken übersät. Fast so, als wäre sie eine lange Strecke nach Montgomery gelaufen. Den Saum hatte sie bereits mehrfach verlängert. Angela erkannte es an den kleinen, unordentlichen Einstichen am unteren Ende des Stoffes. Offenbar schämte sich die Frau für das Kleid. Sie zog die feinen Schultern zusammen und Angela fragte sich, ob die Frau tatsächlich aus ärmeren Verhältnissen kam oder warum sie ganz ohne Begleitung reiste.
Doch bevor sie ein Gespräch beginnen konnte, schob sich Mr. Jenkins durch die schmale Kutschtür und ließ sich neben ihr nieder. "Guten Tag." Sprach er in seiner gewohnten schlechten Laune und die Frau zuckte zusammen. Erst jetzt schien sie zu bemerken, dass sie nicht alleine war.
Sie musterte mit ängstlichen Augen erst Angela und dann den alten Jenkins und nickte stumm zur Begrüßung. Dann sah sie wieder aus dem trüben Kutschfenster. Angela wusste nicht, was es war, aber irgendetwas schien diese Frau zu belasten. Sie schielte unauffällig zu Mr. Jenkins herüber und seufzte. Solange der Mann nicht eingeschlafen war, würde sie schweigen müssen.
Zu ihrem Glück dauerte es nicht allzu lange. Sobald sich die Dämmerung über den Himmel gezogen hatte, hatte er den Hut in sein Gesicht gezogen, seinen Kopf gegen die Kutschwand gelehnt und kurz darauf erfüllte ein leises Schnarchen die Stille um sie herum. Angelas Blick huschte zur Frau, die sich immer noch nicht vom Fenster abgewandt hatte, als würde sie nach etwas bestimmtem Ausschau halten. Im dunklen Tageslicht erkannte sie die tiefen Schatten in ihrem Gesicht.
"Mein Name ist Angela Eastbrook. Wie heißen Sie?" Flüsterte sie leise und hoffte, dass es laut genug war, um sie zu hören.
Die Frau drehte widerwillig den Kopf in ihre Richtung. Ihren Mund hatte sie zu einem schmalen Strich verzogen. "Evangeline Relish." Kam es von ihr.
"Kommen Sie aus Montgomery, Miss Relish?" Fragte Angela weiter, doch Miss Relish schüttelte den Kopf und schwieg.
Angela wartete einige Augenblicke und unterbrach dann die Stille. "Sie reisen alleine nach Greeneville. Wieso?"
Evangeline Relish's Blick glitt für den Bruchteil einer Sekunde zu Mr. Jenkins. Sie verkrampfte ihre Hände in dem zerknitterten Stoff ihres Kleides. "Ich möchte lieber nicht darüber reden."
Angela lachte leise auf. "Sind sie etwa auf der Flucht?" Scherzte sie und erkannte im Gesicht der Frau, dass sie damit wohl ins Schwarze getroffen hatte. Ihr Lachen verstummte. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie die vor Trauer und Schmerz verzerrten Gesichtszüge von Miss Relish in der Dunkelheit erkannte. "Vor wem müssen Sie sich verstecken?" Sie wusste, dass sie mit ihren Fragen jede Art von Etikette überschritt, aber ihre Neugier war zu groß.
Miss Relish atmete zitternd ein, ließ mit ihren Händen vom Kleid ab und strich es glatt. "Es ist besser, wenn Sie es nicht wissen, Miss Eastbrook."
"Besser für wen?"
"Für mich." Antwortete sie knapp. "Er hat mich schon oft gefunden. Er findet mich immer. Je weniger Menschen mein Reiseziel kennen, desto eher kann ich darauf hoffen, dass er mich diesesmal nicht findet." Aus den Augenwinkeln blinzelte sie kleine Tränen weg.
Angelas Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Sie wusste nicht, vor wem Miss Relish floh und trotzdem spürte sie den Drang, ihr zu helfen. Fest entschlossen nahm sie die kalte Hand der Frau in ihre. Die dunklen Augen ihres Gegenübers schimmerten im Mondlicht.
"Wenn Sie nicht genügend Geld für Ihr Vorhaben besitzen, kann ich Ihnen gerne etwas geben. Sobald wir in Greeneville sind. Sie können auch ein paar meiner Kleider nehmen. Wir scheinen die gleiche Größe zu haben." Angela lächelte sie tröstend an.
Überrascht öffnete Miss Relish den Mund. "Das kann ich nicht annehmen. Das ist zu viel."
"Und ob Sie das können." Ein leichter Regen setzte ein und der Wind rüttelte an dem Gefährt. Sie lehnte sich wieder zurück an die Bank und ließ Miss Relish's Hand los. "Ich bestehe darauf. Wer soll uns Frauen sonst helfen, wenn wir es nicht untereinander tun?"
Evangeline Relish lächelte zaghaft. Die Tränen rollten über ihre Wangen, wie der Regen gegen das Fenster der Kutsche prasste. Sie musste nichts sagen. Angela erkannte die Dankbarkeit in ihren Augen.
Eine Weile fuhren sie still nebeneinander her. Der Regen nahm zu, übertönte das Schnarchen des Buchhalters, strömte in großen Mengen auf sie herab. Das war das Dezemberwetter, welches Angela erwartet hatte. Sie schlang die Arme um ihren eigenen Körper und lehnte den Kopf, der sich schwer von der Müdigkeit anfühlte, gegen die rüttelnde Wand. Kurz musste sie eingedämmert gewesen sein, denn im nächsten Moment hörte sie Mr. Jenkins lauthals diskutieren.
Sie schreckte aus dem Halbschlaf hoch. Der alte Mann besah den Kutscher mit einem eisernen Blick, der die Kutschtür um einen Spalt geöffnet hatte. Frischer Wind drang herein. Miss Relish schien genauso verwirrt von der Situation. In der Ecke zusammengekauert folgte sie stumm der regen Unterhaltung.
"Ich würde wirklich nicht weiterfahren. Bei dem Wetter kann es schnell gefährlich werden." Warf der Kutscher ein. Seine gesamte Kleidung triefte nass vom Regen.
"Ich bezahle dich doch nicht, damit du uns nicht an das Ziel bringst, Bürschen! Wir fahren weiter. Greeneville ist nicht mehr weit." Befahl Mr. Jenkins mit tiefer Stimme und das Gesicht des Kutschers verhärtete sich.
"Bei Regen ist es waghalsig am Fluss entlangzufahren. Es gibt unzählige Brücken, die wir passieren müssen. Bei Hochwasser sind sie nass oder noch schlimmer, ein treibender Baumstamm rammt hinein." Widersprach er.
"Gibt es keinen anderen Weg, den wir nehmen können?" Hörte Angela Miss Relish leise fragen.
"Leider Nein, Miss. Wir müssen die Flüsse überqueren. Alle weiteren Umwege würden uns Tage kosten." Der Kutscher schüttelte seinen Kopf so stark, dass man im schwachen Licht kleine Tröpfchen davonfliegen sah.
"Da haben Sie es. Also fahren Sie. Ich werde nicht gutheißen, dass wir die Nacht mitten in der Wildnis in einer Kutsche verbringen." Mr. Jenkins Laune war sichtlich an einem Tiefpunkt angelangt. Verunsichert sah Angela zum Kutscher. Der Junge schnaubte. "Ihr Wort in Gottes Ohr." Er schlug die Tür zu und verriegelte sie. Nur wenige Augenblicke später setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung. Diesmal deutlich langsamer, als sie es am Anfang der Fahrt gewesen war.
"Sie hätten ihn nicht so anfahren sollen. Der Junge weiß am Besten, wann er es für richtig hält, abzubrechen." Zischte Angela in die Richtung des Buchhalters, der nur etwas unverständliches brummte und seinen Hut tiefer zog.
Sie schüttelte den Kopf von seinem Verhalten. Sicher würde sie nach der Reise vor ihrem Vater kein gutes Haar an Mr. Jenkins dranlassen. Der Wind heulte laut, der Regen schlug wie kleine Steinchen auf die Kutsche ein. Angela hatte Mitleid mit dem Kutscher, der sich bei diesem Wetter alleine mit den Pferden herumschlagen musste. Natürlich bevorzugte sie lieber eine Nacht in einem warmen Bett, aber sie hatte nichts einzuwenden gehabt, als der Junge seinen Vorschlag, die Nacht in der Kutsche zu verbringen, gemacht hatte. Der Ärmste würde sich noch erkälten oder schlimmer, an einer Lungenentzündung dahingerafft werden.
Im fahlen Mondlicht, der durch die Wolken hindurchleuchtete, erkannte sie einen Fluss, dessen dunkle Gewässer gefährlich schnell näher kamen. Die Kutsche steuerte darauf zu. Es musste sich dabei um eine der Brücken handeln, denn kurz darauf spürte Angela, dass sich der Untergrund änderte.
Vorsichtig rollten die Räder über den rutschigen Untergrund. Miss Relish hatte sich ängstlich angespannt. Ihre Unterlippe bebte.
Und dann geschah das, was Angela am meisten fürchtete. Mit einem starken Windstoß kam die Kutsche ins Wanken.
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