Ameisenfarm
Evangeline sah Anthony fasziniert beim Verschlingen der Sonntagsbrötchen zu, die Hannah am Abend zuvor gebacken hatte. Das strohblonde Kerlchen war der zweitälteste der Gastrell-Kinder. Ganze drei Tage hatte sie bereits eine der Gästezimmer des Gasthauses bezogen und wunderte sich jeden Tag ein wenig mehr, wie viel Essen in ein schlaksiges, acht Jahre altes Kind passen konnte. Während sie gerade einmal ein Brötchen mit etwas Butter aß, hatte er schon drei weitere aufgegessen. Angelina, seine ältere Schwester klopfte ihm ermahnend auf die Finger, als er sich über den Tisch beugte, um sich ein viertes Brötchen zu schnappen. "Du isst mehr als ein Schwein", zischte sie ihm streng zu und Evangeline musste bei diesem Vergleich schmunzeln. Sie war an diesem Sonntagmorgen allein mit fünf der sechs Kinder am Frühstückstisch. Hannah wollte das jüngste Kind im Waschbottich baden, bevor sie sich alle auf dem Weg zur Kirche in den Sonntagsgottesdienst machten.
"Mama, Angi hat mich ein Schwein genannt!" schrie Anthony weinerlich und zog rachsüchtig an dem geflochtenen Zopf seiner Schwester. "Aua!"
"Mama, Toni hat an Angis Haaren gezogen!" rief diesmal Alfred, der sich in einem unbemerkten Moment sein nächstes Brötchen stibitzt hatte. Amalia, die sich neben Evangeline gesetzt hatte und ihr nicht mehr von der Seite wich, schnappte erschrocken nach Luft und riss die Augen auf. "Mama! Fred hat sich noch ein Brötchen genommen!"
"Beruhigt euch, Kinder!" versuchte Evangeline die Kleinen zu bändigen. "Eure Mutter hat ohnehin genug Arbeit." sie warf allen einen eisernen Blick zu. "Anthony, nimm deinen Finger aus Allie's Ohr!"
Ertappt setzte sich der Junge aufrecht hin und starrte auf seinen Schoß. Nur einen Augenblick später beobachtete sie das schiefe Grinsen in seinem Gesicht, das er versuchte zu verheimlichen, als er mit dem Fuß unter dem Tisch nach Alfred trat und versehentlich Evangelines verletztes Bein erwischte. Ihr entwich ein spitzer Schrei, der alle Kinder aufzucken ließ. Besonders der Übeltäter wurde so blass, dass seine Sommerprossen im Gesicht hervortraten. "Anthony, du kleiner Frechdachs", sie bemühte sich, die Tränen, die der Schmerz ihr in die Augen trieb, zurückzuhalten. "Warte nur ab, bis deine Mutter da ist!"
Die Augen des Jungen wurden verdächtig glasig, bevor er laut zu schluchzen begann. "Das tut mir so leid, Miss Angela. Es kommt nie wieder vor", schniefte er zwischen den Schluchzern und Evangeline bemühte sich um einen strengen Gesichtsausdruck. "Dann setz dich jetzt ordentlich hin und warte geduldig, bis ihr euch für den Gottesdienst anziehen dürft. Schaffst du das?"
Anthony nickte beschämt. Ihm war selbst der Appetit vergangen. Als Angelina ihm versöhnlich das letzte Brötchen hinhielt, schob er wortlos ihre Hand von sich. Auch die übrigen Geschwister blieben ruhig auf ihren Plätzen sitzen und Alfred aß genussvoll das restliche Frühstück auf.
"Miss Angela, musst du dich auch für die Kirche umziehen?" Amalia sah mit großen Augen zu Evangeline auf und nahm ihre Hand in ihre beiden kleinen Hände.
"Frag doch nicht sowas unsinniges. Miss Angelas Kleider sind immer wunderschön", warf Angelina lauthals ein und schob ihren Zopf über ihre Schulter. "Das hat mir sogar Fred gesagt." Mit dem Finger deutete sie auf ihren jüngeren Bruder, der nun mit vollem Mund und hochrotem Kopf erstarrte.
Evangeline lachte herzlich auf. Kinder konnten so ehrlich sein. Und Hannah Gastrells Kinder waren gesprächiger als jedes andere Kind, das sie kannte.
"Willst du nach dem Gottesdienst meine Ameisenfarm sehen, Miss Angela?" Anthony hatte sich wieder erholt und wischte sich die letzte Träne aus dem Augenwinkel. Seine Geschwister stöhnten genervt auf.
"Du hast eine eigene Ameisenfarm?" fragte Evangeline den Jungen und sein Gesicht erhellte sich. Stolz hob er seine Brust. "Direkt hinter dem Haus neben Mamas Gemüsegarten. Sie schimpft immer über meine Ameisen, aber ich habe an dieser Stelle so oft trockenes Brot und Zucker ausgelegt, dass die Ameisen einen Ameisenhaufen in der Nähe gebaut haben. Der ist riiiieeesig!" er streckte seine Arme von seinem Körper.
"Aber im Winter sind deine Ameisen doch gar nicht da!" erwiederte Alfred und Anthony zog beleidigt einen Schmollmund. "Ja und? Der Haufen ist da. Und das will Miss Angela bestimmt sehen, oder?"
"Angela kann sich deine Tierchen später ansehen, Schatz. Jetzt geht und wascht eure Hände, bevor ihr die Sonntagskleidung anzieht." Hannah Gastrell betrat die Küche mit dem kleinen Arthur auf dem Arm und scheuchte ihre Kinder in die Zimmer. "Es tut mir leid, wenn Sie Ihnen irgendwelche Unannehmlichkeiten bereitet haben." entschuldigend lächelte Hannah. Evangeline schüttelte nur lachend den Kopf. "Machen Sie sich da keine Sorgen. Ich habe mich wunderbar unterhalten gefühlt."
Die Witwe seufzte und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber fallen. Ein frisch gebadeter Arthur machte es sich auf ihrem Schoß gemütlich. Hannah hatte ihm das Sonntagshemd schon angezogen und Evangeline fand, dass es das süßeste Kind war, das sie jemals gesehen hatte. "Seit dem Tod meines Mannes hat sich vieles für mich geändert. Hamish hat hart an diesem Gasthaus gearbeitet, wenn er nicht gerade im Dienst war. In seiner Pension wollte er sich den Traum erfüllen und mit mir gemeinsam das Haus leiten." ein wehleidiger Zug umfasste Hannahs sonst so fröhliches Lächeln. "Er hat es nicht mehr bis dahin geschafft. Meine Kinder fragen fast täglich nach ihm. Und das noch nach Jahren."
"Das muss schwer für Sie gewesen sein. Ich helfe Ihnen gerne solange ich noch in Greeneville bin", bot Evangeline mit einem tröstenden Lächeln an. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sehr Hannah Gastrells Welt zusammengebrochen war, als sie die Nachricht erhalten hatte, dass ihr Mann im Krieg gefallen war.
"Das nehme ich gerne an, Angela. Vielleicht sind Sie ja ein kleines Geschenk des Himmels." Hannahs Schultern entspannten sich, als sie sich im Stuhl zurücklehnte und Evangeline verdrängte den Gedanken, dass ein 'Geschenk des Himmels' nicht in so vielen Lügen verpackt wäre wie sie es war.
"Ich erinnere mich noch genau an den blassgelben Umschlag, in dem der Brief steckte der mir sagte, dass mein Hamish gestorben war. Ich hoffe jeden Tag für Rebecca, dass sie nicht derselbe Brief erreicht", erzählte Hannah mit ruhiger Stimme weiter und fuhr gedankenverloren durch den Haarflaum auf Athurs Kopf.
Überrascht hob Evangeline ihre Augenbrauen. "Rebeccas Mann ist bei der Armee?"
Hannah nickte knapp. "Ja, er hat sich vor etwa einem halben Jahr dem Land verpflichtet und wurde nur wenige Wochen danach in den Krieg zwischen den Unionstruppen und der konföderierten Tennessee-Armee beordert. Rebecca hat ihm regelmäßig geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten. Ich weiß wie schwer es für einen Soldaten an der Front ist, einen Brief nach Hause zu schicken, aber Rebecca macht sich unglaubliche Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen sein kann. Dieser Krieg ist so viel blutiger als alle die wir bisher erlebt haben. Unser Präsident hat Amerika mit seinen Ansichten gespalten und wir können nur darauf warten, dass unsere Liebsten bald wieder bei uns sind."
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Ungeduldig rutschte Evangeline auf der Kirchenbank hin und her. Sie war noch nie ein sonderlich gläubiger Mensch gewesen, aber zwischen den Reihen hatte sie das Gefühl, dass der Pfarrer sie immer dann anschaute, wenn er über die Ehrlichkeit eines Menschen zu Gott und seinen Mitmenschen redete. Sie fragte sich, ob es nicht Lügen gab, über die Gott hinwegsehen konnte. Dennoch bezweifelte Evangeline - egal wie gnädig Gott auch sein mochte - dass er ihr diese Lüge verzeihen würde.
In ihren Gedanken vertieft strich sie mit den Fingern durch Amalias weiches Haar. Das Mädchen hatte bereits nach einer Stunde so laut gegähnt, dass sie irgendwann mit dem Kopf auf ihrem Schoß eingeschlafen war. Hannah Gastrell hatte bei diesem Anblick nur die Stirn gekräuselt und beließ es dabei. Vermutlich war sie froh, dass sich die restlichen Kinder so gut benahmen und Anthony nicht wieder seine kleinen Schwestern ärgerte. Evangeline unterdrückte selbst ein Gähnen, als sie sich leicht zur Seite drehte und nur wenige Reihen schräg hinter ihr Ephra Murphy ausmachte, der sich bei ihrem unterdrückten Gähnversuch ein Grinsen nicht verkneifen konnte, ehe er seinen Blick starr auf den Pfarrer richtete. Er saß neben Rebecca Archer, die liebevoll über ihren Bauch strich und wohl genauso sehr auf den Prediger achtete, wie Evangeline es tat. Der Mann neben ihr mit dem etwas hageren Gesicht musste Toby Bowler sein, vermutete sie. Er und Rebecca wirkten so vertraut wie ein altes Ehepaar. Sie hatte ihren Arm unter seinen Arm eingehakt. Evangelines Augen fanden ihren Weg zurück zu dem Mann, der sie immer wieder so sehr in Verlegenheit brachte. Unerwartet traf ihr Braun auf sein Blau, als auch er sie ansah. Schnell setzte sie sich aufrecht hin, nur um keinen Moment später festzustellen, dass er sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Ihr Herz fühlte sich an, als hätte sie einen heißen Tee getrunken, der sie von innen aufwärmte. Ihr Gefühl im Magen glich Anthonys Ameisenhaufen im Sommer. Ephra Murphys Blicke verbrannten sie und sie konnte nicht sagen, ob sie das schon immer getan hatten. Evangeline straffte damenhaft ihre Schultern und richtete das lachsrote Kleid, welches sie aus Angelas Reisekoffer genommen hatte. Seine Blicke brannten sich in ihren Rücken ein. Auch wenn sie ihre letzte Kraft dafür verwendete, den Worten des Pfarrers zuzuhören, konnte sie an nichts anderes denken als an Ephra Murphy.
Die Minuten verstrichen langsam und Evangeline stellte erleichtert fest, dass sich die Rede des Pfarrers dem Ende zuneigte. Zum letzten Gebet hob sie vorsichtig Amalias Kopf vom Schoß und legte das Mädchen auf der harten Sitzbank ab. Dann stand sie auf und senkte stumm das Gesicht, während der Pfarrer das Schlussgebet sprach. Die Kirche leerte sich rasch und Evangeline schenkte Hannah ein entschuldigendes Lächeln, als sie sich aus der Sitzreihe schob und im Gang dem Strom nach draußen folgte. Ihr Weg würde zwangsläufig an der Reihe des Arztes vorbeiführen und ihr Herz stolperte bei diesem Gedanken. Zwischen den anderen Kirchgängern, die ihr die Sicht versperrten, erkannte sie Rebecca und Toby Bowler. Ihre Freundin unterhielt sich ausgelassen mit dem hageren Mann. Dr. Murphy tauchte einige Sekunden danach zwischen den Männern und Frauen auf, die Sonntagmorgens Greenevilles Gottesdienst besucht hatten. Er stand unbeteiligt neben seiner Schwester und fast hätte sich in Evangeline die Enttäuschung breit gemacht, wenn er nicht in diesem Moment zu ihr aufgesehen hätte. Ihre Mundwinkel hoben sich erleichtert. In einer einzigen Handbewegung raffte sie die Röcke des roten Kleides und drängelte sich durch den Gang.
"Angela Eastbrook!" hörte sie eine fremde Stimme laut ausrufen und hielt inne. Ephra Murphys Blick glitt für einen Augenblick über ihre Schulter hinweg. Er hob eine Augenbraue und verzog seinen Mund zu einem schmalen Strich. Was hatte das zu bedeuten? Noch bevor Evangeline genauer darüber nachdenken konnte, drängte sich ein Mann an ihr vorbei und blieb unmittelbar vor ihr stehen.
"Hallo, wir wurden uns noch nicht vorgestellt", eröffnete ihr Gegenüber das Gespräch und streckte seine Hand aus, die sie ergriff. "Mein Name ist John MacQuoid. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen." In einer galanten Bewegung platzierte er einen Kuss auf ihrem Handrücken.
Evangeline lächelte höflich, als sie ihm ihre Hand entzog und heimlich am Stoff ihres Kleides abwischte. "Mich freut es auch, Ihre Bekanntschaft zu machen." Sie faltete ihre Hände hinter dem Rücken zusammen, ehe Mr. MacQuoid noch einmal auf die Idee kommen konnte, sie zu küssen.
"Ich muss ehrlich gestehen, dass ich Sie nicht in der Kirche erwartet habe." sein Lächeln offenbarte seine schönen Zähne. "Ich war der Annahme, dass eine so anmutige und geistreiche Person wie Sie dem Irrglauben eines gläubigen Menschen nicht verfallen würde. Immerhin leben wir in der Moderne."
"Darf ich dann fragen, weshalb Sie hier sind, Mr. MacQuoid, wenn Sie an keinen Gott glauben?" Evangeline musterte ihre neue Bekanntschaft skeptisch.
John MacQuoid seufzte dramatisch auf. "Meine beiden Onkel haben leider eine äußerst traditionelle Ansicht. Und ich bin nunmal ein Mensch, der sehr zuvorkommend auf die Wünsche seiner Mitmenschen achtet. Ich begleite die beiden jeden Sonntag."
"Das ist sehr aufmerksam von Ihnen", gestand Evangeline und versuchte einen kurzen Blick auf Ephra Murphy zu erhaschen, doch Mr. MacQuoid stellte sich ihr in den Weg.
"Nicht wahr? Ich kann Ihnen gerne meine weiteren Vorzüge bei einem gemeinsamen Spaziergang zur Schau stellen. Sie können sich sicher sein, wir werden uns hervorragend verstehen", breitete er seinen Vorschlag aus und Evangeline hätte in diesem Moment wohl zu allem Ja gesagt, wenn das bedeutete, dass sie ihn für diesen Sonntag abweisen konnte.
"Entschuldigen Sie mich bitte, Mr. MacQuoid. Ich bin die nächsten Tage leider verhindert. Aber es findet sich bestimmt noch ein geeigneter Zeitpunkt, zu dem wir unser Gespräch fortführen können", gab sie eine flüchtige Antwort und war auch schon an ihm vorbeigeeilt. Zu ihrer Erleichterung folgte er ihr nicht. Bei Rebecca und Toby Bowler angekommen stellte sie allerdings frustiert fest, dass Dr. Murphy gegangen war.
"Was wollte denn John von dir?" fragte Rebecca ohne Umschweife und Evangeline verkniff sich im letzten Moment ein Augenrollen. "Er hat sich mir vorgestellt und um einen Spaziergang gebeten."
"Nimm dich in acht. Ehe du dich versiehst bittet er dich nicht mehr um einen Spaziergang, sondern hält um deine Hand an", lachte sie und Mr. Bowler zog gespielt beleidigt denselben Schmollmund, den Anthony Gastrell am Frühstückstisch aufgesetzt hatte. "Mach dich nicht lustig über die Gefühle eines Mannes, Becca. Es ist schwieriger als du denkst, einer Frau seine Liebe zu gestehen."
Schlagartig änderte sich Rebeccas Gesichtsfarbe in ein leuchtendes Rot und auch Toby Bowler sah verlegen zu Boden. Und Evangeline fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Rebecca und Mr. Bowler vielleicht doch mehr als nur diese Freundschaft verband.
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