22 - Ein schwerer Geburtstag
Der Morgen war still im St. Mungo's. Das Licht der Sonne fiel durch das Fenster von Harrys Krankenzimmer, die warmen Strahlen spielten auf den weißen Laken seines Bettes. Harry war wach, lag jedoch still da und starrte an die Decke. Seine Bewegungen waren noch immer vorsichtig, sein Körper geschwächt, doch die Farbe war allmählich in sein Gesicht zurückgekehrt. Heute war sein Geburtstag, doch der Gedanke daran fühlte sich seltsam fremd an. Geburtstage hatten in seinem Leben nie eine besondere Rolle gespielt, eher waren sie Tage, die er fürchtete, weil sie seinen Vater oft in besonders schlechte Laune versetzten. Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Bevor er reagieren konnte, öffnete sich die Tür, und Severus Snape trat ein. Er sah aus wie immer, seine dunkle Robe tadellos, doch Harry bemerkte die leichten Schatten unter seinen Augen.
»Guten Morgen, Harry«, sagte der Mann ruhig und trat näher an das Bett heran. »Ich hoffe, du hast ein wenig schlafen können.« Harry zuckte leicht mit den Schultern.
»Ein bisschen«, murmelte er. Severus stellte eine kleine Tüte, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch neben Harrys Bett und zog sich einen Stuhl heran. Er setzte sich mit einem Hauch von Zurückhaltung, als ob er nicht sicher war, wie Harry auf ihn reagieren würde.
»Ich weiß, dass Geburtstage in deinem Leben bisher nicht das waren, was sie hätten sein sollen«, begann Severus, seine Stimme sanft, aber ernst. »Aber heute ist dein Geburtstag. Und das bedeutet, dass es ein besonderer Tag ist – für dich und für alle, die sich um dich kümmern.« Harry sah ihn an, seine grünen Augen groß und unsicher.
»Es fühlt sich nicht besonders an«, flüsterte er. Severus lehnte sich leicht vor, seine Hände ruhten locker auf seinen Knien. »Das verstehe ich. Aber vielleicht kann ich dazu beitragen, dass es zumindest ein wenig besser wird. Alles Gute!« Er griff nach der Tüte und zog ein sorgfältig verpacktes Päckchen heraus. Das Papier war dunkelgrün und mit einer silbernen Schleife verziert. Harry sah das Geschenk an, als könne er nicht glauben, dass es wirklich für ihn war.
»Das ist für dich«, sagte Severus schlicht und hielt ihm das Päckchen hin. Harry zögerte, dann nahm er es vorsichtig entgegen. Er betrachtete es einen Moment, bevor er begann, die Schleife zu lösen und das Papier behutsam zu entfernen. Darunter kam ein schlichtes, aber wunderschön, in Leder gearbeitetes Notizbuch zum Vorschein, das nach frischem Pergament und Tinte roch. Auf dem Einband war in silbernen Buchstaben »H.P.« geprägt.
»Ein Tagebuch?«, fragte Harry leise, seine Finger strichen über die glatte Oberfläche.
»Ja«, antwortete Severus. »Ich dachte, es könnte dir helfen, deine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Manchmal ist es einfacher, Dinge aufzuschreiben, als sie auszusprechen.« Harry blickte von dem Buch zu Severus, seine Augen schimmerten feucht.
»Das ist ... das erste richtige Geburtstagsgeschenk, das ich je bekommen habe«, sagte er schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Severus' Gesicht blieb ruhig, doch ein Hauch von Wärme lag in seinen Augen.
»Dann hoffe ich, dass es dir gefällt.«
»Es ist perfekt. Vielen Dank«, murmelte Harry, seine Hände hielten das Buch fest, als wäre es ein Schatz. Plötzlich flog die Tür auf und ein kleiner Junge mit einer wilden Lockenmähne hereinstürmte. Er hielt ein kleines, bunt eingepacktes Päckchen in der Hand und rief laut: »Harry! Harry! Geburtstag!« Harry blinzelte überrascht, als der Junge direkt auf ihn zulief und das Geschenk schwungvoll auf seinen Schoß legte.
»Für dich! Aufmachen!«
»Elias!« Remus Lupin eilte hinterher, seine Hände bereits ausgestreckt, um den Dreijährigen einzufangen. »Was habe ich dir gesagt? Wir müssen vorsichtig sein.« Elias drehte sich zu seinem Vater um, ohne dabei Harry aus den Augen zu lassen.
»Aber Papa, er hat Geburtstag! Man muss sagen ‚Happy Birthday'!« Harry starrte das kleine Kind vor ihm an, unsicher, wie er reagieren sollte. Der Junge hatte ein strahlendes, freches Grinsen im Gesicht, und seine braunen Augen leuchteten voller Neugier und Aufregung.
»Elias«, sagte Remus sanft, während er den Jungen auf den Arm nahm, »das ist Harry. Er erholt sich gerade und muss sich ausruhen, also sei bitte ein bisschen ruhiger.« Elias nickte ernsthaft, doch seine kleinen Hände griffen immer noch nach Harrys Päckchen.
»Du musst aufmachen«, sagte er mit der Ernsthaftigkeit, die nur ein Dreijähriger aufbringen konnte.
»Ähm, danke«, murmelte Harry, seine Stimme zögernd. Er war sich nicht sicher, wie er mit so viel Enthusiasmus umgehen sollte. Remus setzte sich vorsichtig auf die Bettkante, Elias immer noch im Arm.
»Harry also erst einmal Happy Birthday und ich denke, wir müssen uns vorstellen. Das ist Elias, unser Sohn.« Elias winkte eifrig.
»Hallo, Harry! Ich bin Elias!« Harry lächelte schwach.
»Hallo, Elias.« Remus musterte Harry mit einem warmen, aber besorgten Blick. »Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass wir ihn mitgebracht haben. Wir wollten dich nicht überfordern, aber er hat darauf bestanden, dich kennenzulernen.«
»Es ist okay«, murmelte Harry, obwohl er sich ein wenig überfordert fühlte. In diesem Moment trat Sirius Black ins Zimmer, ein Lächeln auf seinem Gesicht, das etwas zu breit war, um ganz echt zu wirken.
»Alles Gute zum Geburtstag, Harry«, sagte er und trat näher.
»Danke«, sagte Harry leise. Sirius hielt ein kleines Päckchen in der Hand, das er auf den Tisch neben Harrys Bett legte.
»Das ist von uns. Remus und ich haben es zusammen ausgesucht.« Severus, der bisher im Hintergrund geblieben war, beobachtete die Szene mit zusammengezogenen Augenbrauen. Es war offensichtlich, dass er die plötzliche Lebhaftigkeit im Zimmer genau im Blick behielt und Harrys Reaktionen einschätzte.
»Nun, Harry«, begann Remus sanft, »du solltest dein Geschenk von Elias öffnen, bevor er vor Ungeduld platzt.« Harry nickte langsam und griff nach dem kleinen Päckchen auf seinem Schoß. Es war in leuchtend blaues Papier eingewickelt, und die Klebestreifen waren unordentlich angebracht – eindeutig die Arbeit eines Dreijährigen. Harry öffnete es vorsichtig, während Elias aufgeregt mit den Füßen wippte. Zum Vorschein kam eine kleine Figur eines Hippogreifs, detailreich geschnitzt und offensichtlich mit Sorgfalt ausgewählt. Harry betrachtete die Figur, seine Finger fuhren über die glatte Oberfläche.
»Das ist ... wirklich schön«, sagte er leise und sah Elias an. »Danke.« Elias grinste über das ganze Gesicht und klatschte in die Hände.
»Der kann fliegen! Aber nur wenn du ihn ganz fest magst!« Remus lachte leise und drückte Elias an sich.
»Das war eine gute Wahl, mein Großer.« Severus räusperte sich leise, und Sirius bemerkte sofort die leichte Anspannung in seiner Haltung.
»Remus«, sagte Severus ruhig, »vielleicht ist es an der Zeit, dass ihr Elias nach Hause bringt. Harry braucht noch viel Ruhe.« Remus sah Harry prüfend an und bemerkte die Müdigkeit in seinem Gesicht. Er nickte zustimmend und stand auf.
»Natürlich. Wir wollten dich nicht überfordern, Harry. Elias, sag Tschüss.« Elias winkte eifrig.
»Tschüss, Harry!«
»Tschüss, Elias«, antwortete Harry mit einem schwachen Lächeln. Remus trat zu Sirius und drückte ihm kurz die Schulter.
»Wir gehen schon mal. Komm nach, wenn du fertig bist.« Sirius nickte, und Remus verließ mit Elias auf dem Arm das Zimmer. Die plötzliche Ruhe war fast greifbar, und Severus schien erleichtert, dass Harry nun wieder weniger Trubel ausgesetzt war.
»Harry«, begann Sirius nach einem Moment des Schweigens, »kann ich kurz allein mit dir reden?« Severus' Blick wurde schmal.
»Ich bin nicht sicher, ob das klug ist.« Harry, der die Spannung bemerkte, hob den Kopf.
»Es ist okay. Ich ... ich würde gern mit ihm reden.« Severus sah Harry lange an, dann nickte widerwillig.
»Ich bin direkt draußen, wenn du mich brauchst.« Mit einem letzten scharfen Blick auf Sirius verließ er das Zimmer. Sirius zog sich einen Stuhl näher an Harrys Bett und setzte sich. Er wirkte nervös, rieb sich die Hände und suchte nach den richtigen Worten.
»Harry«, begann er schließlich, »noch mal: Alles Gute zum Geburtstag. Ich weiß, das ist ... nicht der einfachste Tag für dich.« Harry nickte, seine Finger spielten mit der kleinen Hippogreif-Figur.
»Ich wollte mit dir über etwas Wichtiges sprechen«, fuhr Sirius fort. »Severus hat dir ja schon gesagt, dass er möchte, dass du bei ihm lebst, oder?«
»Ja«, antwortete Harry leise.
»Das ist auch das Beste«, sagte Sirius mit einem tiefen Atemzug. »Remus und ich haben lange darüber nachgedacht. Wir haben Elias, und er braucht viel Aufmerksamkeit. Du ... du brauchst auch jemanden, der immer für dich da ist. Und Severus ist dieser jemand.« Harry sah ihn an, sein Gesicht schwer zu lesen.
»Ihr wollt mich also nicht bei euch, weil ihr schon Elias habt?«
»Nein, nein, so ist das nicht«, sagte Sirius hastig. »Es geht nicht darum, dass wir dich nicht bei uns wollen, Harry. Es geht darum, dass wir glauben, dass Severus dir besser helfen kann. Er hat schon so viel für dich getan, und ... ich glaube, er versteht dich auf eine Weise, wie Remus und ich es vielleicht nicht können.« Harry sah zu Boden und nickte langsam.
»Ich verstehe«, sagte er schließlich. Sirius lehnte sich leicht vor.
»Das heißt nicht, dass wir nicht für dich da sind, Harry. Wir sind immer nur einen Brief oder einmal flohen entfernt, okay? Wir sind eine Familie, egal was passiert.« Harrys Lippen bebten leicht, doch er hielt den Blick gesenkt.
»Hat er mich je geliebt? Mein Vater?« Die Frage schien Sirius für einen Moment aus der Fassung zu bringen. Er lehnte sich zurück, fuhr sich durch die Haare und atmete tief durch.
»Ich weiß nicht, ob ich das beantworten kann, Harry. Ich denke, auf seine Art ... vielleicht. Aber er hat es nicht richtig gezeigt. Und das tut mir so leid.« Harry schwieg, und Sirius legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Es ist okay, wenn du wütend bist. Wütend auf ihn, auf mich, auf die ganze Welt. Aber lass dich von dieser Wut nicht auffressen, ja?« Harry nickte schwach, Tränen stiegen in seine Augen, doch er kämpfte darum, sie zurückzuhalten.
»Du bist ein großartiger Junge«, sagte Sirius leise. »Und ich bin so verdammt stolz auf dich.« In diesem Moment kehrte Severus zurück, seine dunklen Augen prüften sofort Harrys Gesicht.
»Alles in Ordnung?« Sirius stand auf und nickte.
»Ja, alles gut. Ich gehe jetzt. Pass auf ihn auf, Severus.«
»Das habe ich vor«, erwiderte Severus knapp. Sirius warf Harry einen letzten Blick zu.
»Wir sehen uns bald, Harry.« Als er das Zimmer verließ, blieb Harry still, und Severus setzte sich wieder an seine Seite. Harry saß still da, die kleine Hippogreif-Figur fest in seinen Händen. Sein Blick war leer, doch seine Finger umklammerten das Geschenk so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Die Tür war kaum hinter Sirius ins Schloss gefallen, da begann Harrys Brust, sich heftig zu heben und zu senken. Sein Atem wurde stoßweise, und schließlich brach ein leises, unterdrücktes Schluchzen aus ihm heraus. Severus richtete sich sofort auf. Seine dunklen Augen musterten Harry mit wachsender Besorgnis, und es war, als könnte er spüren, was in dem Jungen vorging, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Er ahnte, warum Harry weinte – die Freude, Elias, Remus und Sirius zu sehen, hatte etwas in ihm aufgerissen, eine Wunde, die viel tiefer reichte als die Misshandlungen seines Vaters.
»Harry«, sagte Severus leise, doch der Junge reagierte nicht. Stattdessen wurde sein Schluchzen lauter, verzweifelter, bis es den Raum ausfüllte. Die Hippogreif-Figur fiel aus seinen zitternden Händen auf die Bettdecke, und er schlug die Hände vors Gesicht, während sein ganzer Körper bebte. Severus zögerte nur einen Moment, bevor er seine Zurückhaltung ablegte und seine Hand vorsichtig auf Harrys Schulter legte.
»Harry«, sagte er wieder, seine Stimme jetzt sanfter. »Was ist los? Warum weinst du?« Harry schüttelte nur den Kopf, die Worte schienen ihm zu fehlen. Doch schließlich presste er zwischen den Schluchzern hervor:
»Elias ... Remus ... Sirius ... sie sind alles, was ich mir je gewünscht habe ...«, seine Stimme brach, und er rang nach Atem, bevor er weitersprach. »Eine Familie. So eine Familie wollte ich immer. Warum ... warum kann ich das nicht haben?« Severus fühlte, wie sein Herz sich zusammenzog. Es war, als würde er die ganze Verzweiflung eines Jungen spüren, der nie erfahren hatte, was Liebe und Geborgenheit bedeuteten. Es war nicht nur Traurigkeit, die aus Harry sprach – es war tiefe, existenzielle Verzweiflung, ein Gefühl, überflüssig zu sein, unerwünscht.
»Harry«, sagte Severus mit einer Sanftheit, die er selten in seiner Stimme hatte, »du bist nicht allein. Du wirst nie wieder allein sein. Ich weiß, dass es wehtut, und ich weiß, dass das Leben dir Dinge genommen hat, die dir zustehen. Aber ... ich bin hier. Und ich werde bleiben.« Harry schüttelte wieder den Kopf, seine Hände bedeckten noch immer sein Gesicht.
»Aber du musst nicht hier sein. Warum würdest du das wollen? Ich bin nichts wert ... nichts ...« diese Worte brachen etwas in Severus, etwas, das er jahrelang unterdrückt hatte. Die tiefen Narben seiner eigenen Kindheit, seine eigene Einsamkeit, sein Scheitern, all das drängte sich an die Oberfläche. Mit einem rauen Atemzug zog er Harry vorsichtig zu sich, legte seine Arme um ihn und hielt ihn fest, während der Junge in seine Brust weinte.
»Hör auf damit«, sagte Severus leise, doch seine Stimme zitterte. »Hör auf, das über dich zu denken. Du bist nicht ‚nichts', Harry. Du bist ein Kind, das so viel durchgemacht hat, dass es kaum vorstellbar ist. Und trotzdem bist du hier, du bist stark. Du bist alles wert.« Harry drückte sein Gesicht gegen Severus' Roben, die inzwischen feucht von seinen Tränen waren.
»Aber ... was, wenn ich dir nicht gut genug bin? Was, wenn du es bereust?« Severus schloss die Augen und spürte, wie ihm selbst Tränen über die Wangen liefen. Es war ein seltenes, rohes Gefühl, das er kaum noch kannte, doch es überkam ihn in diesem Moment.
»Harry, hör mir zu«, sagte er, seine Stimme rau und brüchig. »Ich habe so viel in meinem Leben bereut. Aber dich ... dich lieb zu haben, mich um dich zu kümmern, das werde ich niemals bereuen.« Harrys Schluchzen wurde leiser, doch er klammerte sich weiterhin an Severus, als würde er in ihm einen Anker finden.
»Ich weiß, was es bedeutet, so zu fühlen wie du«, fuhr Severus fort, seine Stimme ein Flüstern. »Ich weiß, wie es ist, sich wertlos zu fühlen, zu glauben, dass niemand einen will. Aber ich verspreche dir, Harry, ich werde dir zeigen, dass das nicht wahr ist. Du bist wertvoll. Und ich werde immer für dich da sein. Immer.« Harry zog sich langsam zurück, seine roten, verweinten Augen suchten Severus' Gesicht.
»Versprichst du das?« Severus nickte, Tränen glitzerten in seinen schwarzen Augen.
»Ja, Harry. Das verspreche ich dir. Du bist nicht allein. Nicht mehr.« Harry nickte langsam, die Erschöpfung des Weinens zeichnete sich in seinen Zügen ab, doch in seinen Augen lag ein Hauch von Hoffnung, der zuvor nicht da gewesen war. Severus strich ihm vorsichtig über die Haare, eine Geste, die für ihn ungewohnt war, aber in diesem Moment vollkommen natürlich schien.
»Ruh dich aus«, sagte er sanft. »Es ist dein Geburtstag, und es ist der erste von vielen Tagen, an denen du wissen wirst, dass du wichtig bist.« Harry ließ sich zurück auf die Kissen sinken, seine Hände immer noch leicht nach Severus ausgestreckt. Dieser blieb an seiner Seite sitzen, hielt Harrys Hand fest in seiner eigenen und schwor sich, dass er dieses Versprechen niemals brechen würde – egal, was kommen mochte.
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Der Nachmittag war still im Krankenzimmer. Harry schlief, sein Gesicht war entspannt, die Linien der Anspannung und des Schmerzes weniger ausgeprägt als noch vor einigen Tagen. Neben ihm saß Severus in einem schlichten Stuhl, ein Buch in der Hand, das er jedoch kaum beachtete. Er las die gleichen Zeilen immer wieder, unfähig, seine Gedanken von dem Jungen abzuwenden, der so friedlich zu schlafen schien. Ein leises Klopfen an der Tür ließ Severus aufblicken. Eine Frau trat ein, ihre Haltung aufrecht und professionell, ihr Blick freundlich, aber bestimmt. Sie war kaum älter als Severus selbst, mit kurz geschnittenem, dunkeblondem Haar und einem blauen Umhang, auf dem das Abzeichen der Mentalheilung prangte. Severus stand sofort auf, sein Blick misstrauisch.
»Professor Snape?«, fragte die Frau leise, um Harrys Schlaf nicht zu stören.
»Ja«, antwortete Severus knapp. Die Frau trat näher und deutete mit einer Geste zur Tür.
»Könnten wir kurz draußen sprechen? Ich möchte Harry nicht wecken.« Severus nickte widerwillig, warf Harry einen prüfenden Blick zu und folgte der Frau auf den Flur. Dort schloss sie die Tür hinter sich und streckte die Hand aus.
»Mein Name ist Heilerin Elara Lynden. Ich bin Mentalheilerin hier im St. Mungo's. Ich wurde Harrys Fall zugewiesen und werde mit ihm arbeiten, sobald er bereit ist.« Severus nahm ihre Hand, sein Händedruck fest, doch er sagte nichts, wartete darauf, dass sie fortfuhr. Heilerin Lynden ließ seine Hand los und sprach weiter, ihre Stimme ruhig, aber bestimmt.
»Ich habe die Berichte der Auroren und der Heiler gelesen sowie die Aussagen, die bisher gesammelt wurden. Es ist eindeutig, dass Harry nicht nur körperlich misshandelt wurde, sondern auch schwere psychische Traumata erlitten hat. Besonders die Gedächtnismanipulation und der Einsatz des Cruciatus-Fluchs sind besorgniserregend.« Severus' Kiefer mahlte, und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Was genau wollen Sie damit sagen, Heilerin Lynden?«
»Ich sage, dass Harry diese Erlebnisse verarbeiten muss«, erklärte sie ruhig. »Er wird nicht vollständig heilen können, wenn diese Erinnerungen in seinem Unterbewusstsein verborgen bleiben. Die Manipulation hat diese Erinnerungen nicht gelöscht, sondern nur blockiert. Sie sind immer noch da, wie ein Gift, das ihn langsam von innen heraus schädigt.« Severus' Augen verengten sich, und seine Stimme wurde leise, aber gefährlich.
»Sie wollen, dass er sich daran erinnert, wie sein eigener Vater ihn mit dem Cruciatus gefoltert hat? Ein Fluch, der für unerträgliche Schmerzen und Wahnsinn bekannt ist? Wie kann das irgendeinen therapeutischen Nutzen haben?« Heilerin Lynden blieb ruhig, auch wenn die Wut in Severus' Stimme unüberhörbar war.
»Professor, ich verstehe, wie schwer das zu akzeptieren ist. Aber Harrys Geist hat diese Erinnerungen nicht vergessen, sondern sie tief vergraben. Sie tauchen bereits jetzt in Form von Albträumen und unbewussten Ängsten auf. Wenn wir diese Blockaden nicht lösen, wird er sein Trauma niemals vollständig bewältigen können. Er wird in Angst leben, vor Dingen, die er nicht einmal versteht.« Severus schüttelte den Kopf, seine Augen blitzten vor Zorn.
»Das ist unverantwortlich. Sie wollen ihn zwingen, diese Hölle erneut zu durchleben.« Heilerin Lynden trat einen Schritt näher, ihre Stimme wurde sanfter, doch ihre Entschlossenheit blieb ungebrochen.
»Nein, ich werde ihn nicht zwingen. Aber ich werde ihm helfen, sich diesen Erinnerungen in einem sicheren, kontrollierten Umfeld zu stellen. Es wird schmerzhaft sein, das bestreite ich nicht. Aber es ist der einzige Weg, wie er die Kontrolle über sein Leben zurückgewinnen kann. Das, was ihm angetan wurde, hat ihm die Macht über sich selbst genommen. Wenn wir nichts tun, bleibt er ein Gefangener seiner Vergangenheit.« Severus schloss für einen Moment die Augen, sein Atem ging schwer. Er konnte die Wahrheit in ihren Worten nicht leugnen, doch die Vorstellung, Harry noch mehr Schmerz zuzufügen, war kaum zu ertragen.
»Sie wissen nicht, wie zerbrechlich er ist«, sagte er schließlich, seine Stimme leise.
»Ich weiß, dass er zerbrechlich ist«, erwiderte die Heilerin sanft. »Aber ich weiß auch, dass er stark ist. Stark genug, um zu heilen – mit der richtigen Unterstützung. Und er wird Sie an seiner Seite brauchen, Professor. Mehr als jemals zuvor.« Severus wandte den Blick ab, seine Gedanken rasten. Schließlich atmete er tief durch und sah die Heilerin wieder an.
»Wenn Sie ihm schaden, werde ich nicht zögern, einzugreifen.«
»Ich würde nichts tun, was ihm schadet«, antwortete sie mit fester Stimme. »Das verspreche ich Ihnen.« Severus nickte knapp, doch die Sorge in seinen Augen blieb. Er wusste, dass der Weg zur Heilung für Harry lang und schmerzhaft sein würde. Aber wenn es einen Weg gab, ihm sein Leben zurückzugeben, war er bereit, diesen Weg mit ihm zu gehen – koste es, was es wolle.
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