16 - Kampf um ein Leben
Die Stille der Nacht war schwer und unheimlich, als Severus Snape unruhig in seinem Bett lag. Etwas hatte ihn geweckt, ein merkwürdiges Gefühl in der Brust, als würde ihn eine unsichtbare Hand schütteln. Er setzte sich auf und lauschte, doch das einzige Geräusch war das leise Ticken der alten Standuhr im Flur. Etwas stimmte nicht. Er stand auf, zog seinen Morgenmantel über und ging zum Fenster. Der Mond warf ein kühles Licht auf den gepflasterten Weg vor seinem Haus in Spinner's End. Alles wirkte ruhig, doch das mulmige Gefühl ließ ihn nicht los. Er griff nach seinem Zauberstab, um die Schutzzauber des Hauses zu überprüfen, doch bevor er den ersten Spruch beenden konnte, wurde sein Blick von einer dunklen Gestalt auf dem Gehweg angezogen. Erst dachte er, es sei ein Schatten oder vielleicht ein streunender Hund. Doch dann erkannte er, dass es ein Körper war – klein, leblos und vertraut – Harry. Severus riss, ohne zu zögern die Tür auf und rannte hinaus. Seine Füße rutschten auf den feuchten Pflastersteinen, als er neben dem reglosen Jungen in die Knie ging. Harry lag auf der Seite, sein Gesicht war blass wie Kreide, und seine Kleidung war zerrissen und blutbefleckt. Das Erste, was Severus auffiel, war der Zustand seiner Haut – blaue Flecken, Schürfwunden und offene Wunden bedeckten seinen Körper. Blut klebte in seinem Haar, und als Severus vorsichtig Harrys Kopf anhob, spürte er die warme, klebrige Feuchtigkeit, die von einer tiefen Wunde am Hinterkopf stammte.
»Oh, Merlin«, flüsterte er, sein Herz raste, doch seine Hände blieben ruhig. Er zog seinen Umhang aus, zauberte sich selbst Sachen an und wickelte Harry behutsam ein, achtete darauf, seine Bewegungen so sanft wie möglich zu halten. Harrys Atem war flach, kaum hörbar, und sein Körper fühlte sich viel zu leicht an – als hätte er seit Wochen nichts mehr gegessen. Severus hob Harry hoch, und der schlaffe Körper des Jungen schmiegte sich an ihn wie ein zerbrochenes Porzellanpüppchen. Das Bild schnürte ihm die Kehle zu, doch er wusste, dass er keine Zeit verlieren durfte. Mit einem schnellen Schritt trat er zurück in sein Haus, rief das Flohpulver herbei und warf es in die Flammen des Kamins.
»St. Mungo's!«, rief er, und die Flammen leuchteten grün, als er hindurchtrat.
Die Heiler in der Notaufnahme des St. Mungo's reagierten sofort, als Severus mit dem halbtoten Jungen im Arm aus dem Kamin trat. Ein jüngerer Heiler eilte herbei, sein Gesicht wurde blass, als er Harrys Zustand sah.
»Wir brauchen eine Trage, sofort!«, rief er, während zwei weitere Heiler herbeieilten. Sie nahmen Harry behutsam von Severus, der widerwillig losließ, und legten ihn auf die schwebende Trage. Heilzauber wurden in schneller Folge gesprochen, doch das Ergebnis schien nicht gut zu sein. Ein Heiler, eine Frau mit strengem Gesicht und einem Namen, den Severus in seinem Zustand nicht registrierte, trat zu ihm.
»Was ist passiert?«, fragte sie, ihre Stimme scharf, aber nicht unfreundlich.
»Ich habe ihn vor meiner Tür gefunden«, sagte Severus knapp, seine Stimme war ruhiger, als er sich fühlte. »Er ... er muss sich selbst dorthin gebracht haben.« Die Heilerin warf ihm einen skeptischen Blick zu, doch sie sagte nichts weiter und wandte sich wieder Harry zu, dessen Trage nun in einen anderen Raum schwebte.
»Bitte warten Sie hier«, sagte ein jüngerer Heiler, bevor er Severus allein in der Stille des Empfangsraums zurückließ. Seine Hände zitterten, und er presste sie fest gegeneinander. Sein Verstand ratterte, die Bilder von Harrys Zustand waren unauslöschlich.
Während Severus wartete, dachte er über das Geschehene nach. Harry hatte keine Möglichkeit, aus dem Haus seines Vaters zu entkommen, das wusste er. James Potter würde ihn niemals freiwillig gehen lassen. Also, wie war er nach Spinner's End gelangt? Dann wurde ihm die Antwort klar: Magie. Harrys wilde, unkontrollierte Magie hatte sich manifestiert, getrieben von einem letzten verzweifelten Instinkt. Es war die Magie eines Kindes, das sich retten wollte, auch wenn es keinen bewussten Plan hatte. Der Gedanke schnürte Severus die Kehle zu. Wie verzweifelt musste Harry gewesen sein, dass seine Magie ihn an diesen Punkt gebracht hatte? Warum zu ihm? Severus schüttelte den Kopf, als wolle er die Gedanken vertreiben. Es spielte keine Rolle, warum. Was zählte, war, dass Harry jetzt lebte – oder zumindest noch lebte. Und Severus würde verdammt sein, wenn er zuließ, dass irgendetwas ihm den Rest nahm. Er würde kämpfen. Für Harry. Für das, was richtig war. Und James Potter würde sich bald vor der Wahrheit verantworten müssen.
Die Heiler kämpften unermüdlich um Harrys Leben. Die Atmosphäre im Behandlungsraum war angespannt, durchbrochen von den leisen Stimmen der Heilzauber und dem Summen der magischen Geräte. Heiler Whitlock, ein Mann mit grimmigem Gesicht und grauem Haar, führte die Behandlung an. Neben ihm arbeitete Heilerin Ashford, eine jüngere Frau mit scharfen, entschlossenen Augen, die jeden Schritt überwachte. Sie tauschten keine unnötigen Worte aus, ihr Fokus lag vollständig auf dem Kind, das leblos auf der schwebenden Trage lag.
»Er verliert Blut – mehr Druck auf die Wunde am Schädel!«, rief Whitlock, während er seinen Zauberstab in präzisen Bewegungen schwang. »Wir brauchen einen Heiltrank gegen die Hirnblutung, sofort.« Ashford nickte und ließ einen Trank mit einer schimmernden, silbernen Flüssigkeit aus einem Regal herbeifliegen. Sie brachte ihn mit zitterfreien Händen zu Whitlock, der ihn vorsichtig in Harrys Mund träufelte.
»Die Rippen sind gebrochen. Eine hat die Lunge knapp verfehlt. Wenn wir das nicht stabilisieren, wird er es nicht schaffen«, fügte Ashford hinzu und sprach einen stabilisierenden Zauber. Severus wartete derweil in einem angrenzenden Raum. Die Stunden verstrichen quälend langsam. Sein Kopf war voller Gedanken, und sein Herz raste. Die Ungewissheit darüber, ob Harry überleben würde, nagte an ihm. Mit jedem Augenblick, der verging, sank seine Hoffnung weiter, auch wenn er sich nach außen hin gezwungen ruhig gab. Endlich öffnete sich die Tür, und Heiler Whitlock trat ein. Sein Gesicht war müde, aber er schien ein wenig erleichtert.
»Professor Snape«, begann er, doch seine Stimme war angespannt. »Der Junge lebt, aber sein Zustand ist weiterhin kritisch.« Severus atmete tief ein, seine Schultern sanken leicht. Doch die Erleichterung währte nur kurz, als ihm ein Mann in Auroruniform folgte. Auror Greystone, ein hochgewachsener Mann mit kantigem Gesicht und stechendem Blick, trat hinter Whitlock hervor und sah Severus mit einer Mischung aus Misstrauen und Härte an.
»Wir müssen reden«, sagte Greystone mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Whitlock warf einen kurzen Blick in die Akte in seinen Händen, bevor er mit einer unnachgiebigen Stimme begann, die Verletzungen des Kindes aufzuzählen: »Schädelbruch, eine Hirnblutung, mehrere gebrochene Rippen, starke Prellungen, offene Wunden, die eindeutig von einem Gürtel stammen, und Muskelrisse durch Überanstrengung. Zudem ist der Junge stark unterernährt und zeigt Anzeichen von chronischem Stress und Vernachlässigung. Es ist ein Wunder, dass er noch lebt.« Whitlock hob den Blick, seine Augen waren voller Vorwurf.
»Professor Snape, wie konnten Sie so etwas einem Kind antun?« Die Worte trafen Severus wie ein Schlag. Seine sonst so kontrollierte Maske fiel, und für einen Moment konnte er nur starr zurückblicken.
»Was?«, flüsterte er schließlich, unfähig, die Anschuldigung zu fassen. Greystone verschränkte die Arme und trat näher.
»Die Frage ist, warum Sie ihn in diesem Zustand gebracht haben, Professor. Wir haben bereits andere solche Fälle gesehen. Wenn Sie ...«
»Das ist absurd!«, brauste Severus auf, seine Stimme füllte den Raum mit einem schneidenden Ton. »Ich habe ihn nicht verletzt. Ich habe ihn gerettet!« Whitlock hielt inne, seine Augenbrauen hoben sich leicht.
»Wenn Sie ihn nicht verletzt haben, warum haben Sie ihn dann ins Mungo's gebracht?«, fragte er langsam, fast vorsichtig. Severus atmete tief ein, versuchte, seine Gedanken zu ordnen, und sprach mit kühler Entschlossenheit.
»Weil er vor meiner Haustür lag. Der Junge ist nicht von mir verletzt worden – das war sein Vater.« Whitlock und Greystone tauschten einen kurzen Blick, doch der Zweifel in ihren Gesichtern blieb bestehen.
»James Potter?«, fragte Greystone, seine Stimme war skeptisch.
»Ja, James Potter«, antwortete Severus scharf. »Und wenn Sie auch nur einen Funken Kompetenz besitzen, dann überprüfen Sie das Haus, in dem dieser Junge lebt. Prüfen Sie die Umstände, unter denen er gezwungen ist zu überleben. Ich bin sehr sicher, dass Potter trinkt und dann den Jungen regelmäßig misshandelt« Whitlock schien noch immer unsicher, doch Greystone runzelte die Stirn, seine Augen schienen Severus zu durchbohren.
»Das sind schwere Anschuldigungen«, sagte er schließlich.
»Das ist die Wahrheit!«, fauchte Severus, seine Geduld schwand. »Harry Potter hat monatelang Anzeichen von Vernachlässigung und Misshandlung gezeigt. Wenn Sie Ihre Arbeit richtig machen, werden Sie das selbst feststellen.« Greystone zögerte einen Moment, dann nickte er knapp.
»Ich werde es untersuchen. Aber Sie sollten wissen, dass es Zeit braucht, eine solche Behauptung zu beweisen. Bis dahin ...«
»Bis dahin sorgen Sie besser dafür, dass dieser Junge nicht in die Hände seines Vaters zurückkehrt«, unterbrach Severus ihn eisig. »Ich habe keine Absicht, ihn wieder in diese Hölle zurückzulassen.« Heiler Whitlock nickte schließlich, seine Stimme war leiser, als er sprach.
»Der Junge wird zumindest vorerst hierbleiben. Aber er wird kämpfen müssen. Sein Zustand ist kritisch, und ... ich bin mir nicht sicher, ob er die Kraft hat, weiterzumachen.« Severus ballte die Hände zu Fäusten, sein Herz zog sich bei diesen Worten zusammen.
»Er wird kämpfen«, sagte er leise, fast zu sich selbst. »Er wird kämpfen, und ich werde dafür sorgen, dass er nie wieder leiden muss.« Der Heiler nickte und öffnete die Tür zum Krankenzimmer.
»Sie können jetzt zu ihm«, sagte er.
Severus trat in das Krankenzimmer und musste all seine Disziplin aufbringen, um nicht laut zu reagieren. Harry lag reglos in einem breiten, weißen Bett, das ihn fast zu verschlucken schien. Sein Körper war von Verbänden bedeckt, seine Arme lagen leblos an den Seiten, und seine Haut war fast durchsichtig vor Blässe. Der leichte Auf und Ab seiner Brust war das einzige Zeichen, dass er noch lebte. Severus trat näher, jeder Schritt fühlte sich an wie ein schwerer Stein in seinem Magen. Die langen Schürfwunden und die blauen Flecken, die selbst unter den Verbänden hervorschimmerten, waren ein stummer Beweis für die Hölle, durch die Harry gegangen war. Sein Gesicht war eingefallen, und die dunklen Ringe unter seinen geschlossenen Augen erzählten von Schlaflosigkeit und Schmerzen.
»Er sieht schlimm aus, ich weiß«, sagte eine ruhige, aber ernste Stimme hinter ihm. Es war Heilerin Ashford, die ihn ins Zimmer begleitet hatte. Ihre Augen waren müde, aber mitfühlend, während sie auf Harry herabblickte.
»Die Verletzungen sind umfangreich, und er hat viel Blut verloren. Die Hirnblutung konnten wir stoppen, aber der Schädelbruch und die Rippenbrüche waren kompliziert zu behandeln. Seine Magie hat geholfen, ihn zu stabilisieren, aber ...« Severus drehte sich langsam zu ihr um.
»Aber was?«, fragte er, seine Stimme ruhig, aber eisig. Ashford seufzte und sah ihn mit ernster Miene an.
»Es gibt nur so viel, was wir tun können, Professor. Der Rest hängt von ihm ab. Der Junge muss den Willen haben, weiterzukämpfen. Und ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob er den noch hat.« Die Worte trafen Severus wie ein Schlag. Er schaute wieder zu Harry hinüber, der leblos und so unendlich verletzlich aussah. Er erinnerte sich an die Momente, in denen Harry in Hogwarts stumm gelitten hatte, immer darauf bedacht, niemanden zur Last zu fallen. Er dachte an das schüchterne, verängstigte Kind, das niemals wagte, um Hilfe zu bitten.
»Was genau bedeutet das?«, fragte er mit einer Stimme, die gefährlich ruhig war. Ashford trat näher an ihn heran.
»Kinder in einem solchen Zustand ...«, sie zögerte, bevor sie weitersprach. »Manchmal geben sie auf, Professor. Sie sehen keinen Grund, weiterzumachen. Das ist das, was mir bei ihm Sorgen macht. Seine Verletzungen sind heilbar, ja. Aber sein Geist ...«, sie hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. »Er hat etwas verloren. Etwas, das wir ihm nicht zurückgeben können. Das können nur die Menschen, die ihm wichtig sind.« Severus spürte einen Kloß in seinem Hals.
»Und wenn er glaubt, niemanden zu haben?«, fragte er, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Ashford sah ihn an, und in ihrem Blick lag ein Hauch von Hoffnung.
»Dann liegt es an Ihnen, ihm zu zeigen, dass er jemanden hat.« Severus nickte knapp und trat näher an das Bett heran. Er setzte sich auf den Stuhl neben Harry, der so unendlich klein und schwach wirkte.
»Harry«, sagte er leise, fast unhörbar. »Wenn du mich hören kannst, dann weißt du, dass du das hier überstehen musst. Nicht für mich, nicht für deinen Vater, sondern für dich selbst.« Er beugte sich vor, seine Stimme wurde etwas fester.
»Du hast einen Platz, an den du gehörst. Du hast Freunde, die dich schätzen. Und ...«, er hielt inne, seine Worte wogen schwer. »Und wenn niemand sonst da ist, werde ich da sein.« Harry rührte sich nicht, doch Severus glaubte, einen Hauch von Bewegung in seinen geschlossenen Augenlidern zu sehen. Es war kaum merklich, aber es gab ihm einen Funken Hoffnung. Ashford legte eine Hand auf Severus' Schulter.
»Bleiben Sie bei ihm. Manchmal hilft es schon, einfach nicht allein zu sein.« Severus nickte wieder und blieb sitzen, seine Augen fest auf Harry gerichtet. Er wusste, dass dies nicht nur ein Kampf um das Überleben des Jungen war – es war auch ein Kampf, um ihn zurück ins Leben zu holen. Und Severus war entschlossen, diesen Kampf nicht zu verlieren.
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Die frühen Morgenstunden brachten eine kühle Stille über die Wohngegend, als Auror Greystone und seine Kollegen vor dem Haus von James Potter standen. Das kleine, ordentliche Haus wirkte von außen unscheinbar, das Licht der Straßenlaternen reflektierte sich in den milchigen Fenstern. Niemand öffnete, als Greystone erneut gegen die schwere Holztür klopfte.
»Keine Reaktion«, sagte Aurorin Cartwright, eine junge Frau mit scharfem Blick. Sie zog ihren Zauberstab und richtete ihn auf die Tür.
»Sollen wir aufbrechen?« Greystone zögerte, warf einen Blick zurück auf die Straße, die menschenleer war. »Ja, ich denke«, sagte er schließlich und sprach einen Entsperrungszauber. Mit einem leisen Klicken sprang die Tür auf. Das Team trat ein, vorsichtig, ihre Zauberstäbe bereit. Das Innere des Hauses war ordentlich, fast pedantisch sauber. Die Möbel wirkten schlicht, aber gepflegt. Doch auf den ersten Blick schien etwas zu fehlen – keine persönlichen Gegenstände, keine Bilder, die eine Familie oder ein Kind zeigen würden. Alles schien recht oberflächlich, so wie eine Kulisse.
»Das sieht nicht aus wie das Zuhause eines Elfjährigen«, murmelte Auror Wilkes, ein stämmiger Mann mit einem ernsten Gesichtsausdruck. Cartwright nickte, während sie in die Küche ging. Die anderen durchsuchten die angrenzenden Räume.
»Hier ist nichts«, rief Cartwright aus der Küche. »Kein Alkohol, keine Anzeichen von Gewalt.« Greystone folgte ihr in die Küche und bemerkte sofort den Stapel schmutzigen Geschirrs in der Spüle. Auf dem Küchentisch stand ein leerer Teller, neben dem sich ein Messer befand, das nach Brotkrumen roch. Es wirkte normal – viel zu normal.
»Das passt nicht«, sagte Greystone leise, mehr zu sich selbst. »Der Junge ... sein Zustand. Irgendwo muss es Anzeichen geben.« Wilkes kam ins Zimmer und zuckte mit den Schultern.
»Nichts Verdächtiges im Wohnzimmer. Vielleicht war der Junge wirklich einfach nur ...«, er hielt inne, als Cartwright ihn mit einem scharfen Blick unterbrach.
»Verletzt durch Magie? Ein Schädelbruch, lange offene Wunden und Blutergüsse? Das passiert nicht ohne Grund«, sagte sie und verschränkte die Arme. Dann deutete sie auf die Treppe. »Wir sollten oben nachsehen.« Das erste Zimmer im Obergeschoss war offensichtlich Harrys. Greystone öffnete die Tür, und was er sah, ließ ihn die Stirn runzeln. Der Raum war karg – ein schmaler Schreibtisch mit einem wackeligen Stuhl, ein einfaches Bett mit einem dünnen, zerwühlten Laken, und keine Spur von persönlichen Gegenständen. Kein Spielzeug, keine Bücher, nichts, was auf die Anwesenheit eines Kindes hindeutete. Die Luft im Raum war stickig, als ob hier seit Tagen nicht mehr gelüftet worden war. Doch es war nicht nur die Leere des Raumes, die die Auroren beunruhigte. Magie hing in der Luft, eine unangenehme, unkontrollierte Energie, die Greystone dazu brachte, den Griff um seinen Zauberstab zu verstärken.
»Blut«, raunte Cartwright plötzlich, ihre Stimme voller Entsetzen. Sie kniete sich neben das Bett und zeigte auf einen großen, getrockneten Fleck auf dem Laken und den Holzdielen darunter. Greystone trat näher und bemerkte, dass es nicht nur ein paar Tropfen waren – es war eine erschreckende Menge.
»Hier liegt ein Gürtel«, fügte Wilkes hinzu, der auf den Boden neben dem Bett deutete. Der Ledergegenstand war abgenutzt, und an der Schnalle klebte etwas, das verdächtig nach getrocknetem Blut aussah.
»Das ist nicht mehr unverdächtig«, sagte Cartwright, ihre Stimme war leise, aber fest. »Das ist ...« Sie hielt inne, als plötzlich Schritte auf dem Flur zu hören waren. Die Tür wurde aufgestoßen, und in der Tür stand James Potter. Sein Haar war zerzaust, sein Gesicht gerötet, und seine Kleidung war zerknittert, als ob er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, sich ordentlich anzuziehen.
»Greystone, Cartwright, Wilkes? Was machen Sie in meinem Haus?«, rief James, seine Stimme war heiser, und sein Blick war ein wilder Mix aus Wut und Verwirrung. Greystone trat vor, ließ den Blick keinen Moment von seinem Chef abweichen.
»Wo ist Ihr Sohn?«, fragte er scharf. James blinzelte, schien überrumpelt von der Frage.
»Was? Wovon reden Sie? Harry ist ...«, er hielt inne, als ob ihm plötzlich bewusst wurde, dass er keine Antwort hatte. »Er versteckt sich bestimmt irgendwo«, fügte er hastig hinzu und wich dem Blick des Aurors aus.
»Versteckt sich?« wiederholte Greystone mit unüberhörbarem Zweifel in der Stimme. »Warum sollte er das tun? Und warum ist hier Blut auf seinem Bett?« James öffnete den Mund, schloss ihn wieder, und sein Blick flackerte kurz auf den Gürtel am Boden.
»Das ... das kann ich erklären«, stotterte er, klang dabei alles andere als überzeugend. »Harry ist ... ungeschickt. Er verletzt sich ständig selbst.« Cartwright, die bisher geschwiegen hatte, trat einen Schritt vor.
»Selbstverletzungen, die einen Schädelbruch und innere Blutungen verursachen?«, fragte sie mit messerscharfer Stimme. »Das glauben Sie doch selbst nicht, Mr. Potter.« James' Gesicht wurde rot vor Wut, aber bevor er etwas erwidern konnte, sprach Greystone mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete.
»James Potter, Sie stehen unter Verdacht, Ihren Sohn körperlich misshandelt zu haben. Sie kommen mit uns.«
»Das ist lächerlich!«, rief James, doch seine Stimme war brüchig. »Ich habe nichts getan! Das ist ein ... ein Missverständnis!« Wilkes trat vor und ergriff James am Arm. »Das können Sie vor dem Gamot klären, Sir.« James wehrte sich nicht, doch seine Haltung war angespannt. Während die Auroren ihn nach unten führten, warf Greystone einen letzten Blick in das Zimmer. Das Blut, die Magie, die bedrückende Atmosphäre – alles sprach eine deutliche Sprache – James Potter war schuldig.
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Die späten Nachmittagsstunden brachten eine bedrückende Stille in das Krankenzimmer, in dem Severus unermüdlich an Harrys Seite wachte. Der Junge lag reglos, sein Atem flach und seine Haut so blass, dass sie fast durchsichtig wirkte. Es war ein Bild des Leidens, das Severus nicht aus dem Kopf bekam. Er hatte Sirius und Remus sofort nach der Erlaubnis des Heilers informiert, und obwohl er wusste, dass Sirius sich beeilen würde, fühlte sich jede Minute wie eine Ewigkeit an. Die Tür öffnete sich schließlich mit einem leisen Knarren, und Sirius Black trat ein. Sein übliches selbstbewusstes Auftreten war verschwunden, ersetzt durch eine Mischung aus Eile und Unsicherheit. Er trug einfache Kleidung, und sein Gesicht war bleich, doch seine grauen Augen funkelten vor Besorgnis. Kaum hatte er Harry im Bett liegen sehen, blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Atem stockte, und eine Hand fuhr zitternd durch sein zerzaustes Haar.
»Merlin ...« flüsterte Sirius, seine Stimme brach fast. »Ist das ... ist das wirklich Harry?« Severus nickte knapp, sein Gesichtsausdruck war beherrscht, doch seine dunklen Augen waren voller Anspannung.
»Ja, Black. Das ist Harry. Der Junge, den dein bester Freund fast zugrunde gerichtet hat.« Sirius schien die Worte kaum zu hören, seine Aufmerksamkeit lag vollständig auf dem Kind, das leblos in den Laken lag. Langsam trat er näher und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, auf welchem Severus die letzten Stunden verbracht hatte. Seine Hand streckte sich aus, zögerte jedoch, bevor sie Harrys Hand leicht berührte.
»Ich hätte nie ...«, begann er, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. »Ich wusste, dass James nach Lilys Tod ... dass er sich verändert hat. Aber das? Das ist ... ich kann es nicht glauben.«
»Dann sieh genau hin«, sagte Severus scharf, doch seine Stimme war nicht ohne Mitgefühl. »Das ist die Realität, Black. Dein Patensohn hat gelitten, und niemand hat etwas dagegen getan. Bis jetzt.« Sirius starrte Harry an, sein Blick wanderte über die Verbände, die den dünnen Körper bedeckten, die blauen Flecken, die selbst jetzt noch durch die magischen Heilungen sichtbar waren.
»Er sieht aus wie ein Geist ... so klein ... so verletzlich.« Er ließ seinen Kopf in die Hände sinken, bevor er sich wieder fing und Severus ansah.
»Remus bringt Elias zu den Weasleys. Molly hat sofort zugesagt, ihn ein paar Tage aufzunehmen, damit wir uns um Harry kümmern können. Er kommt so schnell wie möglich.« Severus nickte.
»Gut. Du musst wissen, dass du jetzt die Verantwortung für Harry trägst. Mit James in Gewahrsam bist du derjenige, der entscheiden kann, was mit ihm geschieht.« Sirius hob den Kopf, und eine Mischung aus Entschlossenheit und Schuld lag in seinem Gesicht.
»Ich werde alles tun, um sicherzustellen, dass Harry nie wieder leiden muss. Nie wieder.« Sein Blick wurde weicher, und er flüsterte fast zu sich selbst.
»Er hätte bei uns sein sollen. Remus und ich hätten ihn aufgenommen ... warum hat James das nicht zugelassen?« Severus' Lippen zogen sich zu einer dünnen Linie.
»Weil James Potter in seiner Arroganz dachte, er hätte alles unter Kontrolle. Jetzt sehen wir das Ergebnis.« Sirius nickte schwer.
»Wie steht es um ihn? Gibt es eine Chance, dass er ...«, er brach ab, unfähig, den Satz zu beenden.
»Die Heiler tun ihr Bestes«, antwortete Severus ruhig. »Aber es liegt an Harry. Er muss den Willen haben, zu kämpfen.« Sirius lehnte sich zurück, seine Augen schimmerten feucht.
»Dann werde ich kämpfen. Für ihn. So lange, wie es nötig ist.« Severus, der sonst so oft mit Sirius aneinandergeraten war, nickte langsam.
»Dann kämpfen wir gemeinsam.«
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