01 - Der letzte Tag
Harry James Potter lebte ein Leben in Stille. Eine Stille, welche nicht aus Ruhe oder Frieden bestand, sondern aus Angst und Leere. Das Haus, in dem er lebte, war alt und teilweise baufällig, ein Schatten seiner ehemaligen Pracht. Der Garten war längst überwuchert, das Gras hoch und wild, die Fenster trüb, und die Farbe blätterte von den Fensterrahmen ab. Es war ein trostloser Anblick, wie das Leben darin. James Potter, Harrys Vater, hatte sich nach dem Tod von Lily, seiner Frau, in sich selbst zurückgezogen. Der Mann, der einst für seine Tapferkeit und Entschlossenheit bekannt war, war jetzt nur noch ein Schatten seiner selbst. James war ein leitender Auror im Ministerium, doch seine Arbeit bedeutete ihm längst nicht mehr das, was sie früher einmal tat. Seine Gedanken kreisten um den Schmerz, den Verlust, und der Zorn, der ihn verzehrte, fand immer wieder einen neuen Kanal: Harry. Harry war für ihn der Grund, warum Lily nicht mehr lebte. Warum sie an jenem schicksalhaften Abend gestorben war. Es spielte keine Rolle, dass Harry gerade einmal ein Baby gewesen war. Für James war es Harrys Schuld. Seine Schuld, dass Lily nicht mehr da war, seine Schuld, dass sein eigenes Leben zerbrochen war. Und so zeigte er seinem Sohn keinerlei Liebe, keine Zuneigung, keine Fürsorge. Harry war wie ein Fremder in seinem eigenen Zuhause, oder schlimmer, ein Eindringling, der die Wut und Verachtung seines Vaters jeden Tag zu spüren bekam. Die Tage, die für andere Kinder Freude und Geborgenheit bedeuteten – Weihnachten, Halloween, Geburtstage – waren für Harry Momente purer Angst. An diesen Tagen betrank sich James und wurde gewalttätig. Er verprügelte Harry, schrie ihn an und gab ihm die Schuld für alles. Harry hatte gelernt, sich an diesen Tagen möglichst unsichtbar zu machen. Er wusste, dass es besser war, wenn er so tat, als existiere er nicht. Die Schule war nicht besser. Harry besuchte eine Muggel-Grundschule, und er hatte keine Freunde. Seine Schüchternheit und die unkontrollierten Magieausbrüche machten ihn zu einem Außenseiter. Seine Kleidung war abgetragen, oft zu klein, und die Schuluniform, die er trug, war an den Ellbogen abgenutzt, die Knöpfe lose. Die anderen Kinder mieden ihn, lachten über seine veralteten Sachen und flüsterten hinter seinem Rücken. Harry hörte sie, jedes einzelne Wort. Doch er sagte nie etwas. Was hätte es auch geändert? Es gab jedoch einen Lichtblick in seinem Leben, wenn auch nur einen winzigen. Ms. Stuart, seine Lehrerin, schien als Einzige zu merken, wie schlecht es Harry ging. Sie schenkte ihm ab und zu Bücher, Malstifte und kleine Notizblöcke. Manchmal brachte sie ihm auch ein Butterbrot oder etwas Obst mit. Es war nie viel, aber für Harry bedeuteten diese kleinen Gesten alles. Sie gaben ihm das Gefühl, dass er nicht völlig unsichtbar war. Ms. Stuart sah ihn. Und jetzt war dieser letzte Tag gekommen. Der letzte Tag vor den Sommerferien, der letzte Tag, bevor Harry die Schule verließ, um in eine Welt zu gehen, von der er kaum etwas wusste. Hogwarts. Hogwarts war seine einzige Hoffnung. Seit er den Brief erhalten hatte, wusste er, dass sein Leben sich verändern würde. Er würde wegkommen von James, weg von all dem Schmerz und der Einsamkeit. Hogwarts war ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Vielleicht, nur vielleicht, würde dort jemand sein, der ihn mochte. Jemand, der ihm helfen könnte.
Der Regen prasselte gegen die Fenster, als Harry erwachte. Es war ein dumpfes Geräusch, das ihn daran erinnerte, dass heute der letzte Tag an seiner Grundschule war. Er lag einen Moment lang still da, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und lauschte dem stetigen Trommeln des Regens. Sein Zimmer war klein und karg, nur ein Bett, ein alter Schreibtisch und ein Kleiderschrank, dessen Tür schief hing. Die Tapete löste sich an einigen Stellen, und die Luft war kalt und feucht. Harry zog sich die Decke etwas fester um die Schultern. Er hatte nicht viel geschlafen, seine Gedanken waren in der Nacht immer wieder zu Hogwarts und zu dem Leben abgeschweift, das dort auf ihn wartete. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, doch gleichzeitig war da auch die Angst. Was, wenn es dort genauso sein würde wie hier? Was, wenn er auch in Hogwarts ein Außenseiter wäre? Diese Fragen nagten an ihm, doch er versuchte, sie beiseitezuschieben. Alles war besser als das Leben, das er jetzt führte. Langsam schob er die Decke beiseite und setzte sich auf. Es war noch früh, viel zu früh für einen normalen Schultag, aber Harry wollte sich so unauffällig wie möglich fertig machen und das Haus verlassen, bevor James aufwachte. Wenn er Glück hatte, würde sein Vater erst nach ihm aufstehen und ihn nicht bemerken. Der Gedanke, mit ihm sprechen zu müssen, jagte ihm eine tiefe Angst ein. Wenn James schlechte Laune hatte, war es besser, ihm aus dem Weg zu gehen. Leise stand Harry auf und schlich zu dem alten Schrank. Er öffnete ihn vorsichtig, damit die schiefe Tür nicht knarrte, und zog seine Schuluniform heraus. Wie immer war sie zu klein. Die Hose reichte ihm kaum bis zu den Knöcheln, und die Ärmel des Hemdes waren abgewetzt und zogen sich viel zu kurz über seine Handgelenke. Dennoch war es das Beste, was er hatte. Bevor er sich anzog, ging er zum Schreibtisch, wo ein kleines, farbenfrohes Bild lag. Es war ein Bild, das er für Ms. Stuart gemalt hatte. Ein einfaches Bild mit Bäumen, einem Regenbogen und ein paar Blumen. Er war kein begnadeter Künstler, aber er hatte sich Mühe gegeben. Es war sein Abschiedsgeschenk für sie, ein kleines Dankeschön für all das, was sie für ihn getan hatte. Er hoffte, dass es ihr gefiel. Er faltete das Bild sorgfältig zusammen und legte es in seine Tasche, die schon auf dem Boden neben seinem Bett stand. Dann zog er seine viel zu kleine Uniform an, schlüpfte in seine abgenutzten Schuhe und nahm seine Tasche auf. Bevor er das Zimmer verließ, warf er noch einen Blick auf das Fenster. Der Regen hatte nicht nachgelassen. Dicke Tropfen rannen die Scheiben hinunter, und draußen hing eine dichte, graue Wolkendecke über dem Himmel. Es würde ein langer, nasser Weg zur Schule werden. Doch das war nichts Neues. Jeden Tag ging er die drei Meilen zur Schule, egal, wie das Wetter war. Es gab niemanden, der ihn brachte. James kümmerte sich nicht darum, und Harry war es gewohnt, allein zu sein. Er öffnete die Zimmertür so leise wie möglich und schlich den Flur hinunter. Das Haus war still, und Harry konnte hören, wie James im Schlafzimmer nebenan tief schlief. Sein Schnarchen hallte durch die Wände. Leise trat Harry auf die knarrende Treppe, immer darauf bedacht, keine Geräusche zu machen. Jeder Schritt fühlte sich wie ein Balanceakt an. Am Ende der Treppe hielt er kurz inne, um zu lauschen. Keine Veränderung. Er atmete leise aus und schlich weiter in die Küche. Die Wände waren kalt und kahl, die Fliesen rissig. Harry öffnete den Kühlschrank. Fast leer. Ein paar Scheiben Brot, ein Glas Marmelade und ein kleines Stück Käse waren alles, was er fand. Er schnappte sich das Brot, legte es in seine Tasche und schloss die Tür wieder. Mit einem letzten Blick auf das unordentliche Wohnzimmer zog er die Haustür leise hinter sich zu und trat in den Regen hinaus. Die kühle Luft schlug ihm entgegen, und sofort fühlte er, wie seine Kleidung am Körper klebte. Doch das störte ihn nicht. Er war es gewohnt, durch den Regen zu laufen. Er zog die Kapuze seines alten, zu kurzen Mantels über den Kopf, nahm die Tasche fest in die Hand und machte sich auf den Weg. Es war noch früh, die Straßen waren leer. Der Regen prasselte auf den Asphalt, und das einzige Geräusch war das leise Plätschern seiner Schritte auf dem nassen Boden. Harry hielt den Kopf gesenkt und ging schneller. Der Regen fühlte sich schwer auf seinen Schultern an, doch das war ihm egal. Heute war der letzte Tag.
Als er die Schule erreichte, war das Gebäude noch still und verlassen. Der Regen hatte seine Uniform durchnässt, aber er ignorierte den unangenehmen Stoff, der an seiner Haut klebte. Der vertraute, leicht muffige Geruch der Klassenzimmer empfing ihn, als er durch den Flur ging, seine Schritte hallten leise auf den Steinfliesen wider. Er war immer der Erste. Kein Kind mochte so früh in der Schule sein, doch für Harry war es der einzige Ort, an dem er sich, wenn auch nur minimal, sicherer fühlte. Zumindest für ein paar Stunden. Er schob die schwere Tür zum Klassenzimmer auf und trat ein. Der Raum war hell, die Tische ordentlich in Reihen aufgestellt, die Stühle darunter geschoben. Er ging zu seinem gewohnten Platz in der hinteren Ecke des Raumes und setzte sich leise. Die Geräusche des Regens prasselten weiterhin gegen die Fenster, ein rhythmisches, beruhigendes Rauschen. Harry zog seine nasse Tasche vom Rücken und legte sie neben seinen Stuhl, dann nahm er das Bild heraus, das er für Ms. Stuart gemalt hatte. Vorsichtig strich er mit den Fingern über das Papier, um sicherzustellen, dass es nicht zerknickt war. Er hoffte, sie würde sich darüber freuen. Nach und nach füllte sich das Klassenzimmer mit den anderen Kindern. Zunächst hörte Harry nur das Rauschen von Gesprächen und Gelächter, dann das allmähliche Quietschen von Stühlen, die über den Boden geschoben wurden. Harry sah stumm aus dem Fenster, als der erste Junge hereinkam und mit einem abfälligen Blick seine Sachen vom Tisch stieß. Sein Federhalter und das Heft fielen klappernd auf den Boden.
»Pass doch auf, Potter«, murmelte der Junge und lachte leise. Harry sagte nichts, bückte sich stumm und hob seine Sachen wieder auf. Er hatte längst gelernt, dass es keinen Sinn hatte, etwas zu erwidern. Wenn er sich verteidigte, wurde es nur schlimmer. Die anderen Kinder mieden ihn nicht nur, sie verspotteten ihn auch, wegen seiner abgetragenen Kleidung, seiner Schüchternheit, und weil er so anders war. Die unkontrollierten Magieausbrüche, die hin und wieder passierten, verstärkten das nur. Einmal hatte er versehentlich die Kreide explodieren lassen, und seitdem gingen die Gerüchte über ihn um. Er war seltsam, sagten sie. Er passte nicht hierher. Harry hob die Stifte wieder auf und legte sie zurück auf den Tisch, bevor er sich leise auf seinen Stuhl setzte. Bald füllte sich das Klassenzimmer, und die Geräusche der anderen Kinder wurden lauter. Jemand schob seinen Stuhl ein Stück weiter, ein anderer schubste seine Tasche auf den Boden, und wieder sammelte Harry alles ohne ein Wort auf. Es war wie immer. Plötzlich ertönte das leise Klingeln der Schulglocke, und mit einem sanften Lächeln betrat Ms. Stuart das Klassenzimmer. Sie trug ein leicht verknittertes Kleid, ihre braunen Haare waren zu einem lockeren Knoten aufgesteckt. Ihr Lächeln wärmte den Raum sofort auf.
»Guten Morgen, Kinder«, begrüßte sie die Klasse mit ihrer gewohnt freundlichen Stimme. »Ich hoffe, ihr seid bereit für den letzten Tag vor den Ferien. Das Wetter passt ja leider gar nicht zum Sommer, aber wir lassen uns davon nicht die Laune verderben, oder?« Die Kinder murrten und lachten, einige warfen genervte Blicke zum Fenster, wo der Regen noch immer gegen die Scheiben schlug. Ms. Stuart begann mit dem Unterricht, indem sie die wichtigsten Themen des vergangenen Jahres wiederholte. Es war kein besonders aufregender Stoff, aber Harry konzentrierte sich darauf, so unsichtbar wie möglich zu bleiben, während die anderen Kinder lauthals auf ihre Ferienpläne zu sprechen kamen. Als die Mittagszeit näher rückte, klingelte es erneut, und die Kinder stürmten aus dem Klassenzimmer, um in die Mensa zu gehen. Harry blieb jedoch sitzen, seine Finger um das Bild geklammert, das er die ganze Zeit über beschützt hatte. Jetzt war der richtige Moment. Langsam stand er auf und ging zum Lehrerpult, wo Ms. Stuart noch damit beschäftigt war, ihre Bücher und Papiere zu ordnen. Sie sah auf, als Harry sich ihr näherte, und lächelte ihn freundlich an.
»Harry«, sagte sie warm. »Brauchst du etwas?« Harry zuckte nur mit den Schultern, vermied ihren Blick und zog das gefaltete Bild aus seiner Tasche.
»Das ... das ist für Sie«, sagte er leise und hielt es ihr entgegen. Ms. Stuart nahm das Bild mit sanfter Hand und faltete es vorsichtig auf. Als sie die schlichten, aber liebevoll gemalten Bäume und Blumen sah, weitete sich ihr Lächeln.
»Oh, Harry, das ist wunderschön. Vielen Dank.« Sie hielt das Bild hoch und bewunderte es einen Moment, bevor sie es vorsichtig beiseitelegte. »Ich werde es mir in meinem Büro aufhängen.« Harry nickte nur stumm und trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Ich werde dich sehr vermissen«, fuhr sie fort, und in ihrer Stimme lag ein Hauch von Traurigkeit. »Aber das Internat ist auch eine große Chance für dich. Ich denke, dass es dir dort vielleicht besser gehen wird.« Harry wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er starrte auf den Boden, spürte die Wärme, die von Ms. Stuarts Worten ausging, aber gleichzeitig auch das Gewicht der Unsicherheit. Er hatte keine Ahnung, wie sein Leben in Hogwarts sein würde. Nur, dass es anders werden musste. Besser. Plötzlich, und ohne zu wissen, warum, spürte Harry, wie seine Augen brannten. Er blinzelte hastig, doch bevor er es verhindern konnte, liefen ihm Tränen über die Wangen. Er versuchte, sie wegzuwischen, doch es waren zu viele, und sie kamen zu schnell. Ms. Stuart, die seine Tränen sah, stand sofort auf und ging um den Tisch herum. Behutsam legte sie ihre Arme um Harry, zog ihn in eine sanfte Umarmung.
»Oh, Harry ...«, flüsterte sie leise. »Es ist in Ordnung.« Harry war wie erstarrt. Die Umarmung fühlte sich so fremd an, so ungewohnt. Wann hatte ihn das letzte Mal jemand umarmt? Hatte ihn überhaupt jemals jemand umarmt? Seine Kehle zog sich zusammen, und ohne es zu wollen, begann er zu schluchzen. Leise, zitternd, fast als würde er sich dafür schämen, ließ er den angestauten Schmerz, die Einsamkeit und die Angst heraus. Ms. Stuart hielt ihn nur fest und sagte nichts. Sie strich ihm sanft über den Rücken, ließ ihn weinen, bis seine Tränen nachließen und sein Schluchzen verstummte.
»Hast du etwas zu essen mitgebracht, Harry?«, fragte sie schließlich, als sie sich von ihm löste und ihm sanft über die Schultern strich. Harry nickte und zog das trockene Stück Brot aus seiner Tasche. Er legte es schweigend auf den Tisch. Ms. Stuart sah das Brot an und lächelte gequält.
»Hier«, sagte sie schließlich und zog einen Fünf-Pfund-Schein aus ihrer Tasche. Sie hielt ihn Harry entgegen. »Nimm das. Es ist für die Mensa. Kauf dir etwas Richtiges zum Essen.« Harry schüttelte hastig den Kopf.
»Ich kann das nicht nehmen.«
»Doch, Harry, bitte. Es ist mein Geschenk für dich«, sagte sie sanft. »Für all die Male, die du mich mit deinem Lächeln aufgemuntert hast, auch wenn du selbst wenig Grund zum Lächeln hattest.« Harry starrte den Schein einen Moment lang an, bevor er ihn zögernd nahm.
»Danke«, flüsterte er. Ms. Stuart nickte und lächelte wieder, aber diesmal lag etwas Trauriges in ihren Augen. »Geh jetzt und hol dir etwas Warmes zu essen, ja?« Harry nickte stumm, steckte den Schein in seine Tasche und machte sich auf den Weg zur Mensa. Als er ging, drehte er sich noch einmal kurz um. Ms. Stuart stand noch immer am Lehrerpult und sah ihm nach, ein nachdenklicher Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie wünschte sich, sie könnte mehr für ihn tun. Eine warme Mahlzeit war nicht genug, um all das zu heilen, was in Harrys Leben zerbrochen war. Aber es war alles, was sie ihm im Moment geben konnte.
Der Nachmittag verging zäh wie Honig. Die Minuten schienen sich zu dehnen, während die Kinder ungeduldig auf den Moment warteten, an dem sie endlich in die Freiheit entlassen wurden. Für Harry war es anders. Während seine Klassenkameraden unruhig auf den Stühlen wippten und die Zeit bis zu den Sommerferien kaum erwarten konnten, saß er still da, die Hände im Schoß gefaltet, und starrte nachdenklich aus dem Fenster. Der Regen hatte den ganzen Tag über nicht aufgehört, und die grauen Wolken ließen das Gefühl von Unbehagen und Trostlosigkeit in ihm wachsen. Acht Wochen Ferien bedeuteten für Harry acht Wochen allein, acht Wochen voller Stille und Einsamkeit in einem Haus, das sich nie wie ein Zuhause anfühlte. Ms. Stuart stand vor der Klasse, ihre Stimme noch immer sanft und geduldig, als sie die Kinder zum letzten Mal vor den Ferien verabschiedete. Einige der Schüler waren bereits aufgesprungen, packten hastig ihre Sachen zusammen und redeten aufgeregt über die bevorstehenden Wochen. Urlaubspläne wurden ausgetauscht, Ausflüge ans Meer oder ins Ausland – Dinge, die für Harry unerreichbar schienen.
»Denkt daran, eure Bücher zurückzubringen, wenn wir uns nach den Ferien wiedersehen«, erinnerte Ms. Stuart die Klasse und versuchte, ihre Worte in dem allgemeinen Lärm Gehör zu verschaffen. Schließlich gab sie auf und lächelte sanft, während sie zusah, wie die Kinder einer nach dem anderen aus dem Klassenzimmer eilten. Harry blieb sitzen, bis die meisten Kinder gegangen waren. Erst dann stand er langsam auf, schulterte seine Tasche und trat unsicher zum Lehrerpult, wo Ms. Stuart ihn bereits erwartete.
»Es ist soweit«, sagte sie sanft und sah ihn mit einem wehmütigen Lächeln an. »Ich kann es kaum glauben, dass du jetzt in die große Welt hinausziehst, Harry.« Harry nickte nur und schaute auf den Boden. Der Gedanke, Ms. Stuart nie wiederzusehen, ließ seine Brust schwer werden. Sie war der einzige Mensch gewesen, der ihn in der Schule wirklich gesehen hatte – der einzige, der sich um ihn gesorgt hatte.
»Wirst du mich vermissen?«, fragte sie sanft, und in ihrer Stimme lag eine unausgesprochene Traurigkeit. Harry wollte ihr antworten, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Er nickte nur, und Ms. Stuart schien die Bedeutung seiner stummen Geste zu verstehen.
»Ich dich auch«, flüsterte sie und beugte sich zu ihm hinunter, um ihn noch einmal in ihre Arme zu schließen. Für Harry fühlte sich die Umarmung warm und sicher an, und für einen kurzen Moment erlaubte er sich, sich in diesem Gefühl zu verlieren. Als sie sich voneinander lösten, sah Ms. Stuart ihm in die Augen und fragte vorsichtig: »Harry, holt dich dein Vater heute ab? Es regnet immer noch in Strömen.« Harry schüttelte leicht den Kopf.
»Er arbeitet noch. Aber ... das ist okay.« Ms. Stuart sah ihn mitfühlend an. Sie wusste es besser, aber sie zwang sich, zu lächeln und ihm keine unangenehmen Fragen zu stellen.
»Pass auf dich auf, ja? Und ... denk daran, du kannst mich jederzeit besuchen, wenn du möchtest.« Harry nickte und drückte seine Tasche fester an sich.
»Danke, Ms. Stuart«, murmelte er und drehte sich dann um, um schnell aus dem Klassenzimmer zu verschwinden. Er wollte nicht, dass sie seine Angst sah, die ihm plötzlich schwer auf dem Herzen lag. Er wusste, dass sie ihm nicht mehr helfen konnte, als sie es bereits getan hatte. Als er die Schultüren erreichte, prasselte der Regen wie eine Mauer aus Wasser vor ihm nieder. Er zog die Kapuze seines Mantels über den Kopf, obwohl sie kaum Schutz bot, und rannte hinaus in den Sturm. Das Wasser klatschte ihm ins Gesicht, lief in seine Kleidung und machte ihn innerhalb weniger Sekunden komplett durchnässt. Seine Schuhe platschten in den tiefen Pfützen, aber er rannte weiter. Der Regen war für ihn keine Hürde. Er war daran gewöhnt, auf sich gestellt zu sein, sich durchzuschlagen, egal, was kam. Die drei Meilen bis nach Hause fühlten sich länger an als sonst, und als Harry endlich vor dem heruntergekommenen Haus ankam, zitterte er vor Kälte. James war noch nicht da – das Haus war dunkel, und durch die Fenster sah er, dass keine Lichter brannten. Er atmete erleichtert auf. Es war besser, wenn James noch nicht da war. Mit einem leisen Seufzen öffnete Harry die Tür und trat in den dunklen Flur. Seine Kleider tropften auf den Boden, doch er ignorierte das. Schnell schloss er die Tür hinter sich und schlich leise die Treppe hinauf in sein Zimmer. Dort angekommen, stellte er seine nasse Tasche neben das Bett und zog die triefende Uniform aus. Die Kälte kroch ihm in die Glieder, aber er ließ sich einfach auf das Bett fallen und zog die Decke über sich. Ms. Stuart hatte ihm genug zu essen gegeben, sodass er heute keinen Hunger mehr spürte. Seine Gedanken kreisten noch einmal um den Nachmittag, um die Umarmung, die sie ihm geschenkt hatte. Es war ein Gefühl, das er nie vergessen würde – ein Gefühl von Wärme, das ihm zeigte, dass es da draußen vielleicht doch jemanden gab, der sich um ihn sorgte. Nachdem er sich ein wenig aufgewärmt hatte, stand Harry wieder auf und stopfte seine nasse Schuluniform tief in den Schrank. Die abgetragenen Sachen landeten ganz hinten, zusammen mit seinen alten Büchern und Heften. Er wollte sie nicht mehr sehen. Die Schule war vorbei, und nun lagen acht Wochen Ferien vor ihm. Acht Wochen, die er allein verbringen würde. Die Ferien bedeuteten für Harry nicht die Freiheit, die andere Kinder spürten. Keine Ausflüge, keine Abenteuer. Für ihn bedeuteten sie nur eines: Einsamkeit. James würde arbeiten, wie immer, und wenn er zu Hause war, war es besser, ihm aus dem Weg zu gehen. Harry wusste, dass die Wochen, die vor ihm lagen, endlos und trostlos erscheinen würden. Er hatte niemanden, mit dem er reden konnte, keine Freunde, zu denen er gehen konnte.
Und so begann er die ersten Stunden seiner Sommerferien, allein in seinem Zimmer, eingehüllt in die Stille, die sein Leben ausmachte.
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