Kapitel 6: Der Philosoph
Übereinkommen [...] des Internationalen Strafgerichtshofs
Artikel 3
Der Gerichtshof genießt im Hoheitsgebiet jedes Vertragsstaats, die für die Erfüllung seiner Ziele notwendigen Vorrechte und Immunitäten.
Notiz der Eve Winter:
Es sei zu verstehen,
dass der Strafgerichtshof damit
unantastbar gemacht worden ist
— unverletzlich gegen
nahezu alle Mächte unserer Welt.
Das stärkste Organ unserer Welt,
geschützt von 123 Nationen.
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Samstagabends, eineinhalb Wochen später, stand ich vor Der Philosoph.
Ich würde es mögen zu sagen, dass nur meine Neugierde auf die berüchtigte Dozenten-Bar mich hierher gelockt hatten, aber es war genauso sehr meine Einsamkeit gewesen. Es stellte sich heraus, dass es schwerer war ohne alle seine Freunde in eine neue Stadt zu ziehen als ich es antizipiert hatte.
Adrian und Ich redeten wenigstens wieder miteinander, aber er hatte meine Anschuldigung des Ghost Writers nicht ein einziges Mal angesprochen. Es war besser so und es brachte mich sogar dazu, seiner Einladung nachzugehen. Neue Leute kennenlernen.
In hohen schwarzen Lederstiefeln und einem kurzen dunklen Kleid mit langen Ärmeln perfektionierte ich noch ein letztes Mal meinen roten Lippenstift vor dem Eingang.
Ich sah die Gruppe von Studenten unmittelbar an der Bartheke stehen. Kerzenlicht und edle, schwarze Tische umgaben uns. Adrian sah mich auf Anhieb.
„Winter is coming!", rief er.
Ich schmunzelte und umarmte ihn.
„Hi."
Er drückte mich fest. Definitiv hatte er schon einen sitzen.
Danach wandte ich mich an die anderen. Tatsächlich war ich gut darin, neue Kontakte zu knüpfen.
„Hi, ich bin Eve, wie gehts?", sagte ich fröhlich und umarmte einen nach dem anderen. Das Geheimnis lag in den Umarmungen — es überstieg sofort jede Barriere und lockerte die Stimmung.
Ein Mädchen strahlte mich an. Kurzer blonder Bob und braune Augen.
„Bist du die, mit der Professor Colton immer diskutieren soll?"
Womöglich hat meine Umarmung die Barriere etwas zu sehr überstiegen.
Ich sah aus dem Augenwinkel zu Adrian, der aber versucht unschuldig tief aus seinem Long Island Ice Tea trank.
Scheißer konnte seinen Mund nicht halten.
Ich sah wieder nach vorne zu dem Mädchen und lächelte kühl. „Ja, ich schätze, das bin ich."
Sie umarmte mich sofort. „Wie cool.", erwiderte sie und ließ mich etwas perplex vor ihr stehen. Cool? Es schien mehr so, als würden mich alle anderen Studenten in meinem Semester dafür verurteilen.
„Ich bin Clara, ein Semester über dir.", erläutere sie. „Lass mich dir sagen; Hut ab, dass du das machst. In unserem ersten Semester saßen wir alle wie verängstigte Kinder vor ihm."
Sie lachte bei der Erinnerung.
„Sogar noch immer!"
Ich strahlte unmittelbar zurück.
„Wirklich?", fragte ich. „Gerade fühlt es sich noch so an, als würden sich alle anderen für mich fremdschämen."
„Oh bitte", stöhnte sie. „Das ist, weil die neidisch sind." Sie haute sich währenddessen einen blauen Shot weg und schüttelte kurz nach dem bitteren Geschmack angewidert ihren Kopf.
„Nicht jeder kann mit Professor Colton rhetorisch mithalten."
„Dankeschön", schmunzelte ich und es schien, dass sich alle Zwänge von mir lösten, sobald ich realisiert hatte, dass sie die erste Person aus der Universität war, die mir diesbezüglich zusprach.
„Ich kann einfach nicht verstehen, wie ich auf mir rumreiten lassen sollte, ohne etwas dagegen zu sagen.", erzählte ich ihr, „Ich finde es besser mit ihm zu diskutieren, als ihn denken zu lassen, dass ich irgendeine ahnungslose Studentin sei."
„That's the spirit!", ließ sie mich verstehen und hatte währenddessen eine Hand auf meine Schulter gelegt. „Bitte lass uns weiter über unsere Dozenten lästern, nachdem du dir endlich deinen ersten Drink bestellt hast! Was willst du?"
Ich lächelte und in mir kam nach Wochen das erste Mal die Laune hoch zu feiern. Selbst ohne Alkohol fühlte ich mich jetzt schon euphorisch.
„Erst einmal zwei Tequila Shots für uns beide und danach nehme ich einen Mojito.", feuerte ich ihr lachend zurück.
Ich war schon bereit, Augenkontakt zu einem Barkeeper zu suchen, als Clara bereits einen angelockt hatte und keck sagte: „Robin, zwei Teuqila Shots bitte, und wehe ich erwische dich dabei, uns keine Zitronen dazuzugeben! Und noch ein Mojito bitte!"
Er nickte. Die beiden kannten sich schon inniger, beobachtete ich.
Ich sah zu wie die durchsichtige Spirituose in zwei kleine Shotgläser vor uns lief und unmittelbar danach fühlte ich ihn schon angenehm meinen Rachen runterbrennen, kurz gefolgt von dem sauren Saft einer Zitrone.
Währenddessen flüsterte mir Clara ins Ohr: „Ich habe indirekt was mit ihm am laufen."
„Indirekt?", fragte ich schmunzelnd nach, „Wie geht das?" Dabei betrachtete ich den Barkeeper gedankenverloren dabei, wie er meinen Drink zusammenstellte, ehe er mich ansah und ich wieder interessiert zu Clara sah.
Sie tippte an ihre Schläfe.
„Jetzt geht noch alles hier ab, aber bald ganz woanders.", grinste sie. Also hatte ich Recht. Sobald ich meinen Drink hatte, lächelte ich in ihn hinein. Meine Menschenkenntnis hatte mich nicht getäuscht.
Wir kamen dazu an einem hohen Tisch auf Barhockern zu sitzen, an dem ich noch durch das Fenster hindurch das rege Nachtleben auf der Straße erkennen konnte. Die Lichter der Stadt funkelten. Clara schlürfte währenddessen an einem Caipirinha.
„Also wie ist es dazu gekommen, dass Professor Colton es auf dich abgesehen hat?", fragte sie und das Interesse, begleitet von einem Stück Mitleid, funkelte in ihren braunen Augen. Ich sah von meinem Drink zum Fenster, während ich an meiner Armbanduhr hin und herschob. Mein Tick.
„Ich bin zu spät zur ersten Vorlesung gekommen." Ich schüttelte lachend meinen Kopf und ließ ihn danach schwermütig in meine Hände fallen. „Und ich hatte mich zuvor auf die Stelle seiner wissenschaftlichen Assistentin beworben. Vielleicht sollte ich mich mittlerweile glücklich schätzen, dass daraus nichts geworden ist."
„Was?", fragte sie überrascht und verschluckte sich an ihrem Getränk, woraufhin sie sich duzend Mal räuspern musste, bevor sie weiterreden konnte. „Warum? Das ist viel zu viel für's erste Semester."
Ich zuckte mit meinen Schultern. Ich fand es schwierig, das Leuten zu erklären, die nicht das gleiche machten.
„Es ist das oder Nachtschichten in einer Bar, also dachte ich ein Job an der Uni wäre perfekt."
Ich lächelte und zwinkerte. „Und ich bin vielleicht etwas ehrgeizig. Ich liebe alles, was ich mir als besondere Qualifikation auf meinen Lebenslauf schreiben kann."
„Wirklich?", fragte sie. „Du solltest beim Moot Court mitmachen."
Ich sah sie einen Moment lang an.
Der Moot Court war eine simulierte Gerichtsverhandlung. Dabei wird Studenten ein fiktiver oder realer Fall zugeteilt, indem sie eine der Prozessparteien vertreten müssen. Die Siegermethode lag darin, die Richter und Jury nicht nur von den juristischen Argumenten, sondern auch von sich selbst zu überzeugen.
„Adrian hat mir über dich erzählt, weißt du.", sagte sie. Meine Ohren spitzten sich und aufmerksam flog mein Blick vom Fenster wieder zu ihr. Ich war misstrauischer um ihn herum geworden, realisierte ich nun. Das Gerede von zwei Gesichter haben hatte eine ganz neue Bedeutung für mich.
„Er sagte, du seist vermutlich die intelligenteste Person, die er jemals kennengelernt hat."
Ich stockte und trank gedankenverloren von meinem Mojito.
„Du solltest es wirklich ausprobieren. Es mag zuerst etwas unkonventionell sein, dass du als Erstsemester antrittst, aber es ist deine Chance nach ganz oben."
„Wie meinst du das?", fragte ich interessiert.
Sie lehnte sich vor. „Der Gewinner oder die Gewinnerin wird zu einem Bewerbungsgespräch in Oxford eingeladen." Sie betrachtete ihre Maniküre und zog sich währenddessen ihre IQOS E-Zigarette raus.
„Abfuckende Mitstreiter, die du fertigmachen kannst, und eine goldene Karte nach Oxford — was willst du mehr?" Sie wackelte mit ihren Augenbrauen. „Na?"
Ich schmunzelte. Eine bemerkenswerte juristische Erfahrung und viel mehr, eine Chance die Leiter hochzuklettern. Eine Chance auf Oxford, eine der Top 5 Elite Universitäten für Recht weltweit mit einer Akzeptanzsrate von unter 5%.
„Wie funktioniert das genau mit Oxford?", fragte ich und stützte mein Kinn auf meiner Hand ab.
Clara pustete angestrengt die Luft raus. „So genau weiß ich das nicht. Die Chance auf Oxford gibt es erst seit einem Jahr, meine ich, und bisher hat es niemand von unserer Fakultät so weit geschafft. Du solltest dich bei dem Koordinierungsbüro melden."
„Ja, vielleicht.", sagte ich und lächelte.
Damit war das Thema für mich heute Abend abgeschlossen.
In Wahrheit hätte mir meine Mutter gesagt, dass ich mich zu viel mit der Uni beschäftige. Es dröhnte in meinem Schädel.
Aber ich konnte es nicht einfach nicht tun. Ein Moment frei von Uni und akademischer Arbeit und es fühlte sich an, als würde ich scheitern.
Ich sperrte die Enge, die sich in meiner Brust aufgetan hat, weg.
„Rauchen gehen?", fragte ich euphorisch mit einem Blick auf Claras IQOS und zog mir parallel meine Schachtel raus.
Wir rauchten im Außenbereich, beobachteten die Stadtlichter und ihren Dozenten aus der Uni, der in der Bar Dart spielte. Wir gingen wieder rein, lachten mit den anderen, ich umarmte Adrian nochmal, doch sprach ihn nicht darauf an, was er über mich gesagt hatte und wir beendeten alles mit ein paar Runden Dart.
Das hier war definitiv keine Studentenbar, aber Adrians Truppe machte es lustig genug. Es fühlte sich sogar ein wenig rebellisch an, Dozenten aus der Uni hier zu sehen und zu beobachten.
Aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab, zu einem Mann. Ich erwischte mich sogar dabei, mit meinen Augen nach ihm zwischen den verschiedenen Leuten zu suchen. Ich dachte noch nicht mal explizit darüber nach, sondern es passierte einfach, als hätten die Fasern meines Körpers ein Eigenleben in seiner Präsenz entwickelt.
Das dunkle Interieur, das gedämpfte Licht, die Nacht — es war wie für ihn gemacht.
Ich schwor darauf, sein After Shave gerochen zu haben. Ich hatte seinen Namen aus dem Mund einer anderen Dozentin fallen hören.
Es war als sei er hier.
Ich war mir sicher, als ich ihn hinter mir stehend sah, seine Reflexion im Fenster vor mir.
Doch als ich mich umdrehte, realisierte ich, dass meine Wahrnehmung mich getäuscht hatte.
Letztendlich hatte ich anscheinend zu viel getrunken und diese Unannehmlichkeit beruhte auf einem Spaß, den mir mein Unterbewusstsein spielen wollte. Er war nicht hier. Elijah Colton war heute Nacht ein Funken meiner Imagination und er würde es bleiben. Er hasste mich.
Und ich; ich wusste nicht, wie sehr ich ihn hasste oder wie sehr ich einfach bloß von ihm lernen wollte.
Die Wahrheit war nämlich — und ich würde dies niemals jemandem erzählen — ich wollte ihn als meinen Mentor für den Moot Court.
Ich hasste ihn so sehr, ich konnte ihn nicht vergessen.
Ich hasste ihn für seine Intelligenz, und ich bewunderte ihn gleichermaßen dafür.
Ein letztes Mal, versprach ich mir.
Ein letztes Mal würde ich ihn um etwas bitten.
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