Kapitel 2: Gauloises und Wille
„Im besten Fall
ist der Mensch das edelste aller Tiere,
Getrennt von Recht und Gerechtigkeit ist er das schlimmste."
— Aristoteles
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In der Bar war die Hölle los seitdem das Semester gestartet hatte und alle Erstis das erste Mal ihre volle Freiheit auskosten wollten. Besonders wenn sie dann den Raucherbereich zu kotzten. Ich rümpfte bei dem Gedanken meine Nase.
„Geh kurz eine rauchen, bevor die nächste Erstitruppe reinkommt.", pfiff mir mein junger Chef Robin zu, während er langen Schrittes einen sturzbesoffenen Junggesellenabschied rausschickte, und ich ihm dankbar zulächelte.
Eine Minute später, angelehnt an die Backsteinwand der Bar, stand ich draußen in der kühlen Nacht. Ich hörte Autos, gröllende und lachende Studenten, befreit von allen Sorgen für eine einzige Nacht mit Freunden oder neuen Bekanntschaften.
Während ich den ersten Zug der Zigarette inhalierte, lehnte ich meinen Hinterkopf an die Hauswand und schloss das erste Mal meine Augen für heute Nacht. Die kühle Nachtluft tat mir gut und legte sich angenehm auf meine erhitzten Arme und mein Dekolleté.
Der Rauch entfloh über meine Lippen.
„Eve Winter, hast du ein Feuerzeug für mich?"
Ich kannte diese Stimme. Ich hatte sie schon einmal gehört. Blondie.
Ich schmunzelte, heute etwas besser gelaunt, wenn auch nicht etwas mehr überzeugt von dem Studenten neben mir.
„Adrian Mann, sehr gerne."
Ich öffnete meine Augen und holte mein Feuerzeug aus meiner Jeans, ehe ich meinen Blick das erste Mal auf ihn fielen ließ. Seine blonden Haare waren etwas verwuschelter als am anderen Tag. Er trug ein luftiges hellgraues Sweatshirt von Marc O'Polo und eine lockere schwarze Jeans. Um genauer zu sein, schien er ganz anders als am anderen Tag. Etwas freier. Seine Gruppe von Leuten, mit denen er gekommen war, stand etwas weiter weg und unterhielt sich.
Blondie schien Spaß zu haben. Ich schätze, dass hatte er sonst noch nicht viel in seinem Leben gehabt, außer prätentiös auf irgendeiner Rooftop Party in einer anonymen Großstadt.
Er nahm das Feuerzeug entgegen und zündete sich eine Gauloises an.
„Du rauchst Gauloises?", fragte ich lächelnd.
„Ja, wenn ich feiern gehe. Magst du die?", fragte er unschuldig zurück und lächelte auch noch ganz frei, nicht so listig wie in der Vorlesung.
Dies war ein so entspanntes zwangloses Gespräch, wie ich es schon lange seit Start des Semesters nicht mehr gehabt hatte, und es war auch noch über mein Lieblingsprodukt: Zigaretten.
Ich lachte leise und sah ihn belustigt an. „Ja, schon."
„Hier, nimm eine für später." Er hielt mir die Schachtel hin und mit langen roten Fingernägeln zog ich eine raus.
Ich bedankte mich und studierte ihn währenddessen etwas eingiebiger, insbesondere sein Gesicht. Es war offensichtlich dann. Seine geröteten Wangen. Seine Redeart. Seine Energie. Er war betrunken, und es ließ mich etwas schmunzeln. Wie viel sympathischer er war, wie viel lockerer er schien, als wäre alles andere von ihm abgefallen, sowie sein offensives Verhalten.
Ich lächelte bei dem Gedanken.
„Viel Spaß noch heute Abend, Adrian.", verabschiedete ich mich und ging wieder an die Arbeit.
„Gute Nacht, Eve Winter!", rief er mir fröhlich hinterher.
Seine Freundesgruppe und er gingen an der Bar vorbei und weiter. Ich schüttelte meinen Kopf und schmunzelte ein letztes Mal.
Danach füllte ich einen Shot nach dem anderen, presste Zitronen in Drinks aus und musste hinter der Theke an zwei Stellen gleichzeitig sein. All das raubte mir nachts den Schlaf, während ich am nächsten Mittag in der Uni saß und über die Rechtswissenschaften lernte.
Ich drückte gerade meine Augen fest zu und wieder auf, um gegen die Müdigkeit in meiner Vorlesung 'Constitutional Law of the US' anzukämpfen und betete wieder einmal für einen Job, der keine Nachtschichten beinhaltete, aber trotzdem großzügig bezahlt werden würde. Der einzige Weg den Nachtzuschlag in der Bar wettzumachen, war die Stelle als wissenschaftliche Assistentin zu bekommen. Auch wenn es schwer für mich sein würde, Robin davon zu erzählen, besonders nachdem er bestmöglich, aber hoffnungslos versucht hat, den Schichtplan in der Woche an meinen Uniplan anzugleichen.
Nach der Katastrophe am Montag würde man denken, dass ich keine Chance mehr auf den neuen Job hatte — was auch stimmen konnte – aber ich war niemand, der deswegen aufhörte, dem nachzugehen, was ich haben wollte.
Ich wollte viele Sachen;
Eine Karriere in praktizierendem Recht und Diplomatie, eine edle Schachtel Zigaretten aus Kuba, weinrote Kitten Heels – und außerdem diesen verdammten Job, der eigentlich für höhere Fachsemester vorgesehen war.
Ich hatte meinen Plan todessicher vor meinem inneren Auge liegen.
Nach der Vorlesung stürmte ich so schnell wie möglich in das Studenten WC und stellte mich prüfend vor den Spiegel, um sicherzugehen, dass ich präsentabel und verantwortlich aussah.
Schwarze spitze Heels, schwarze Anzugshose mit weiten Hosenbeinen, schwarzes Rollkragenshirt. Er könnte mich nicht stoppen. Er würde es nicht wagen.
Hoffte ich zumindest.
Mit langen Schritten und geregtem Kinn machte ich mich auf den Weg in das höchste Stockwerk der Universität, während ich mein langes Haar zu einem Dutt zusammenwickelte.
Heute war der Tag, an dem mein Bewerbungsgespräch bei Mr. Colton vorgesehen war. Ich schätzte nicht, dass er nun noch mit mir rechnete oder überhaupt im Haus war und nicht unseren Termin mit einem anderen ersetzt hatte. Wahrscheinlich stand dies noch nicht mal mehr als Termin auf seiner Agenda, aber seitdem ich für meinen Wunschstudiengang angenommen worden war, versuchte ich neuerdings bei jeder Herausforderung davon auszugehen, dass das Glück auf meiner Seite war.
Mein Kiefer mahlte, als ich vor der dunkelbraunen Tür zu Mr. Coltons Büro stand. Dies war ein unfassbarer Korridor der Universität mit dem verschnörkelten Stuck an den Decken und der hohen, ausladenden Fensterfront, von der man unauffällig den Campus betrachten konnte. Doch nicht viele Studenten verloren sich hierher. Schließlich war es der Korridor einzelner Professoren.
Ich knackte meinen Nacken nach links und nach rechts, eine nervöse Eigenschaft, die mir unangenehm war. Ich ließ meine verkrampfte Hand von dem Gurt meiner Ledertasche fallen. Das erste Sonnenlicht seit Tagen kitzelte meinen Nacken durch die Fensterfront.
In mir lebte dieses unangenehme Gefühl, der Moment, wenn das ganze Innenleben still wird und man versucht seinen Körper nicht zu bewegen, um ruhiger zu werden,
doch man dadurch erst sein Herz, dieses ängstliche, wimmernde Organ, nur desto stärker in seiner Brust pochen fühlte. Bis zu dem Moment, wo es einem gefühlt den Hals hochkam und man von Übelkeit entmächtigt wurde.
Ich hasste dieses Gefühl. Ich hasste es, wenn ich so war. Jung und nervös.
Wenn dies passierte, sollte man jedoch nicht umdrehen. Stattdessen empfahl ich es, seinen Körper in einen Fight or Flight Modus zu schicken, ihn kurzerhand zu überraschen, sodass man letztendlich dazu gezwungen war zu funktionieren, einfach zu funktionieren.
Ohne Vorwarnung an mich selbst oder meinen trügerischen Körper klopfte ich an.
Mit einem letzten Schnauben entließ ich die Anspannung.
„Herein." Seine tiefe Stimme war unverwechselbar.
Der kühle Türöffner lag unter meiner Hand.
Ich trat herein und während ich die Tür hinter mir leise ins Schloss fielen ließ, fand mein Blick sofort Professor Colton, wie er über seine Unterlagen gebeugt an seinem weiten Schreibtisch saß.
Das Licht strahlte gegen sein Profil.
Er trug wieder eine Krawatte, selbst wenn er allein war.
Sah er niemals nicht perfekt vorzeigbar aus?
„Guten Tag, Mr. Colton."
Seine Augen schossen auf der Stelle nach oben und verengten sich, als sie bei meinem Gesicht landeten.
Statt einem Lächeln, wie die Male zuvor, schenkte ich ihm ebenso nur einen kalten Blick.
„Ich bin hier für mein Bewerbungsgespräch."
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