Kapitel 16: Geld regiert die Welt
Manchmal frage ich mich, ob ich ein hinterlistiger Mensch bin, aber ich weiß nicht, ob das etwas ist, vor dem man sich überhaupt fürchten sollte. Im deutschen Strafrecht ist eine Handlung hinterlistig, wenn der Täter planmäßig seine Verletzungsabsicht verbirgt. Ich verberge vieles, aber in der Regel nicht, um jemanden zu verletzen. Bloß um zu gewinnen.
– Eve Winters Tagebuch
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Ich hatte meine Lektion gelernt. Es gab kein Argumentieren gegen Professor Colton. Statt mich nach der Vorlesung wieder vor sein Pult zu stellen und mit ihm zu diskutieren, stürmte ich dieses Mal an ihm vorbei. Ich wusste noch nicht einmal, ob er es mitbekam. Ich ignorierte ihn. Genau genommen, ging ich an ihm vorbei ohne ihn anzusehen und mit meiner Hand an Adrians Oberarm. Sanft seinen Bizeps umschließend, leicht streichelnd mit meinem Daumen, zog ich ihn mit mir mit. Ein zartes Lächeln auf meinen Lippen, denn solle Professor Colton doch denken, was er wolle. Er würde es nicht aushalten.
„Warum heute so anhänglich, Winter?", grinste Adrian unwissend zu mir nach unten. Manchmal war er wirklich nur eine hübsche Blondine.
„Oh, kein Grund.", lächelte ich und zuckte mit meinen Schultern.
In meiner einstündigen Pause zwischen der letzten Vorlesung und der nächsten saß ich mit Adrian, Clara und ihren anderen Freunden aus ihrem Semester in der Mensa. Meinen Salat Wrap vor mir komplett vergessen, starrte ich am Tisch zwischen den Menschen hindurch. Das momentane Gespräch drängte nicht zu mir durch. Mittlerweile war es nicht so, dass irgendwelche misslaunigen Kommilitonen Professor Coltons und meine Diskussionen in seinen Vorlesungen rumsprachen, sondern es war kein Geringerer als Adrian. Mit epischer Finesse erzählte er den Anderen am Tisch von dem Vorfall, natürlich mit einigen Hinweisen auf sein eigenes Aussehen, das Professor Colton zum Ansprechen verleitet hätte. Jedermanns Interesse war so intensiviert auf Adrians bunte Details, dass niemand auf mich achtete. Ich war wie ein Geist am Tisch. Und das ließ mir genug Zeit, in Mitten des Trubels in der Mensa, nachzudenken. Mit verengten Augen und einer leicht zusammengezogenen Stirn dachte ich einfach nach, festgefroren in meiner Bewegung. Oder wohl eher festgefroren in meinen Kalkulationen. Ich hatte diesen merkwürdigen, besessenen Tick, dass ich jedes Wort nach einer Diskussion umdrehen musste. Ich konnte einfach nicht aufhören. Es war wie eine obsessive Dauerschleife in meinem Kopf, schon seit Jahren. Ich hatte ihn nun genauestens vor meinem inneren Auge, alles, was er sagte, alle Veränderungen in seiner Mimik, jedes einzelne Detail in seiner Haltung. Ich konnte nicht aufhören. Ich war–
„Eveee!", zwitscherte Clara und wedelte mit ihrer Hand vor meinen leeren Augen hin und her. Mein Blick zuckte zu ihr. „Ja?"
„Alles gut?", fragte sie misstrauisch.
Meine Lippen verzogen sich langsam in ein angespanntes Lächeln. „Ja. Alles gut.", echote ich die Worte nach. Ich zwang meine vorherigen Gedanken für die gegebene Zeit aus meinem Kopf. „Weißt du schon, was du zur Semesterparty anziehst?", fragte ich als Ablenkungsmanöver und nahm schließlich zum ersten Mal meinen Salat Wrap in die Hand.
Die anderen Leute am Tisch waren noch in Adrians Erzählungen vertieft. Clara seufzte glücklich und theatralisch über ihr Lieblingsthema, genauso wie meins. „Silberner Pailletten Minirock. Das ist alles, was ich sagen muss. Ich denke, weißes Tanktop, kurze silberne Boots, Lederjacke. Du?"
Ich lehnte mich in meinen Stuhl zurück und gestikulierte mit meiner Hand. „Meine Idee: Simpel. Kniehohe schwarze Stiefel. Roter Lippenstift. Dann: Kleid." Ich lehnte mich wieder nach vorne und sah ihr tief in die Augen. „Du denkst jetzt: Nicht simpel. Aber, vorne? Komplett geschlossener Stoff, bis oben hin. Schwarz oder dunkelrot. Subtil. Unauffällig. Doch dann zuletzt? Offener Rücken."
Ich nickte vehement auf ihr Schauspiel aus offenem Mund und geschockter Miene. „Ja, genau.", bestätigte ich, „Hinten: Wasserfallausschnitt."
„Nein.", erwiderte sie gespielt ungläubig. Ich verriet ihr mit einem lächelnden Zwinkern: „Doch.", bevor ich einen Schluck von meinem Getränk nahm.
„Über die Semesterparty am Reden?", fragte Claras Kumpel Matteo, und neben ihm, Yusuf, lehnte seinen Kopf auch näher zu uns.
„Natürlich.", unterstrich Clara und gestikulierte wild mit dem Löffel, der gerade noch in ihrem Milchreis gesteckt hatte. „Es ist ja nicht so, als wäre es die Wiederholung einer der besten und ereignisreichsten Partys, die ich in meinem ersten Semester hatte!"
„Auf jeden.", nickte Matteo zustimmend und wandte sich schließlich zu Adrian und mir: „Ihr seid nicht bereit. Auf jeder Semesterparty stehen und fallen die Freundschaften."
„Und die Liebschaften.", trällerte Clara überglücklich.
Yusuf, der zwischen den beiden saß, drängte beide an den Schultern zur Seite und verkündete: „Obwohl wir dieses Semester gefickt werden. Parallel zu der Party finden die Lehrkonferenzen statt. Das heißt, während unsere Dozenten über die Prüfungsordnung diskutieren, werden sich 500 Rechtstudenten zwanzig Meter weiter das Hirn wegsaufen."
„Und wie wurde das erlaubt? Zwanzig Meter weiter?", hinterfragte ich skeptisch die Tradition mit überkreuzten Armen.
Clara leckte genüsslich den Löffel ab. „Es muss erlaubt werden. Die juristische Semesterparty findet traditionell in den Fachschaftsgebäuden auf dem Campus statt. Nur dieses Mal haben die ihre Konferenz auch auf den Abend gelegt. Würde der Dekan die Party plötzlich in einem Semester verbieten... Nein, das geht einfach nicht." Sie lehnte sich zu mir rüber und schnappte sich auch ein paar Schlücke von meinem Getränk. „Die Fachschaftsgebäude gehören uns; die sind praktisch dafür da. Außerdem wird die Party finanziell gefördert."
Sie nahm ein paar große Schlücke, wobei ich ihr mit gehobener Augenbraue zusah.
Ich schnaubte belustigt. „Die Party wird finanziell gefördert? Als ob. Von wem?"
Matteo fing meine Aufmerksamkeit und erklärte: „Natürlich nicht von der Uni oder irgendwelchen Verbänden. Clara meint damit, dass gewisse Studenten in Vorkasse gehen. Richtig in Vorkasse. Tausende von Euros, meine ich."
Clara strahlte: „Du weißt schon, Geld regiert die Welt. Und die Studenten mit dem meisten Geld gehen in die Vorkasse."
Ich sah sie nur still an. Das Einzige, was sich an mir bewegte, waren meine Augenlider. Kurz gefasst, befand ich mich in einem Kult.
„Ich liebe die.", beteuerte Clara mir anhimmelnd.
Adrian kreiste grinsend seine Schulterblätter nach hinten, Clara riet mir, nicht wie die anderen Juristen auf der Party Koks zu nehmen, und Matteo und Yusuf diskutierten, in wie weit die gewählte Musikanlage zu einem Ausfall des universitären Stromnetzes führen könnte.
Was auch immer sollte schief laufen?
„Also... diese Semesterparty. Es ist noch nie etwas schief gelaufen?", fragte ich mit gehobener Augenbraue und lehnte mich auf meinen Ellenbogen vor, während ich in die Runde sah.
Matteo, Yusuf und Clara lachten mir ins Gesicht.
Ich drehte mich fragend zu Adrian.
„Sogar ich habe davon gehört, Winter.", lachte Adrian.
„Wovon?", fragte ich spitz neugierig nach.
Ich sah wieder zu den Drei vor mir, die versuchten, nicht loszuprusten.
„Die Frage ist nicht, ob noch nie etwas schief gelaufen ist – sondern ob je etwas nicht schief gelaufen ist! Das ist der Spaß!", strahlte Clara.
Matteo erklärte schmunzelnd: „Es gibt ohne Ausnahme jedes Semester eine Katastrophe." Dazu erläuterte Yusuf etwas ernster: „Einmal mussten die vorsitzenden Studierenden der Fachschaft vor den Universitätsausschuss gehen. Anzeige wegen Wasserschaden im fünfstelligen Bereich."
Ich sah leicht angeekelt zwischen ihnen her. „Wasserschaden? Wieso?"
Matteo holte, versuchend ernst zu bleiben, aus: „Pool. Die wollten einen Pool auf der Party haben. Der ist dann" – Er musste anfangen zu lachen, während Yusuf und er sich einschlugen – „explodiert."
Clara legte ihre warme Hand auf meinen Arm. „Siehst du? Es ist wie ich gesagt habe: Die beste und ereignisreichste Party meines ersten Semesters." Dann lehnte sie sich verschwörerisch näher an mein Ohr und ergänzte leise grinsend: „Mit den reichsten Typen der Uni, versteht sich."
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