Kapitel 15: Unkontrollierbares Sehnen
Die Normenhierarchie bezeichnet die Reihenfolge der Gesamtheit aller Rechtsnormen in einem Rechtsstaat. Es gilt die Kollisionsregel Lex superior derogat legi inferiori, nach der eine in der Normenhierarchie höher stehende Norm Geltungsvorrang vor einer niedriger stehenden Norm hat.
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The hierarchy of norms is set, tippte ich auf meinem Macbook ab, but the interpretations of why EU law takes precedence over federal law differ in the legal sources and thus in the justification of legitimacy.
Ein schwerer Atemzug verließ meine Brust und ich sah aus dem Fenster. Es war 7 Uhr morgens am nächsten Tag und ich wollte noch etwas fertig bekommen, bis ich eine Vorlesung nach der anderen haben würde. Ich zog meine Knie an und legte meinen Kopf darauf, während ich weiter die wenigen Studenten beobachtete, die in der morgendlichen Dunkelheit an den Fenstern des Juridicums entlang gingen. Ich weiß nicht, ob es diese Art von Hochstapler Syndrom war, aber das Lernen brachte mich immer wieder dazu, an meinen Fähigkeiten zu zweifeln. Ich schloss kurz meine Augen und schnaubte. Um ein Hochstapler Syndrom nachweisen zu könnten, brauchte ich erstmal die perfekten Noten – und die Klausuren dazu müsste ich erst noch schreiben.
Abgelenkt nahm ich mein Handy in die Hand und entsperrte es, während ich mir auf die Unterlippe biss. Ich hatte meinen Vater am gestrigen Abend angeschrieben und gefragt, ob er schon seinen nächsten Steuerbescheid angefordert hat, damit ich diesen dem Bafög-Amt für das kommende Semester zuschicken konnte. Aber keine Antwort, sah ich in unserem Chat.
Resigniert ließ ich mein Handy wieder in meine Manteltasche gleiten und fokussierte mich auf den Text, den ich noch zu Ende schreiben wollte. Noch eine Stunde, dann würde ich vor Professor Colton sitzen.
***
Ich saß in einer der ersten Reihen um Punkt 8 Uhr – wach, aufmerksam, still. Ich war im Foyer noch kurz in Clara reingerannt und wir hatten für ein paar Minuten über die kommende Semesterparty gequatscht, für die ich ihr dann meine Zusage gegeben hatte. Nun füllte sich hinter mir der Saal, während ich meine Beine überschlug, den Stoff meines Rocks über meine Oberschenkel zog und nur noch meine Haare in einer Klammer hochsteckte. Während ich mit gehobenen Armen noch damit beschäftigt war, meine Haarsträhnen zu befestigen, verfolgten meine Augen aufmerksam Professor Coltons Gang in den Saal. Dunkelblauer Anzug. Schlicht. Perfekt. Hatte er über gestern Abend noch nachgedacht, wie ich es getan hatte, fragte ich mich. Meine Augen verengten sich, während ich ihn weiter studierte und auf meine Unterlippe biss. Hatte er? Noch nachts, als er zuhause war? Ich legte meinen Kopf schief. Das hatte er. Aber was dachte er? Er hatte mich doch angefasst, oder? Frauen redeten sich oft ein, dass sie sich das eingebildet hätten und es nichts bedeutete, aber ich wusste, dass es etwas bedeutete. Denn Männer hatten immer einfach gestrickte Intentionen. Aber er?
„Was geeeht."
Mein Kopf drehte sich schlagartig zur Seite, als sich Adrian neben mich in die Sitzreihe sacken ließ. Er stellte seinen To Go Kaffee ab. „Was machst du?", fragte er neugierig nach und sah dahin, wo ich hingesehen hatte – zu Professor Colton.
Fake Lächeln. Schultern zucken. „Noch etwas verschlafen." Ich stützte mein Kinn auf meiner Hand ab und lenkte gekonnt mit einer Frage ab. „Clara und ich gehen auf die Semesterparty. Du?"
„Boah, ja. Endlich saufen.", seufzte er glücklich. „Ich bin mit den Jungs vortrinken.", erklärte er, „Dann gehen wir rein. Safe wir sehen uns dann."
Mit den Jungs waren die arroganten Typen gemeint, die Adrian bereits vor dem Studienstart gekannt hatte, jene, die ich gar nicht ausstehen konnte. Aber gut, ich glaube, ich besaß gar kein Rederecht mehr, nachdem ich ihn gestern Abend schon wieder versetzt hatte.
„Ja, safe.", wiederholte ich seine Antwort stumpf und drehte mich nach vorne.
Adrian lehnte sich näher zu mir, an mein Ohr, und fragte gedämpft: „Denkst du, er hat so eine Art von obsessiver Störung?"
Mein Körper versteifte sich, während ich weiter nach vorne sah. „Wer?", fragte ich spitz. Ich wusste genau, wer.
„Wer wohl? Professor Colton.", setzte Adrian nach.
Ich zuckte minimal mit meinen Schultern und räusperte mich. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Andererseits kenne ich mich nicht mit irgendwelchen Störungen aus. Ist das überhaupt ein Begriff? Obsessive Störung?" Ich hob skeptisch meine Augenbraue und ließ meinen Blick für ein paar Sekunden wieder zu Adrian springen.
„Findest du nicht, er hat ein Kontroll-Verhalten? Und ich habe ihn noch nie in etwas anderem als einem Anzug gesehen.", argumentierte Adrian enthusiastisch.
„Hmhm.", summte ich leise, während Professor Colton mit der Vorlesung begann und ich mich über meine Aufzeichnungen beugte. Ohne aufzusehen stimmte ich leise zu: „Du hast keine Ahnung, was für ein Kontrollfreak er ist."
***
Die Zeit verging zerrend. Ich dachte, die Vorlesung nahte sich dem Ende, doch als ich auf meine Armbanduhr sah, waren gerade mal zwanzig Minuten vergangen. Angestrengt versuchte ich mitzuschreiben, entgegen der Schwierigkeit der heutigen Thematik Ad-hoc-Strafgerichte wie für Jugoslawien oder Ruanda und die Aufarbeitung am Beispiel des Tribunals für Sierra Leone. Professor Colton sprang zwischen den Erklärungen der historischen Ereignisse und Strafjustiz gekonnt hin und her, doch ich bekam es nicht hin. Ich rieb mir angestrengt über die Augen.
„Hier. Kaffee?" Adrian hielt mir den To Go Becher vor die Nase und ich nahm ihn dankend an. Schon der Geruch der süßen Kaffeemischung ließ mich aufseufzen. Ich setzte an, einen großen Schluck zu nehmen. „Dank– Ah!", zischte ich. Die Flüssigkeit noch immer heiß, tropfte sie mein Kinn herunter. „Fuck, verbrannt.", murmelte ich. Ich versuchte, das brühende Gefühl auf meiner Zunge zu ignorieren, während Adrian anfing zu lachen.
„Warte.", schmunzelte Adrian. Er lehnte sich nah zu mir und strich mit seinem Daumen über mein Kinn, mehrmals. Ich verzog eine angeekelte Miene, als sich meine verbrühte Zunge bemerkbar machte. Während sein Daumen noch immer an meinem Kinn lag, wanderte sein Blick an mir herab und er musste nochmal auflachen, als er den großen Kaffeefleck auf meinem weißen Strickpullover sah. „Oh fuck.", seufzte ich genervt. Adrian versuchte bestenfalls den Fleck wegzuwischen, doch ohne viel Effekt.
„Es möge für den Großteil der vernünftigen Gesellschaft unwahrscheinlich scheinen, dass es noch immer Personen gibt, die denken es sei angemessen, sich in der Öffentlichkeit zu befühlen, doch als Professor darf ich Ihnen resigniert mitteilen, dass sich dieses Spiel jedes Semester wiederholt.", erzählte Professor Colton lautstark. Ich fror ein. Ich konnte mich noch nicht mal nach vorne drehen, um zu gucken, ob Professor Colton seinen Blick auf uns festgenagelt hatte. Ich starrte nur geschockt in Adrians Augen, der wiederum seine Augen verdrehte.
„Mr. Mann, Miss Winter, finden Sie es angemessen, ein Rendezvous in meiner Vorlesung zu veranstalten?", fragte Professor Colton bitterernst und kalt, „Finden Sie es angemessen, Ihr Studium so unseriös zu behandeln?"
Adrian ließ langsam seinen Daumen von meinem Kinn sinken. Ja, du Idiot, warum lag der da bis vor einer Sekunde eigentlich noch? Mit wütendem Blick drehte ich mich zu Professor Colton und starrte ihn zurück an. Ich drückte angespannt heraus: „Nein, und Nein, Professor Colton. Mir ist nur ein Kaffee verschüttet."
„Danach habe ich nicht gefragt, Miss Winter, denn ich will nicht wissen, dass ein verschütteter Kaffee anscheinend solche Anwandlungen bei Ihnen beiden hervorruft." Er betrachtete mich abschätzig.
Als die Mädels hinter mir auf seine Worte anfingen zu kichern, sah ich Rot. Ich würde ihnen ins Gesicht klatschen. Oh ja, unser Professor war ja sooo heiß, besonders wenn er mit Bloßstellungen begann, äffte ich sie in Gedanken nach.
„Dann kann ich Ihnen nichtsdestotrotz versichern, dass etwas derartiges nicht passiert ist.", drückte ich raus, ein Versuch, meine Wut und um ehrlich zu sein, peinliche Berührtheit, zu ignorieren. Schließlich lächelte ich spitz und ergänzte: „Ich denke, auch Sie sollten wissen, dass solch eine Handlung anders aussehen würde."
Vielleicht ja sogar so ähnlich wie gestern Abend in der Privatbibliothek – nur, dass ich das nicht vor dem ganzen Hörsaal sagen konnte. Ich lächelte nur noch mehr, als er nichts erwiderte. Nein, ich grinste sogar schon fast, vorgelehnt auf meinen Ellenbogen.
Bis... bis er das Pult umrundete und mit bedeutungsschweren Blick beteuerte: „Miss Winter, ich bitte Sie, derartig vulgäre und unangebrachte Gedankengänge in meiner Vorlesung zu unterbinden, insbesondere an mich gerichtet. Sie sprechen nicht auf dem Niveau, das diese Universität fordert."
Die Mädels hinter mir flüsterten zustimmend.
Ich... Wie bitte? Mein Mund blieb mir offen stehen, ehrlich gesagt, weil ich es nicht verarbeiten konnte, wie dieser Mann gerade die Situation manipuliert hatte. Ich sollte vulgäre und unangebrachte Gedankengänge mitgeteilt haben? Er hatte die Situation falsch eingeschätzt. Ich hatte mich erklären müssen. Ich ließ mich verblüfft in meinen Stuhl zurückfallen.
Während Professor Colton in seiner traditionellen kalten Art seine Vorlesung fortführte, ohne mich anzusehen, ohne mich zu registrieren, verfolgte ich ihn mit meinen Augen und realisierte: Professor Colton war in seinem eigenen Spiel nicht zu schlagen.
Adrian versucht mit mir zu flüstern, aber ich hatte einen Tunnelblick auf Professor Colton. Ich war entsetzt, als ich ihn beobachtete. Er war beispiellos in dieser Strategie. Unbesiegbar, schien es. Er war einen Schritt voraus, und niemand realisierte es.
Ich drehte mich entgeistert zu Adrian und unterbrach sein Geflüster: „Er ist ein Lügner! Das ganze Gespräch war seine Schuld. Warum realisiert das niemand?"
Adrian kritzelte auf seinem iPad rum. „Realisiert was?"
Ich zog meine Augenbrauen streng zusammen. „Dass er das extra macht. Dass er uns angesprochen hat, weil er wusste, dass er meine Antwort vorführen könnte. Es ist ein Spiel."
Adrian zog faul seine Mundwinkel nach oben und wuschelte durch meine Haare. Kopfschüttelnd erwiderte er: „Das sind Wahnvorstellungen, Winter. Ja, er ist schwierig, aber der hat das nicht extra geplant. Er findet mich einfach nur zu hübsch."
Ich wollte über seinen letzten Satz lachen, aber ich konnte nicht. Ich war noch immer aufgehangen an dem Anfang an seiner Antwort. Adrian realisierte es auch nicht, wie alle anderen. Er glaubte mir nicht. Ich öffnete meinen Mund vorwurfsvoll, um dagegen zu argumentieren, doch stoppte. Denn Adrian realisierte es nicht, wie alle anderen, weil er Professor Colton nicht außerhalb der Vorlesung kannte, wie ich es tat. Sie wussten nicht von den schrecklichen Dingen, die er zu mir gesagt hat. Verwirrender Weise auch nicht von den lobenden Komplimenten. Ich drehte mich wieder nach vorne und starrte. Ich starrte einfach nur. Ich starrte auf ihn. Seine Rückenmuskulatur bewegte sich unter seinem Hemd, als er in großen Buchstaben einen juristischen Begriff an die Tafel schrieb.
War ich wirklich verrückt? Hatte ich wirklich Wahnvorstellungen? Hatte ich alles falsch eingeschätzt? Sein Verhalten heute nach gestern Abend? Ich war so gut in vielen Dingen, weil ich berechnend war. Weil ich wusste, was Menschen wollten. Weil ich wusste, was Menschen brauchten. Es brauchte Zeit, aber ich hatte gelernt, wonach sich Menschen sehnten. Ihr wisst schon, die typischen Dinge. Adrian sehnte sich nach Freiheit und Emanzipation von seiner Familie. Clara, obwohl sie zeigen wollte, dass sie lockeren Spaß haben konnte, sehnte sich nach mehr von Chris. Isabell Kronen aus der ersten Runde des Moot Courts? Eine schlichte, aber gehobene Rolle in hierarchischen Strukturen. Die Mädchen hinter mir? Enge Freundschaft, obwohl sie bereits realisiert hatten, dass ihre Gruppe in den nächsten Wochen auseinander brechen würde.
Aber Professor Colton...
Professor Colton war tatsächlich von Kontrolle und Perfektionismus besessen, Gott, sogar von Domination. Aber Sehnen, wirkliches Sehnen, war mehr als das. Es war etwas, was wir nicht kontrollieren konnten, selbst wenn er sich das wünschte. Es war pure emotionale Willkür. Etwas so tief in uns verankertes, es war unabänderlich.
Er sehnte sich nach Reaktion – meiner Reaktion.
Er wollte, dass ich so reagierte.
Er brauchte es.
Und das war, warum ich mich fragte, ob sein Verhalten gegenüber mir anders als das in allen anderen Aspekten seines Lebens war: unkontrollierbar.
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