Zimtsterne zum Verlieben (2/10)
Die beste Zeit des Jahres begann mit Jubel und einem Champagner-Knall, als sie die Türen am Montag, dem ersten Dezember, pünktlich um sieben Uhr früh öffneten. Die Rentiere an den Fenstern sahen zwar genauso müde wie Vienne aus, aber das machte nichts. Sobald der erste kalte Windstoß und ein Ansturm an neugierigen Leuten in die Bäckerei kamen, war es jede Mühe wert. Die Leute staunten und lachten.
Tannenzweige schmückten die Wände, auf jedem Tisch stand ein kleiner Weihnachtsmann und an der Decke hingen reihenweise funkelnde Lichterketten. In der hinteren Ecke stand ein Fotopunkt mit einem Zuckerstangen-Tor. Dort hing sogar ein Mistelzweig für besondere Momente.
Die Gäste liebten es.
Vienne ebenfalls.
"Du hättest das Gesicht des kleinen Mädchens heute sehen sollen, als sie die Zimtsterne gekostet hat!", schwärmte sie Biana begeistert vor, als sie am Freitag Nachmittag durch die Straßen schlenderten. Die Woche war wunderbar gewesen - aber anstrengend. Vienne war froh, dass sich eine Aushilfskraft direkt am ersten Tag gemeldet hatte. Sie wüsste nicht, was sie ohne Sophia gemacht hätte. Wahrscheinlich wäre der Laden untergegangen.
So hatte sie wenigstens etwas Zeit. Sie würde sie nutzen und im Kindergarten bei den Weihnachtsvorbereitungen helfen, wie jedes Jahr.
"Die Spekulatius-Tannenbäume und Marzipan-Schneeflocken verkaufen sich schneller, als wir nachbacken können. Mir fällt ein Stein vom Herzen, dass es so gut läuft!" Vienne trank einen Schluck von ihrem Kakao und schloss seufzend die Augen. "Passiert das alles wirklich? Ich fühle mich, als wäre ich die Hauptperson in einem grandiosen Film."
Biana lachte und beobachtete die Menschen, die im Vorweihnachtsstress durch die Straßen rannten. "Das ist Realität. Wären wir in einem Film, würde entweder der Weihnachtsmann vom Himmel fallen und du müsstest das Fest retten - was zu viel Stress wäre ..." Beide sahen in den Himmel, doch nichts geschah. "... Oder der perfekte Mr. Traummann würde um die Ecke kommen und dir seine Liebe gestehen - was zu viel Ablenkung wäre."
Beide sahen über die Straßen, doch niemand kam.
Sie lachten. Biana knuffte Vienne in die Seite, weil sie ihre Träumereien zu gut kannte.
"Aber es wäre auch süß", gab Vienne wohlig zu. "Zumindest Letzteres."
Sie liebte Weihnachten von ganzem Herzen. Das Fest könnte nur noch perfekter werden, wenn sie jemanden finden würde, der diese Liebe auf tiefster Ebene mit ihr teilte. Konnte sie Santa einen Wunschzettel schreiben? Noch lieber wäre es ihr, wenn sie den perfekten Mann einfach backen könnte.
Biana verdrehte die Augen. "Das wäre nicht süß, sondern kitschig. Noch kitschiger als dein Laden."
Vienne tippte sich nachdenklich gegen das Kinn. "Vielleicht zaubern die süßen Kekse auch süße Jungs herbei", überlegte sie. "Ich sollte mehr backen."
"Auf keinen Fall. Du solltest mehr raus gehen!"
"Wohin? Sieh dich um, hier laufen keine süßen Jungs herum ..."
Genau in dem Moment fiel Viennes Blick auf die andere Straßenseite. Auch er drehte den Kopf und ihre Blicke trafen sich, als gäbe es eine magnetische Anziehungskraft. Der Straßenlärm wurde leiser. Auch wenn es über die Entfernung physisch unmöglich war, konnte Vienne das Braun seiner Augen sehen. Sie versank förmlich darin, als wäre sie selbst ein Zimtstern in einer Schokoladensoße.
"Oh mein Gott", hauchte sie.
Sie glaubte an Magie, vor allem an Weihnachten. Aber sie hätte nie gedacht, dass wortwörtlich ein Augenblick genügen würde, um diese Magie Wirklichkeit werden zu lassen.
"Was?", fragte Biana irritiert und drehte sich um. Sie folgte Viennes Blick. "Ohhh!" Ein breites Grinsen leuchtete sich auf ihrem Gesicht auf und sie wackelte mit den Augenbrauen. "Du ..."
"Ach sei ruhig", unterbrach Vienne sie schnell und strich ihre hellbraunen Locken aus dem Gesicht.
Biana lehnte sich näher. "Ich glaube, er kommt rüber", wisperte sie, als würde Vienne es nicht selber sehen und sich fragen, warum ihr Herz plötzlich bis zum Hals schlug. Sein kurzes, dunkles Haar schimmerte im Licht der Auto-Scheinwerfer, während er wartete, bis die Straße frei wurde. Anscheinend hatte er beschlossen, die Chance zu ergreifen - und auch Vienne sah eine Chance, die aber von einer plötzlichen Nervosität begleitet wurde. "Was tue ich?"
Biana verdrehte die Augen. "Nichts, außer du selbst zu sein. Und ich ... ah, der Supermarkt! Ich wollte sowieso noch Nudeln kaufen. Wir sehen uns morgen!"
"Biana!", rief sie, doch ihre Freundin war längst verschwunden.
Dafür kam der Fremde bei ihr an. In seinem Lächeln lag eine dezente, fragende Unsicherheit.
Vienne erwiderte das Lächeln und hoffte, dass ihre Wangen nicht so rot waren, wie sie sich anfühlten.
Sofort wurde sein Lächeln selbstsicher. "Hallo. Ich bin David. Du siehst bezaubernd aus, da musste ich einfach rüberkommen. Wie ist dein Name?"
Er hatte eine angenehme, raue Stimme, wie dunkle Schokolade.
"Ich bin Vienne", stellte sie sich vor und versuchte die Schmetterlinge in ihrem Inneren zu beruhigen. Wo kamen die plötzlich her?
"Sehr schön, Vienne. Darf ich dich auf einen Kaffee einladen und kennenlernen?"
Vienne musste sich zusammenreißen, um nicht wie ein Honigkuchenpferd zu grinsen. Sie hatte auf die beste Zeit des Jahres gehofft. Von einer knisternden Magie umgeben, die die Winterluft wie einen Sommer scheinen ließ, war sie sich plötzlich sicher, dass ihr Wunsch wahr werden konnte. "Sehr gerne", stimmte sie zu.
David bot ihr einen Arm an. Vienne hackte sich zaghaft ein.
"Hast du eine Lieblings-Cafeteria, wo du gerne hingehen möchtest?"
"Es gibt eine wunderbare Bäckerei, die ich liebe", schlug sie ohne Nachzudenken vor.
David nickte. "Dann lass uns dorthin gehen."
Sie liegen los. Anfangs gab es eine seltsame Stille. Vienne kaute auf ihrer Lippe, doch sie hatte alle Gesprächsanfänge vergessen. Glücklicherweise schien David entspannter. Sie überquerten die Straße und kamen am Gymnasium vorbei.
"Da arbeite ich", meinte er.
Damit war das Eis gebrochen und sie begannen zu erzählen. David war zwei Jahre älter als sie und unterrichtete Deutsch und Biologie am Gymnasium. Als sie das hörte, musste Vienne lachen, weil sie - bevor sie die Bäckerei geöffnet hatte - ein Semester Medizin versucht hatte. Das war allerdings nicht ihr Weg gewesen, sodass sie abgebrochen und sich ein Jahr ehrenamtlich in der Stadt engagiert hatte, bevor sie mit Hilfe von mehreren Aushilfe-Jobs das Startkapital für ihre eigene Bäckerei zusammengespart hatte.
Gerade, als Vienne bei diesem Teil der Geschichte ankam, erreichten sie das Stadtzentrum. Statt es zu erzählen, konnte sie David gleich ihren Lebenstraum zeigen. Sie fühlte sich beflügelt. Ihr glückliches Herz pochte so laut, dass er es hören musste, doch er schenkte ihr nur gelegentlich ein Lächeln, welches ihr Herz noch lauter klopfen ließ.
Noch ein bisschen, und es würde aus ihrer Brust springen, um die ganze Welt zu umarmen.
"Hier ist die Bäckerei", meinte sie, als sie vor dem Geschäft stoppten, und strahlte mit der Beleuchtung um die Wette.
David hatte nicht besonders auf den Weg geachtet. Das wusste sie, weil sie ihn verstohlen im Augenwinkel beobachtet hatte. Nun blickte er zum bunt geschmückten Weihnachtswunderland auf. Sein Lächeln verrutschte. "Die Bäckerei?"
Viennes Lächeln verrutschte ebenfalls. "Stimmt etwas nicht?"
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. "Ich hasse Weihnachten."
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