)Im Visier(
Stolz und mit selbstbewusst gehobenem Kopf steht Toro vor uns. Ich rieche sein kräftiges Aftershave. Es durchdringt meine Nase, den Rachen, langsam, aber sicher, jede einzelne Pore. Ich schwanke leicht, habe das Gefühl, von dem Geruch bewusstlos zu werden.
»Schön, dass ihr auch schon kommt! Wir sind fast fertig mit Essen. Wenn ich anwesend bin, erwarte ich Disziplin und Pünktlichkeit - auch und vor allem von dir, Sadako!«, hallt seine Stimme durch die unter Spannung stehende Luft.
Besorgt wechseln Yamo und ich einen Blick. Das kann ja heiter werden...
»'Tschuldigung, wir waren mit den Hun...«
»Schweig! Habe ich dich zum Sprechen aufgefordert, Sadako? Ich glaube nicht!«, herrscht er mich an.
Ich zucke ungewollt unter seinen Worten zusammen, doch seine Härte verpasst meinem Herzen einige Kratzer, die so schnell nicht zu bluten aufhören werden. Mit gesenktem Kopf und allen Blickkontakten ausweichend schleiche ich Yamo hinterher zu den letzten freien Plätzen. Natürlich befinden diese sich direkt neben den Zwillingen - wie sollte es auch anders sein? Der eine - wahrscheinlich Exterminio - lächelt mir aufmunternd zu und ich glaube, ihn ganz leise »Nimm es dir nicht so zu Herzen« flüstern zu hören. Ich erwidere das Lächeln matt.
Das restliche Essen verläuft recht ruhig. Toro wirft mir noch einige zerknirschte Blicke zu, die ich aber zu ignorieren weiß. Nun, nachdem sein launischer Ärger verflogen ist, scheinen ihm die gesagten Worte und der Wutausbruch leid zu tun. Obwohl ich noch immer unheimlich verärgert bin aufgrund seiner Bloßstellung, lässt mich ihm meine Neugier, wie es meinen Hunden wohl geht, den Gesichtsverlust verzeihen.
Erst gegen Mitternacht beendet Toro das Essen offiziell. Da es inzwischen doch recht spät ist, entscheiden die Zwillinge zu meinem Glück, die Aufnahmeprüfung zu verschieben. Erleichtert mache ich mich auf den Weg in Richtung Bett. Doch an der Treppe angekommen versperrt Toro mir den Weg. Sein Blick sucht den meinen, was ich schließlich noch immer verärgert geschehen lasse. Zu meiner Überraschung darf ich ein für seine Verhältnisse seltenes Schauspiel beobachten: Toro fehlen die richtigen Worte.
»Es tut mir leid. Ich wollte dich vorhin nicht so anfahren. Du hast es hier schon schwer genug. Aber bitte verstehe auch meine Lage. Es würde uns beiden nicht guttun, wenn ich dich bevorzugen oder weniger streng mit dir umgehen würde.«
Ich nicke nur. Mehr als diese lachhafte "Entschuldigung" würde ich von ihm nicht bekommen.
»Deinem Hündchen geht es übrigens gut. Er hatte gestern früh seine OP. Dr. Elric war sehr zuversichtlich, als er danach wieder bei ihr angekommen ist. Ich war ihn gestern Abend mal besuchen. Langsam sieht er aus wie ein richtiger Hund und nicht mehr wie ein wandelndes Skelett mit Fellfetzen dran, weil Dr. Elric ihn gewaschen und er auch die wahrscheinlich erste Wurmkur seines Lebens über sich hat ergehen lassen müssen.«
Mit großen Augen sehe ich ihn an. Es schockt mich doch etwas, dass er so ganz nebenbei erzählt, dass er den von ihm verhassten, räudigen Straßenhund besucht und sich über dessen Genesung freut.
»Wo wir gerade beim Thema Aufpäppeln sind: Ich hoffe, es geht für dich in Ordnung, wenn ich die Wurmkuren, Impfungen, Unterbringung und all die anderen medizinischen Notwendigkeiten für all deine Hunde finanziere?«
Einen gewissen Argwohn kann ich mir nicht verkneifen: »Was willst du dafür?«
Verwundert zieht er eine Augenbraue nach oben. »Wie kommst du auf die Idee, dass ich eine Gegenleistung verlange?«
»Das ist ein unausgesprochenes Gesetz. Niemandem wird einfach so etwas geschenkt, schon gar nicht von dir, Toro.«
»Das stimmt eigentlich auch, aber dein Preis kann in meiner Sache dein Leben sein. Da kann ich doch dafür sorgen, dass es deiner sogenannten Familie gut geht. Ursprünglich wollte ich dir das erst morgen vor meiner Abfahrt sagen, aber wer weiß, ob wir da nochmals die Zeit dazu finden: Ich habe das Grundstück deiner Eltern gekauft, ein paar Architekten beauftragt, dein Elternhaus wieder originalgetreu aufzubauen und um einige Hundehütten ergänzt, damit deine Vierbeiner nach ihrer Genesung dahin ziehen können.«
Innerlich tanzt mein Herz Samba, so glücklich bin ich über Toros Großzügigkeit. Ich ringe um Fassung, möchte ihm zeigen, wie dankbar ich ihm dafür bin, aber gleichzeitig nicht dünnhäutig und weinerlich erscheinen. Deshalb schließe ich ihn kurz in eine Umarmung.
Toro drückt noch einmal fest meine Hand, dann wünscht er mir eine gute Nacht und geht zu Yamo und den Zwillingen hinüber. Ich steige die Treppe in den ersten Stock hinauf und kann es gar nicht erwarten, endlich in meinem Zimmer verschwinden zu können. Denn die Blicke der vier Männer im Rücken lassen mich beinahe straucheln. Eilig stürze ich in mein Zimmer und zum Fenster. Schwer atmend reiße ich an dem Flügel bis er seufzend nachgibt und aufschwingt. Herbstliche kalt-feuchte Luft schlägt mir entgegen. Einen Moment nimmt sie mir den Atem, dann bekomme ich wieder Luft. Ausatmen. Einatmen.
Langsam schließe ich das Fenster und lasse mich auf meine Matratze fallen. Heute bin ich so müde, dass ich definitiv einen traumlosen Schlaf durchleben würde. Gut so, meine Träume bringen mich unnötig durcheinander und sorgen dafür, dass die Grenzen zwischen Fantasie und Realität vor meinen Augen verschwimmen.
»Schlaf gut, Akio!«, flüstere ich noch müde, dann schließt mich Tsukuyomi, der Shinto-Gott der Nacht, in seine weichen Arme.
»Meinetwegen können wir den Rundgang jetzt starten!«, frohlockt Toro am nächsten Morgen, während er vom Frühstückstisch aufspringt.
Yamo muss Toro noch gestern Abend den Vorschlag unterbreitet haben, mir doch auch mal das gesamte Haus zu zeigen. Jedenfalls standen er, Toro und leider auch die Zwillinge heute Morgen ungeduldig am Fuße der Treppe, bis ich zum Essen erschien. Als ich wenig begeistert erst für eine Stärkung plädierte, trafen mich vier mehr als enttäuschte Blicke.
»Sadako ist auch fertig. Da kann es ja jetzt los gehen.«, verkündet Yamo freudig.
Eilig setze ich mich an seine Seite, während wir die Halle durchqueren und die Treppe hinaufsteigen. Oben angekommen biegen wir in der ersten Etage links ab und treten in einen Konferenzraum. In der Mitte des Raumes steht ein langer Tisch mit drei Dutzend Stühlen.
»Wenn wir einen besonders riskanten Einsatz planen oder für eine Mission viele Leute benötigen, versammeln wir uns hier. Dort vorn kann man ein SmartBoard von der Decke herunter lassen. Damit können wir auch die Chefetage oder andere Teams, die sich gerade im Einsatz befinden, live an der Konferenz teilnehmen lassen.«, beginnt Exterminio die Führung, »Außerdem werden hier die Einsatzpläne, die von Yamo beispielsweise in der Zentrale erstellt werden, besprochen, verbessert und verbildlicht.«
»Damit wären wir schon bei meinem Bereich: der Zentrale.«, fährt Yamo fort, während er seine Hand auf die ebene, hellgraue Wand legt und für einen Moment erstarrt.
Ein matter, roter Laser tastet seinen Körper ab und beginnt dann, ein Quadrat an die Wand zu zeichnen. Mit einem knarzenden Geräusch ähnlich dem einer alten Verließtür öffnet sich eine große Flügeltür. Mit einer einladenden Geste tritt er hindurch, wir folgen ehrfürchtig. Der Raum ist nur leicht mit kaltem Licht erleuchtet, wobei das meiste von den zahlreichen Computerbildschirmen in der Mitte ausgeht. Unmengen an Receivern und Festplatten sind unter den rundlichen Schreibtischen übereinander gestapelt. Ich zähle neun Arbeitsplätze. Yamo lehnt sich stolz an einen Bürostuhl direkt neben der Tür.
»Momentan sind wir fünf ITs, die unsere ZPs, VEs, Karasu und Arañas 24 Stunden am Tag überwachen.«
Verständnislos sehe ich ihn an.
»ZPs sind Zielpersonen - Familienmitglieder der Nikushimi und Kontaktpersonen zu deren spanischen Verbündeten. Als VEs oder Verdeckte Ermittler werden Agenten von uns bezeichnet, die bei den Nikushimi eingeschleust wurden. Die Gefahr, dass sie auffliegen, ist sehr groß, weswegen es wichtig ist, sie dauerhaft beobachten und dadurch schützen zu können. "Karasu" heißt ja Krähe im Japanischen. Wir bezeichnen die Überläufer, also die Leute, die von uns zu den Nikushimi oder andersherum gewechselt sind, so. Diese bedürfen auch sehr viel Aufmerksamkeit, weil sie jederzeit als Doppelagenten agieren könnten, was für beide Seiten ein Spiel mit dem Feuer bedeutet. Und schließlich haben wir noch die Arañas. Das ist Spanisch und bedeutet "die Spinnen". So haben wir unsere Einsatzteams genannt, die Observierungen, Verhaftungen und Verhöre durchführen. Vor jeder Aktion, wenn die Teamzusammenstellungen von uns veröffentlicht werden, erhalten die einzelnen Trupps noch einen spezifischen Titel. Dieser ändert sich wöchentlich, aber das wirst du schon mitbekommen, wenn du selbst im Einsatz bist.«
Im Einsatz. Aus seinem Mund klingt das so selbstverständlich, als würde ich seit Jahren darauf vorbereitet, mich in wenigen Tagen unter eine Familie zu mischen, die Menschenhandel und Drogenschmuggel im großen Stil betreibt. Wie das gestrige Training gezeigt hat, bin ich aber noch weit entfernt von diesem kampfbereiten Mädchen. Mal ganz abgesehen von meiner psychischen Verfassung, die mich stärker als sonst wieder in die Vergangenheit zu Trauer und Schmerz führen will. Das kleine, hilflose und ungeschützte Kind in mir ist für so einen Schritt noch nicht bereit.
Das Geräusch von reißendem Papier erweckt meine Sinne wieder zum Leben. Schuldbewusst starrt Exterminio auf die Wand, an der er eben noch gelehnt hat. Nun ist die große Stadtkarte, die fein säuberlich daran gepinnt war, zerrissen und gibt den Blick auf eine Pinnwand mit Fotos und Notizen frei. Wie betäubt starre ich auf ein Bild von einer jungen Frau, die sich entschlossen einen Weg durch eine verschmutzte und mit Müllbeuteln überhäufte Straße bahnt. Das Foto ist von einer erhöhten Position aufgenommen, weswegen ihre recht breiten Schultern im Fokus stehen. Ihr stolzer Blick ruht auf einem fuchsroten Hund mit weißer Brust, der einträchtig an ihrer Seite läuft.
Eine Welle des Heimwehs überrollt mich, als ich das stämmige Tier betrachte. Er sieht Akio unglaublich ähnlich. Was würde ich dafür geben, meinen Gefährten jetzt an meiner Seite zu haben. Jede Zelle meines Körpers brennt, möchte einfach nur Halt in seinem struppigen Fell finden.
Yamo, der beinahe panisch mit der Hilfe der Zwillinge versucht, die Pinnwand wieder vor den Augen aller zu verbergen, bemerkt meinen Blick, der der Überschrift des Ganzen gilt. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen und lassen die Handschrift verschwimmen, doch als ich meine Lider schließe, leuchten die Buchstaben und Zahlen vor meinem inneren Auge auf: S9I1A. Allem Anschein nach hätte ich diese Pinnwand nicht sehen und von S9I1A erfahren dürfen, denn Exterminio knirscht nervös mit den Zähnen und verknotet seine Finger, Yamos Unterlippe zittert, als er versucht, mit etwas Anderem fortzufahren und Toro weicht meinem Blick aus, starrt dafür aber Yamo eindringlich an. Eine unterschwellige Aufforderung, die Führung schleunigst an einem anderen Ort fortzusetzen.
Plötzlich fällt mir wie Schuppen von den Augen, was die vier Männer gerade so nervös macht: Die Buchstaben erinnern mich an meinen Namen: S-I-A. Im selben Moment verstehe ich noch etwas: Das auf den Fotos bin ich. Und der Hund ähnelt nicht nur Akio, er ist es. Ich hebe den Kopf nur wenige Millimeter. Dennoch scheinen die Vier genau zu wissen, dass nun eine Fragenflut auf sie zurollt. Gleichzeitig entweicht die angehaltene Luft aus ihren Mündern.
»Können wir dir das morgen erklären?«, versucht Exterminio es auf die zuvorkommende Art.
»Klar, kein Problem! Ich will euch ja genug Zeit geben, um euch in Ruhe eine Lügengeschichte für mich auszudenken.«, antworte ich giftig, »Ich schlage dennoch vor, dass wir sowohl Führung als auch Erklärung auf morgen verschieben. Guten Tag!«
Als ich wütend den Konferenzraum durchquere, höre ich Yamos unterdrückt leise Stimme, die Exterminio zusammenstaucht. Ich will nur noch weg von Toro und seinen Lügen, seinen Manipulationen und von Exterminios Unschuldsmine. Automatisch beschleunigen sich meine Schritte, sodass ich, ohne stehen zu bleiben, am Treppenaufgang vorbeirenne und aufgebracht in mein Zimmer stürze. Erschrocken halte ich inne, als ich im Zimmer stehe. Jeglicher Frust ist verflogen.
Eine gut trainierte Frau, ungefähr in meinem Alter, rollt seelenruhig ihre Luftmatratze neben meiner Matte aus. Ihre rostfarbenen Rastalocken fallen ihr immer wieder ins Gesicht, weswegen sie mich erst bemerkt, als ich kehrt mache und davonlaufen will.
'Was tut diese Fremde da? Fukuro hat gesagt, dass das allein mein Rückzugsort ist! Hat selbst sie mich belogen?', denke ich, nun endgültig den Tränen nahe. Zu viel, es ist einfach zu viel.
»Sia? Hey, Sia, warte mal!«, erklingt hinter mir eine warme Altstimme.
Eine große Hand legt sich auf meine Schulter und hindert mich an einem Fluchtversuch. Für einen kurzen Augenblick erscheint ihr Bizeps, der mich zurück in mein Zimmer katapultiert. Leise schließt sie die Tür hinter uns.
»Was soll das? Wieso machst du dich in meinem Zimmer breit? Woher kennst du meinen Namen?«, frage ich überfordert.
»Hey, beruhige dich erstmal. Ich bin gerade erst aus meinem ersten Einsatz zurückgekehrt. Außerdem müsste ich dich fragen, was du in meinem Zimmer zu suchen hast, immerhin war es meines vor der Mission.«
Ihre Stimme ist beschwichtigend und freundlich, und es schwingt ein neckender Unterton mit.
»Was war denn das für ein Einsatz?«
»Eigentlich darf ich dir das nicht sagen, aber so wie du aussiehst, scheint das von Toro erbaute Kartenhaus aus Lügen in sich zusammengefallen zu sein. Um ehrlich zu sein, warst du mein erster Auftrag für Toro. Die Zwillinge und ich sollten dich endlich von der Straße runter und hierherbringen. Toro wollte, dass wir diese Mission unter dem Namen "S9I1A" führen. Total umständlich, aber wenn es der Chef so will, wird es so gemacht...«
»Ich wollte Toro doch von mir aus helfen. Das hat mit euch rein gar nichts zu tun!«
»Oh doch! Einer der Zwillinge - dessen Namen ich an dieser Stelle nich aussprechen werde, den wir aber beide kennen - beobachtet dich schon seit einigen Monaten. Er war wie besessen davon, Toro zu überzeugen, dass du das Team unglaublich bereichern würdest. Dreimal darfst du raten, warum die Hundezwinger und der Trainingsplatz so gut wie fertig waren, als du angekommen bist. Er dachte, wir könnten uns deine Verbindung zu Hunden zu Nutze machen und einige vierbeinige Agenten ausbilden. Deswegen war es für dich auch nicht schwer, Toro von der Mitnahme der sechs Junghunde zu überzeugen. Hier stand schließlich schon alles bereit.«
Das ist ja interessant. Deswegen konnten Fukuro und Joaquín so schnell in Kyoto sein, obwohl sie eigentlich in Yokohama stationiert sind: Sie standen schon in den Startlöchern und warteten nur noch auf Toros Zeichen.
»Aber wie habt ihr mich zu dem Punkt gebracht, Toro nach einem Nebenverdienst zu fragen, ohne dass ich es gemerkt habe?«
Sie beginnt sich zu winden und scheint mir einen Moment lang eine Lüge auftischen zu wollen. Doch dann senkt sie den Blick und antwortet wahrheitsgemäß: »An diesem Punkt würde ich dir nur ein Stichwort geben: gestohlenes Hundefutter und Schokolade für die Hunde - gut, das sind sieben Stichw...«
»Ihr habt meinen Hunden Schokolade gegeben? Seid ihr irre?! Das ist lebensgefährlich!«
»Im Internet stand, dass eine geringe Dosis nur Durchfall verursacht. Wie hätten wir denn ahnen sollen, dass der dicke Shiba gleich die ganze Tafel hinterschlingt?«
»Akio hat eine ganze Tafel gefressen?«
»Ja, aber das war nur Hundeschokolade. Wir hatten zwei Sorten, weil wir nicht wollten dass einer der Welpen oder ein besonders gebrechlicher Hund etwas von der normalen Schokolade abbekommt.«
»Was genau hat Toro aber jetzt dazu gebracht, Exterminios Vorstellungen zu folgen?«
»Odio hat mitbekommen, dass du einen Schatten hattest, also permanent beobachtet worden bist. Wir kennen das Motiv nicht, aber den Auftraggeber. Das ist nämlich niemand geringeres als Nikushimi Hebi, das Familienoberhaupt der Nikushimi-Familie. Diese Information hat gereicht, um Toro zu zeigen, dass du in Gefahr bist. Am selben Morgen bist aber von selbst zu ihm gekommen, wodurch sich das Thema von selbst erledigt hatte.«
»Deswegen kam er an dem Morgen so spät - er hatte erst noch eine Konferenz mit euch.«
»Genau.«
»Aber wie soll ich mich in die Nikushimi-Familie einschleichen, wenn Hebi weiß, dass ich zu Toros Truppe gehöre? Ich meine, wer auch immer mich beschattet hat, er wird ihm mitgeteilt haben, dass ich für Toro boxe und nach dem letzten Training mit Agenten von Toro mitgegangen bin. Wenn ich ihm jetzt aus freien Stücken in die Arme laufe, gleicht das doch Selbstmord.«
»Keine Sorge. Eine Komparsin lebt gerade in Tokyo dein Leben. Wir haben deinen Schatten zum selben Zeitpunkt, wo du mit Joa und Fukuro Kyoto Richtung Yokohama verlassen hast, glauben lassen, du würdest Toros Kaffeekasse ausräumen und in die Hauptstadt durchbrennen. Sobald Toro das Startzeichen gibt, nimmst du ihre Position auf Tokyos Straßen ein.«
»Das ist verdammt clever. Auch Exterminios Idee?«
»Nein, für wirklich kluge Strategien ist Yamo zuständig. Aber jetzt haben wir genug gequatscht. Es ist spät, ich bin müde und morgen steht uns wieder ein harter Trainingstag bevor.«
»Na super«, murmele ich wenig begeistert.
»Mein Name ist übrigens Minerva, also mein richtiger. Hier heiße ich Noa - Anonymität und so...«, meldet sich die junge Frau noch einmal, während sie sich auf ihrer Matratze ausstreckt, »Mi Papá kommt aus Spanien, mi Mamá aus Ouagadougou, also Burkina Faso.«
»Burk-was? Und wieso verratet ihr mir alle eure richtigen Namen, wenn doch Anonymität ganz oben auf dem Regelblatt dieser Einrichtung steht?«
»Mit "alle" meinst du vermutlich Yamo. Wie auch er halte ich nicht sonderlich viel von diesem Codenamen-Getue. Das fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl nicht wirklich. Aber außer dir weiß keiner unsere Namen und unsere Geschichte. Es ist in der Probezeit sogar die erste Herausforderung eines jeden, nichts Privates von sich zu erzählen. Yamo und ich haben zusammen studiert, bis er irgendwann spurlos verschwunden ist. Ich habe meine Computerkenntnisse gleich mal dafür gebraucht, um ihn ausfindig zu machen. Allerdings habe ich meinen Bachelor und dann meinen Master fertig machen müssen, bis Überwachungskameras ihn in Yokohama aufgespürt haben. Irgendwie muss er bemerkt haben, dass ich ihn suche und hat mir hier aus der Zentrale verschlüsselte Nachrichten geschickt. Ich habe mich in den nächsten Flieger gesetzt und bin hergekommen. Anfangs war es schwer, so zu tun, als würden wir uns nicht kennen, aber zu unserem Glück hat Iago ihn mir als Trainingspartner zur Seite gestellt. Seitdem verbringen wir die Zeit zwischen den Tagen oft damit, unseren langweiligen und total durchschnittlichen Leben in Spanien nachzuhängen. Wenn man sich besser kennt, ist es aber viel einfacher, die eigenen Wackersteine zu tragen. Das lädt den Akku des Körpers auf emotionaler Ebene wieder auf.«
»Wow, du kannst dich wirklich glücklich schätzen, jemanden hier an deiner Seite zu haben, der dir Kraft gibt. Ich wünschte, ich hätte je so jemanden gehabt. Momentan weiß ich nicht einmal, wem ich ansatzweise vertrauen kann.«
Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass die junge Frau bereits eingeschlafen ist.
Leise gehe ich zum Badezimmer, schalte das Licht an und wäre fast vor mir selbst erschrocken. Aus dem Spiegel sieht mir eine gestresste, komplett erschöpfte Gestalt entgegen. Seufzend steige ich unter die Dusche. Als ich wieder in den Spiegel sehe, beschleicht mich das ungute Gefühl, dass ich noch bescheidener aussehe als vorher. Dunkle Augenringe leuchten auf meiner blutleeren Haut und mein Haar klebt struppig auf meinem Kopf. Mutlos marschiere ich zurück zu meinem Zimmer und lasse mich auf die Matte plumpsen. Eigentlich bin ich hundemüde, aber die quälenden Gedanken und die 'Was-wäre-wenns' halten mich wach.
Ich habe versucht, Toro und Exterminio und all den anderen wenigstens etwas zu vertrauen. Doch für sie bin ich letztendlich doch nur ein einzelnes Rädchen in einer Maschine, das zu funktionieren hat; ein Puzzleteil, das an einen bestimmten Platz in einem Bild gehört. Von wegen "die eine, die uns wirklich vorwärts bringen kann, die etwas bewegen wird und durch die ein Sieg über die Nikushimi möglich wird". Dann ist da auch noch Exterminio, der sich einerseits so stark für mich eingesetzt hat, andererseits hinter meinem Rücken teilweise die Zügel für meine "Hundestaffel" in der Hand hält und nicht mit offenen Karten spielen möchte. Yamo, Iago, Odio und manche der anderen wissen genauso über S9I1aA Bescheid. Für sie war und bin ich eine Zielperson, jemand, dessen Macken und Vorlieben sie genauestens studiert haben, bevor sie ihre Aktionen starteten. Obwohl mir Yamo nach den Erzählungen Noas noch am vertrauenserweckendsten erscheint, wobei auch das wieder eine gezielte Manipulation meiner Sympathien gewesen sein könnte.
Langsam nisten sich Kopfschmerzen in meinem Kopf ein und meine Gedanken verweben und verdrehen sich so, dass ich am Ende gar nicht mehr weiß, was wahr und was falsch ist. Das erste Mal bekomme ich Zweifel, ob es wirklich gut gewesen ist, mich auf diese ganze Agenten-Sache einzulassen und mehr als nötig mit Toro zu tun zu haben. Letztendlich übermannt mich schließlich doch der Schlaf. Ich spüre, wie ich mich hin und her wälze, während ich von einer unheimlichen Traumwelt in die nächste geschleudert werde. Überall riecht es gleich: nach Hass, Verrat und Tod. Ich möchte einfach nur erwachen, schaffe es aber nicht aus dem unendlichen Labyrinth der Dunkelheit.
Schweißüberströmt, schwer atmend und mit einigen blutig gekratzten Stellen an den Armen und Händen werde ich wach. Noa hat sich neben mir auf die Unterarme gestützt und streicht mir das strähnige Haar aus dem Gesicht.
»Sorry, dass ich dich geweckt habe, aber ich wollte irgendwie deine Selbstverletzung stoppen, Zombie.«, flüstert sie leise. Das letzte Wort klingt aus ihrem Mund wundervoll und honigsüß, kein bisschen hänselnd.
»Danke«, wispere ich.
Nicht einmal vier Stunden Schlaf habe ich in dieser Nacht bekommen, zumindest sagt das der Wecker. Während ich noch vor mich hin starre, lehnt Noa sich plötzlich zu mir herüber. Sie schließt mich in eine feste Umarmung und drückt mich einfach nur. Eine Intimität, die ich bei so fremden Menschen wie ihr eigentlich nicht ohne Gegenwehr über mich ergehen lassen würde, aber mein Körper scheint es zu brauchen. Mein scheppernder Atem beruhigt sich, ich komme zumindest äußerlich zur Ruhe. Vorsichtig lässt sie mich los, springt auf und hält mir nun die Hand hin.
»Komm, Zombie, wir müssen wieder eine Sadako - ein glückliches Kind - aus dir machen!«
Ungeduldig springt sie auf der Stelle auf und ab, bis ich mich unter meiner Bettdecke hervorgepellt habe. Dann packt sie mich am Handgelenk und zieht mich zur Treppe, eine weitere Etage nach oben und dann in eine Abstellkammer. Dort schiebt sie behutsam ein Fenster auf und verschwindet nach draußen. Erschrocken stürze ich zum Fensterbrett, weil ich denke, dass sie gesprungen ist. Verwirrt muss ich feststellen, dass sie nirgens zu sehen ist. Plötzlich schieben sich Rastalocken von oben in mein Blickfeld.
»Wann kommst du denn endlich? Oder hast du Höhenangst?«
Ich schnaube abschätzig und klettere vom Fenterbrett aus auf ein Schneefanggitter über dem Fenster. Dort sitzt Noa bereits im Schneidersitz und zieht tief die frische Luft durch die Nase ein. In unserem Rücken schützt uns die Dachspitze vor zugigem Wind. Rechts von uns geht die Sonne zögerlich über Yokohama auf. Orange Strahlen tasten sich vorsichtig über die Dächer der Mehrfamilienhäuser. Sieht man in die entgegengesetzte Richtung, droht ein dunkler Himmel alles zu verschlingen. Ich muss mich sehr konzentrieren, um wenigstens ein paar Sterne dort in den tiefschwarzen Gefilden ausmachen zu können.
Angenehme Ruhe legt sich über die gesamte Szenerie. Ich bin froh, dass Noa nicht reden möchte. Diesen Moment, in dem Nacht und Tag miteinander ringen, möchte ich einfach genießen und die Chance nutzen, meinen Kopf etwas zum Schweigen zu bringen. Es fühlt sich an wie eine innere, emotionale Reinigung, die sonst nur ein traumloser Schlaf bewirken kann. Die Erinnerungen an die Albträume der letzten Nacht verblassen. Wir beobachten die Sonne, die die Dunkelheit besiegt und sich in den Himmel aufschwingt. Leises Glockengeläut und eine Schar Mandschurenkraniche machen den Augenblick perfekt.
»Wir müssen zum Frühstück.«, sagt Noa kaum hörbar, nachdem die Glocke verstummt ist und die Kraniche zu dunklen Punkten am Himmelszelt geschrumpft sind.
Elegant schwingt sie sich an dem Rost durch das offene Fenster wieder nach drinnen. Ich folge kurz hinter ihr. Sie verriegelt das Fenster und späht den Gang hinunter. Die Luft scheint rein zu sein. Mit großen Schritten schleichen wir zur Treppe. Es scheinen bereits alle beim Frühstück zu sitzen. Unser Weg endet am Badezimmer. Gemeinsam kämpfen wir uns dort durch meine widerspenstigen Haare, die sich komplett verknotet haben. Nach einigem Gejammer meinerseits und einer am Stiel abgebrochenen Bürste sehen sie schließlich nicht mehr ganz wie ein Vogelnest auf meinem Kopf aus. Noa bringt es sogar noch fertig, meine Haare in vier Reihen an der Kopfhaut entlangzuflechten und hinten in einem Zopf zu vereinen. Nach einem zufriedenen Blick in den Spiegel laufen wir zum Frühstücksbuffet.
Doch noch bevor ich mich zu den Okonomiyaki durchkämpfen kann, steuert Exterminio auch mich zu. Obwohl seine Mimik und sein Schrittstil der Odios absolut gleichen, weiß ich aus einer Intuition heraus, dass er es ist.
»Können wir reden?«, fragt er, obwohl es eher nach einem Befehl als nach einer Frage klingt.
Er lässt mir gar nicht die Möglichkeit, "Nein" zu sagen, und zieht mich nach einem dankbaren Blick zu Noa am Arm in die Küche und von da in die Vorratskammer. Ich werfe Noa einen hilflosen Blick zu, die mir ein warmes Lächeln schenkt und eine beschwichtigende Geste macht. In der Vorratskammer selbst ist es ziemlich kalt, weswegen ich trotz Abhärtung von der Straße zu frösteln beginne. Leise schließt Exterminio hinter uns die Tür ab. Panik macht sich in mir breit. Was soll das? Ich will hier raus!
Er scheint mein Unwohlsein zu bemerken und grummelt: »Anders kriegt man dich ja nicht dazu, einfach mal zuzuhören. Für dich ist es angenehmer, vor der Wahrheit wegzulaufen, anstatt sie zu erfahren.«
»Ausgerechnet du willst mir etwas über Wahrheit erzählen? Ihr seid hier doch die größten Intriganten, du und dein Bruder. Euch ist doch jede Lüge recht, damit ihr euer Ziel erreicht.«, zische ich ihn wütend an.
»Ja, uns ist jede Lüge recht, aber nur, wenn dadurch Leben gerettet werden können, so wie deins. All das - vor allem, dass ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe - tut mir leid, aber es war die einzige Möglichkeit dich dem Blickfeld Hebis zu entziehen. Umso mehr Menschen die Wahrheit kennen, umso gefährdeter ist unser Vorhaben. Durch Noa kennst du nun die gesamte Geschichte, die wahre Geschichte.«, erklärt er beherrscht, »Yamo hat bei der ganzen Sache deine Wut nicht im geringsten verdient, denn er ist einer der treusten und gutherzigsten Menschen, die du hier finden kannst. Sein Vertrauen ist Gold wert und du bist eine der Wenigen, die es erlangt hat. Und Toro bist du einfach unglaublich wichtig. Er hat es nicht ertragen, dich weiterhin in so großer Gefahr zu belassen. Gleichzeitig war es ihm auch wichtig, dass du nicht von Anfang an alles weißt. Ich bin seiner Meinung, wenn er sagt, dass dein Schutz oberste Priorität hat. Ich weiß ehrlich nicht, wie es dir im Moment geht, nachdem du deine Geschichte aus unserer Sicht erfahren hast, aber was ich ganz sicher weiß, ist, dass du noch immer Wahrheit und Lüge problemlos voneinander unterscheiden kannst.«
Ich bin zerknirscht, weil seine Worte so großen Einfluss auf meine Selbstwahrnehmung haben. Ich würde gern weiterhin auf ihn und Toro und all die anderen sauer sein, aber Exterminio hat durch seine Art all die Zweifel beiseite gefegt.
»Du bist wichtig und im Gegensatz zu meinem Bruder finde ich, dass es egal ist, woher jemand kommt. Solange derjenige bereit ist, Opfer für unser Vorhaben zu bringen, ist er zurecht Teil unserer Gemeinschaft.«
»Was muss ich tun, damit du aufhörst, mir Honig ums Maul zu schmieren?«
»Meine, nein, unsere Entschuldigung annehmen und dann deinen Job hier, so gut es geht, ausführen.«, meint er lachend.
Etwas bedenklich finde ich es schon, dass ich einfache, angehende Agentin das Klima im Team so kippen kann. Ich will mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn ich meine Entlassung aus dieser Aktion aufgrund von Exterminios Plan fordern würde. Ich habe hier zu viel gesehen und erfahren, als dass mich Toro ohne Weiteres wieder auf die Straße setzen könnte. Dennoch bin ich mir sicher, dass er mich nicht töten lassen könnte. Es würde wahrscheinlich eher auf eine Wegsperrung hinauslaufen. Innerlich schüttelt es mich. Lieber nehme ich diese mir widerstrebende Entschuldigung an, anstatt in irgendeinem Keller zu versauern.
»Eine Chance habt ihr bereits vertan, also nutzt die zweite.«
Sichtlich erleichtert schlägt er in meine ausgestreckte Hand ein. Anschließend fingert er den Schlüssel des Raumes aus seiner Hosentasche hervor und versucht mit steifen Fingern das Schlüsselloch zu treffen. Gemeinsam schieben wir die dicke Tür auf und lassen gleichzeitig ein erleichtertes Seufzen verlauten, als uns die angenehme Wärme der Küche umfängt.
Nach dem Essen nimmt Toro mich noch einmal zur Seite und wiederholt das, was Noa und Exterminio mir bereits erzählt haben. Umso öfter darüber gesprochen wird, desto affiger empfinde ich das Ganze. Deswegen bin ich froh, als er mich entlässt, und ich zum Training gehen kann. Obwohl ich erst einmal den Weg zum Trainingsraum im Keller eingeschlagen habe, scheint jeder Winkel vertraut. Ich schreite den langen Gang hinab, biege aber in die vorderste Tür ein, um nicht in das Gym zu gelangen. Nach dem Nahkampftraining mit seinen speziellen Regeln erscheint es mir angenehm, endlich wieder Geräte in der Hand zu halten, die ich kenne.
Leise trete ich ein, obwohl ich nicht damit rechne, jemanden um diese Uhrzeit hier zu treffen.
Im Raum stehen einige Fitnessstationen verteilt: Laufband, eine Bank zum Gewichtheben, ein Rudertrainingsgerät und viel mehr. In der rechten hinteren Ecke hängt sogar ein Boxsack und es steht ein Dummy zur Verfügung. Doch an dem Dummy trainiert wider meiner Erwartungen einer der Zwillinge. Am liebsten hätte ich schleunigst das Weite gesucht. Immerhin ist die Wahrscheinlichkeit, Odio und nicht Exterminio gegenüberzustehen, recht groß, aber ich will mir von diesem arroganten Spanier nicht auch noch die Freude am Kraftsport nehmen lassen.
Deshalb reiße ich mich zusammen und rufe dem jungen Mann ein munteres »Hey« zu.
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