)Ein Kommen und Gehen(
Die Stunden vergehen, ohne dass ich einen weitgreifenden Erfolg verspüre. Ich versuche, dem Stoff zu folgen und die Aufgaben zu verstehen. Doch meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich fühle mich einsam und schutzlos, hätte gerade lieber mit Exterminio bei eisigen Temperaturen in der Mall gesessen oder mich beim Kampfsporttraining von Odio vermöbeln lassen. Ich gehöre hier nicht her. Oder ich kann mich gerade einfach nicht ausstehen, weil ich das Grundstück der Nikushimi und die herzliche Gemeinschaft der anderen Leibwächter viel schneller schätzen gelernt habe als die Villa in Yokohama. Wenn ich nie wieder nach Tokyo komme und dort mit Noa oder Exterminio Kontakt aufnehmen kann, würde ich mich dann einfach in das Mosaik der Nikushimi einfügen? Oder würde mich das Wissen, wie diese Familie ihr Geld verdient, früher oder später von hier vertreiben?
Seufzend schiebe ich die Zettel und Bücher zur Seite und trete ans Fenster. Durch den Wald ist es bestimmt nicht schwer zu entkommen.
Ein Klopfen reißt mich aus meinen Gedanken und ich sehe zur Tür. Eines der Mädchen vom Nachbartisch von heute Morgen späht herein.
»Jun und Wataru erwarten dich in einer Viertelstunde zum Dunkeltraining hinter der Izanami. Jede Minute zu spät verdoppelt deine Trainingszeit. Also lass sie nicht warten.«, schallt ihre Stimme herablassend und spöttisch durch den Raum und ich merke ihr deutlich an, dass sie es für eine Schande hält, dass eine Frau zum Leibwächter ausgebildet wird.
»Danke, ich mache mich sofort auf den Weg.«, antworte ich so freundlich wie möglich.
Schnell räume ich die Schulsachen zurück an ihre Plätze, schlüpfe in frische Trainingskleidung und eile die knarzenden Treppen hinab. Den Weg zu Izanami finde ich mittlerweile im Schlaf. Auf der Rückseite treffe ich meine beiden Trainer, die eben noch die Übungen besprechen.
»Hallo, Athanasia! Mach dich schon mal etwas warm. In ungefähr zehn Minuten geht die Sonne vollständig unter. Dann beginnen wir mit dem Training.«
Ich laufe mich etwas ein und übe einige Schlagkombinationen. Die kleinste Muskelbewegung schmerzt höllisch, aber ich verziehe keine Mine. Als sich die Dunkelheit über uns senkt, ruft Wataru mich zu sich. Er erklärt mir, dass wir uns heute vor allem mit der Fortbewegung beschäftigen werden. Ziel ist es, eine nahezu geräuschlose Bewegung auch in unendlicher Stille, Dunkelheit und unebenem Gelände zu erlernen. Jun zeigt mir dafür, wie man richtig auftritt und sicher gehen kann, sodass kein Ast plötzlich knackt. Nebeneinander laufen wir über die Wiese und bald ist nicht einmal mehr das Rascheln des Grases zu hören. Als nächstes schickt sie mich in den Wald, wo ich versuche, das eben Gelernte umzusetzen. Doch mittlerweile ist es so dunkel, dass ich kaum die Hand vor Augen sehe, geschweige denn Äste, Zapfen oder Laubhaufen. Ich will schon aufgeben, als plötzlich Jun neben mir erscheint. Ich habe sie in keiner Sekunde kommen hören und doch ist sie da. Sie spürt meine Fassungslosigkeit und lächelt.
»Das ist wohl das größte Geschenk, das ich durch meine Blindheit habe: Ich habe gelernt, dem Wind zu lauschen und seine Bewegung zu fühlen. Selbst die kleinsten Luftstrudel können mir Aufschluss darüber geben, wie es in meiner Umgebung aussieht. Du musst diese Kunst nicht so perfektionieren, dennoch solltest du ein gewisses Gespür für deine Umgebung besitzen. Wenn dich beispielsweise jemand versucht, mit Pfefferspray auszuschalten, musst du weiterhin funktionieren und die Herrin beschützen. In der Stadt gibt es viele Dinge, die dir diese Orientierung erleichtern, Straßenlärm zum Beispiel. Aber erst einmal musst du die Bewegung hier draußen beherrschen, bevor wir in die Stadt gehen. Spürst du die Nähe des Baumes links neben dir?«
»Ja.«
»Fokussiere dich auf ihn. Es geht hier nicht um ein Wettrennen. Wenn du anfangs eine Viertelstunde für fünf Schritte benötigst, ist das vollkommen in Ordnung. Hauptsache du spürst deine Umgebung und gehst lautlos. Strecke dein Bein jetzt in eine Richtung, wo du glaubst, dass dort Gras oder Moos wächst.«
Ich spüre die raue Rinde des Baumes neben mir. Es ist ein Nadelbaum, also laufe ich keine Gefahr, in Laub zu treten, aber hier können Zapfen liegen. Langsam strecke ich mein rechtes Bein nach vorn und lasse es über den Boden schweben.
»Glaubst du, dass dort Moos ist?«
Meine Fußsohle kribbelt und wie ein Magnet scheint sie vom Boden abgestoßen zu werden.
»Nein, da sind Zapfen.«
»Richtig, also korrigiere deinen Stand.«
Ich bewege meinen Fuß etwas weiter nach rechts. Das Kribbeln hört auf und ich setze behutsam zuerst die Zehenspitzen, dann die komplette Sohle auf. Kein Knirschen, kein Knacken, nur weiches Moos. Erleichtert atme ich die angehaltene Luft aus, was Jun augenblicklich mit einem strengen Räuspern quittiert.
Der Mond steht beinahe im Zenit, als Wataru zu uns stößt und das Training beendet. Ich habe mit Juns Hilfestellungen elf Schritte geschafft, die fehlerfrei und geräuschlos waren. Im Gegensatz zu dem Training am Vormittag war das geräuschlose Gehen auf physischer Ebene keineswegs anstrengend, doch auf dem Rückweg zur Amaterasu merke ich, wie sehr ich auf mentaler Ebene erschöpft bin. Die ständige, hundertprozentige Konzentration hat mich geschafft. Deswegen lehne ich auch Juns Vorschlag, etwas vom übriggebliebenen Sushi zu essen ab und verziehe mich auf mein Zimmer.
Der immergleiche Ablauf der Tage - vormittags Krafttraining mit Wataru und seinen Männern, nachmittags lernen, teilweise mit Juns Hilfe, teilweise mit der Privatlehrerin, und abends Dunkeltraining - lässt mich bald die Länge meines Aufenthaltes bei den Nikushimi vergessen. Abgeschieden und auch von der Nikushimi-Familie nicht weiter beachtet durchlebe ich die Zeit wie in einem Bootcamp. Ich lerne viel über Wissenschaft, Sprache und Politik, baue etwas Muskeln auf und verzeichne erste Erfolge in der geräuschlosen Fortbewegung. Eigentlich sollte ich auch noch Autofahren lernen, doch die Herrin bestand weiterhin auf einen Fahrer, sodass ich hinten bei ihr sein kann. Außerdem verzweifelt Wataru zunehmend daran, mir das Kämpfen bei schwachen Lichtverhältnissen oder flackernden Diskolichtern beizubringen. Während sich meine Techniken am Tage verfeinern und mir immer weiter ins Blut übergehen, lasse ich mich bei Dunkelheit von meiner Angst und Unsicherheit einschüchtern und ablenken. Ich schaffe es nicht, mich lange genug auf meinen Gegner zu konzentrieren, um seine Angriffsvariante zu erkennen und die Technik zur Abwehr auszuführen.
Wenn ich an besonders erfolglosen Abenden versuche einzuschlafen, kann ich es nicht. Obwohl mein Kopf am Ende ist und nur noch Ruhe finden möchte, gleite ich einfach nicht in den Schlaf hinüber. Denn seit ich hier bin, habe ich mich nicht nur zu einer besseren Kämpferin entwickelt, ich habe mich auch verändert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass mich Tagträume und Erinnerungen von früher immer öfter heimsuchen. Zumeist wiederholen oder ähneln sie sich. Die warme Stimme und ich sind im Krankenhaus, er sitzt an meinem Bett und liest mir vor. Nie dieselbe Stelle und doch dasselbe Buch - der erste Band von "Kuromori" -, das immer dasselbe sentimentale Gefühl in mir auslöst. An meinen Vater denke ich kaum noch, es erscheinen eher wieder Erinnerungen an meine Mutter. Ihre Umarmungen, wie sie mich zur Schule begleitet, wie wir den Tierpark und eine Tempelanlage erkunden. Mein Vater scheint aus meinem Gedächtnis ausradiert zu werden, nur meine Mutter bleibt. Ausgerechnet sie. Die, die mich allein gelassen hat. Die, die irgendwo da draußen ist und ein anderes Leben lebt, vielleicht sogar mit einer neuen Familie.
Ich sehe mir morgens selbst dabei zu, wie mein Lächeln zunehmend bitterer wird. Toro, die ganze Agentensache hat mir einen Nutzen verliehen und nun stehe ich doch wieder allein da. Allein mit meinem Berg an Erinnerungen, die außer mir niemand kennt. Durch das Training ist mein Geist wacher geworden. Ich bin nicht mehr so verträumt, wie ich einmal war. Wenn ich nun in den Spiegel sehe, begegnet mir derselbe Blick, mit dem Kim mich an diesem Morgen, an dem ich ihm die Junghunde übergeben habe, angesehen hat. Ruhelos, wirr, wild und ungezähmt. Und genau so fühle ich mich auch: ziellos und dauerhaft nervös, als würde ich auf etwas warten. Vielleicht auch auf jemanden.
Wie jeden Morgen schlendere ich durch den Wald hinter den Hütten. Ich versuche so, am Beginn des Tages auf andere Gedanken zu kommen, die Träume der vergangenen Nacht zu verdrängen und mich zu sammeln. Heute erwartet Wataru dieselbe Leistung wie gestern, oder sogar noch ein bessere. Mein Körper fühlt sich mittlerweile taub an, ich spüre meine Muskeln nicht mehr. Ich spüre mich selbst kaum noch. Unbewusst streiche ich mir über die Unterarme, die mit blauen Flecken vom Dunkeltraining übersäht sind. Ein kaum spürbarer Reiz huscht durch meinen Körper, so schwach, dass man ihn auch für Einbildung halten könnte. Einbildung - langsam weiß ich auch nicht mehr, welche Gespräche ich mir einbilde, welche tatsächlich stattgefunden haben; was ich wann für meinen Schulabschluss gelernt habe und was nicht. Zunehmend macht sich das Gefühl des kompletten Kontrollverlustes in mir breit. Anfangs bin ich mir sicher gewesen, dass ich den Einsatz wegen meiner fehlenden Erfahrung und der Unwissenheit im Umgang mit Waffen nicht überleben würde, doch nun ist es ausgerechnet meine schwindende Willensstärke, die mich bald resignieren lässt. Ich füge mich willenlos in das Nikushimi-Puzzle ein, ohne Ecken und Kanten. Ich halte mich an die Regeln, die Etikette der Familie, und gebe meine neckende Seite auf.
Rascheln. Ein knackender Ast. Ich halte inne und lausche, drehe leicht den Kopf, um die Geräuschquelle orten zu können, wie ich es von Jun gelernt habe. Mein Geist ist hellwach, mein Körper nicht mehr so benebelt. Doch aus der Richtung, in der ich den Verursacher vermute, dringt kein weiterer Ton zu mir hinüber. Langsam drehe ich mich um die eigene Achse und lasse meinen Blick über das Grün gleiten. Nichts. Keine verräterisch wackelnden Büsche, keine auffälligen Farben, kein sichtbarer Pfad, auf dem mir jemand hätte folgen können. Gemächlich gehe ich weiter und lausche angestrengt, ob erneut ein ungewöhnliches Knacken zu hören ist. Ich bin nur einige Schritt weit gekommen, als mir plötzlich ein winziger Fetzen eines vertrauten Geruches in die Nase steigt. Ich nehme ihn nur sehr kurz wahr, bevor er sich verflüchtigt, aber er gibt mir ein Gefühl von Sicherheit. Eine freundschaftliche Umarmung. Eine kurze Empfindung, dass ich wieder ich bin und keine willenlose, muskulöse Hülle. Doch wahrscheinlich ist auch das Einbildung, einer der letzten Versuche meines Körpers, mich wachzurütteln und mich somit vor dem Aufgeben meiner selbst zu bewahren.
Grübelnd kehre ich zum Amaterasu-Nōka zurück, frühstücke eine Kleinigkeit und gehe dann zu Izanami. Wataru und seine Männer sind wie immer schon kräftig am Pumpen und Trainieren. Fingerknöchelknacken und angestrengtes Atmen erfüllen den Raum.
»Du siehst ganz schön fertig aus. Eigentlich ist das Training ja auch nur für Männer gedacht und nicht für durchschnittlich sportliche Schulmädchen mit einer Vorliebe zur Brutalität«, begrüßt mich Wataru leise, als ich zu ihm trete.
Ich zucke nur apathisch mit den Schultern und mache mich warm. Wir haben uns mittlerweile aufeinander eingespielt, kennen das routinemäßige Vorgehen des Anderen und lassen uns auf dessen Neckereien ein. Doch durch den theoretisch zu vernachlässigenden Vorfall heute Morgen bin ich noch mehr durch den Wind als sonst. Ein Gefühl der Hoffnung wurde dadurch wie der Sprössling eines kleinen Pflänzchens geboren und nun gilt es für mich zu entscheiden, ob ich es niedertrete, um nicht meine komplette Energie durch die Hoffnung zu verlieren, oder ob ich es hege und pflege. Ich wünsche mir so sehr, dass Toro mich endlich findet und gleichzeitig will ich diesen Ort vor seiner Rache bewahren.
Klatsch! Wie Feuer brennt meine Wange, auf die Wataru soeben einen leichten Seitwärtshaken hat niedergehen lassen. Ich schüttele mich und versuche, meine Konzentration auf das Training zu lenken. Der stämmige Leibwächter hat offenbar seinen Trainingsplan für mich geändert, denn er trägt Boxhandschuhe und hält mir neue Bandagen hin.
Eilig wickele ich mir den Stoff um die Fäuste, gehe in Ausgangsposition - das rechte Bein in einem Ausfallschritt nach hinten abgestellt - und balanciere meinen Körper aus, bis ich einen stabilen Stand habe. Wataru kommt mit federnden Sprüngen auf mich zu. Allerdings scheint er nicht im Boxen zu Hause zu sein, denn seine Deckung hält er ungleichmäßig hoch und sein Körperschwerpunkt liegt mehr auf dem vorderen als auf dem hinteren Bein. Wie einen alten Witz spiele ich meine Taktik ab: Kick gegen den vorderen Oberschenkel von innen nach außen geführt, der ihn weiter aus dem Tritt bringt, linker Seitwärtshaken, damit er die Deckung vollständig senkt, zwei straffe Schläge in die Magengrube, damit er sich vornüber beugt, ein abschließender Aufwärtshaken, um ihn vollständig niederzustrecken. Zufrieden mit meinem Werk blicke ich auf den hustenden Leibwächer hinab.
»Jetzt habe ich dank dir schon ein zweites Mal mein Gesicht verloren. Woher kannst du denn so gut boxen?«
Geschmeichelt von seinem Lob lächele ich ihn schüchtern an und antworte: »Ich habe mir in Kyoto mit Boxen mein täglich Brot verdient. Naja, zumindest bis mein Manager sich geweigert hat, mir auch nur einen Yen nach dem letzten Kampf von seinem Wettgewinn abzugeben, obwohl das so vereinbart war.«
Mein Herz klopft laut vor Erleichterung, als diese Lügengeschichte endlich meinen Mund verlassen hat. Oft habe ich mit Exterminio diese Situation geübt, die perfekte bittere Betonung und den Wortlaut, damit ich meine Abneigung gegenüber Toro verdeutlichen und meinen Umzug nach Tokyo erklären kann, als wäre es wirklich so gewesen.
»Ich erinnere mich. Die Herrin hat mir erzählt, dass du eine Ausbildung bei dem Sohn des getöteten Polizisten durchlaufen hast.«
»Ausbildung, das ich nicht lache«, knurre ich ironisch, »Es lief einfach nach dem Kämpf-oder-stirb-Prinzip ab.«
»Ist das hier etwa anders? Wenn ja, muss ich wohl noch ein paar mehr Fitness- und Mehrkampf-Einheiten hinzufügen«, meint er grinsend.
»Bloß nicht, dann werden dich deine Männer noch weniger leiden können, weil ich nicht nur ihren Chef blöd dastehen lasse, sondern sie auch.«
»Pass auf, was du sagst!«, grummelt einer von Watarus Schränken von der Hantelbank. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das wirklich an mich gerichtet ist. Mein Gegenüber für seinen Teil ignoriert den Kommentar.
Als nächsten Trainingsschritt verbietet Wataru mir, mein rechtes Bein im Kampf zu benutzen oder auch nur auf dem Boden abzusetzen. Er beginnt sofort mit einigen schnellen Schlägen und wechselt dabei die Auslage, um mir nicht wieder dieselben Schwächen zu offenbaren. Während er sich kurz neu ordnet, finde ich meine Balance wieder, hüpfe auf ihn zu und kontere meinerseits mit einigen Schlägen. Doch sie entfalten nur einen Bruchteil ihrer Wucht, da ich durch das fehlende Bein keine Schwung aus der Hüfte holen kann. Er erwidert mit zahlreichen Haken und Kicks, kann mich dadurch auch kurzzeitig zum Schwanken bringen, was mich aber vor einem K.O.-Schlag bewahrt, unter dem ich mich wegducken kann. Es ist ein durchgehendes Ringen und mit nur einem Bein scheint er mir ebenbürtig, bis seine Schultermuskulatur am Limit ist und seine Deckung immer weiter nach unten sinkt. Dann kann ich ihn selbst durch die weniger schwungvollen Schläge zu Boden schicken. Als er sich ächzend erhebt, läuft Blut aus seiner aufgeplatzten Augenbraue seine Wange hinab. Mit zu einer Fratze verzerrtem Gesicht streift Wataru sich die Handschuhe ab und wischt sich das Blut von der Wange. Als wäre es ein magisches Relikt, blickt er auf seine rot gefärbten Finger und beginnt zu schwanken.
»Er darf das Blut nicht sehen, Mädchen!«, ruft der Schrank von der Hantelbank alarmiert und versucht vergeblich, seine schwere Hantel schnell auf die Aufhängung zu schieben.
Instinktiv umschließe ich Watarus Hand und suche seinen Blick. Er ist kalkweiß im Gesicht und scheint geistig abwesend. Unbarmherzig klopfe ich ihm gegen die Wange, bis er aufschaut und meinen Blick findet. Er will wieder seine Hand heben und das Blut ansehen, doch ich stemme mich mit aller Kraft dagegen. Schritt für Schritt begleite ich ihn zu dem kleinen Waschbecken im hinteren Teil der Hütte und spüle sorgsam seine Wunde an der Stirn und seine Hände. Inzwischen ist etwas Farbe in sein Gesicht zurückgekehrt und er erwidert meinen Blick munter. Keuchend gesellt sich der Schrank zu uns, der anscheinend endlich seine Hantel losgeworden ist, und sieht Wataru besorgt an. Dieser hat zu sich zurückgefunden, weswegen er mich bis zum Abend aus dem Training entlässt und mir viel Spaß beim Lernen wünscht.
Bevor ich zu Amaterasu zurückkehre, gehe ich in die Gegenrichtung und schlendere an Izanagi vorbei. Dafür, dass die Herrin anfangs so ein Interesse an mir bekundet hat, interessiert sie sich nun kaum mehr für mich. Sie hat mich nicht noch einmal in der Hütte besucht oder gar beim Training zugeschaut, geschweige denn nach meinem Lernstand für den Schulabschluss gefragt. Ich scheine nun einfach nur eine weitere Dienerin, ein weiteres Mädchen in ihrem Gefolge zu sein. Offensichtlich will ich unterbewusst unbedingt etwas Besonderes sein. Aber am Ende bin ich nur ich selbst: ein einsames Mädchen ohne Eltern, das auf der Straße erwachsen geworden ist. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Grübelnd folge ich dem Pfad, der hinter dem Hütten-Dorf durch den Wald führt. Seit des komischen Geräusches und dem Gefühl, hier beobachtet zu werden, bin ich ihn nicht mehr entlang gegangen. Doch nun beruhigt mich das leise Gezwitscher der Wintervögel, die in den hohen Wipfeln sitzen und ihre Kehlen durch den Gesang warm halten. Es ist so eine friedliche Atmosphäre. Und dann höre ich es wieder: ein Knacken, das von einem größeren Lebewesen als einem Reh oder Hasen herrühren muss. Nochmals brechen Äste und ich glaube hinter einem Busch eine Gestalt gesehen zu haben.
Um diesem Spuk endlich auf den Grund zu gehen, schleiche ich zu dem Strauch. Nichts. Weit und breit ist niemand zu sehen. Auch sind auf dem laubigen Waldboden keine Fußabdrücke auszumachen. Nun betrachte ich eingehender den Busch. An einer Stelle, ungefähr in Kniehöhe, fehlen deutlich Blätter. Viele hat der Busch zwar schon abgeworfen, doch dort klafft ein scheinbar kreisrundes Loch zwischen dem vertrockneten Laub. Ich nehme die Abbruchstellen unter die Lupe und bemerke das helle Holz, das mir da, wo Blätter sein müssten, entgegenleuchtet. Die Abbruchstellen sind noch frisch. Sehr frisch.
Erneut schweift mein Blick über den Wald, aber das Knacken ist verstummt und außer einigen segelnden Vögeln kann ich keine Bewegungen mehr ausmachen. Weiter kämpfe ich mich durch das Unterholz, welches zunehmend von Brombeeren verdichtet wird. Wo stachelige Pflanzen wachsen, bleibt man durchaus mit der Kleidung hängen. Doch ich habe kein Glück. Ich finde keine weiteren geknickten Pflanzen oder ausgerissene Stofffetzen. Enttäuscht mache ich mich auf den Rückweg zum Pfad.
Ich habe ihn fast erreicht, da strauchele ich plötzlich und falle zu Boden. Noch bei meinem Versuch, mich aufzurappeln, halte ich inne und starre es an. Es ist schmal und kaum sichtbar, so fein wie eine Spinnenwebe. Es ist ein Haar, wer weiß, wie lange es schon hier liegt. Aber ich bin mir sicher, dass es erst vor kurzem den Weg zum Waldboden gefunden hat, denn es ist sauber und liegt leicht auf der Erde. Außerdem ist es mittellang, gewellt und blond. Ich kenne einzig zwei Menschen, die solche Haare besitzen.
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