)Die Zukunft erschaffen(
Ihre Augen leuchten wie eine Wiese im Frühling. Harmlos, beruhigend, freundschaftlich. Doch dahinter verbirgt sich die Hinterhältigkeit einer Schlange, die nur auf das Vertrauen ihrer Beute hofft.
»Schön, dass wir uns kennenlernen«, antworte ich ruhig und helfe ihr auf. Stattdessen hätte ich ihr aber lieber den Hals umgedreht, weil sie mich Sia genannt hat. Und weil ich vielleicht nie wieder die Chance dazu bekommen würde, sie ungestört zu beseitigen.
Sie lächelt weiter. »Du hast gut gekämpft. Da hat...«, sie stockt kurz, als würde sie überlegen, welchen Namen sie nun einsetzen sollte, »...Wataru ja ganze Arbeit geleistet. Zwei Wochen Training und ein Mädchen von der Straße hält im Kampf gegen mich stand.«
»Nur keine Eifersucht, weil dein Freund nicht so eine hervorragende Arbeit geleistet hat«, zische ich leise. Sie möchte mit offenen Karten spielen, bitte, dann spielen wir eben mit offenen Karten.
Ihre Augen verengen sich. »Dein Schweigen gegen meines, nur damit das klar ist, Kleine. Aber glaube ja nicht, dass ich dich decken werde, wenn du es versaust.«
»Einverstanden.«
Gemeinsam kehren wir zu den Wartenden zurück. Kyoko reißt überrascht die Augen auf, als sie Kaida erkennt, und fällt ihr um den Hals. Kaida winkt ab, als Kyoko sich bei ihr für ihren Aufstand am Morgen entschuldigt.
»Willst du das letzte Stück mit uns gehen und Athanasia bei ihren letzten Herausforderungen beobachten. Sie ist wirklich gut.«
Natürlich stimmt Kaida zu, aber nicht ohne mir ein schelmisches Lachen zuzuwerfen. Wie es aussieht, würden die nächsten Wachmänner noch geschickter vorgehen.
»Damit wir nicht noch bis morgen früh hier herumirren, würde ich euch aber wenigstens den richtigen Weg zeigen.« Fragend sieht sie Wataru an, der zustimmend nickt.
Mit mir an der Spitze macht sich unsere Gruppe auf den Weg. Als wir an dem Loch in der Platte vorbeikommen, schiele ich sicherheitshalber noch einmal hindurch, bevor wir unseren Weg fortsetzen. Ein Gewirr aus Abzweigen scheint uns kreisförmig um ein Zentrum herumzuführen. Langsam ist ein lauter werdendes Gemurmel zu hören. Ein Maskierter kurz vor dem Ziel scheint meinen heutigen Test vergessen zu haben, denn er steht dösend an einer Platte. Seine Maschinenpistole hat er sicher am Rücken befestigt. Mit einer 3er-Kombination wecke ich ihn und erleichtere ihn anschließend um seine Waffe, die ich wiederum auf ihn richte. Wataru nimmt mir die Waffe ruhig ab und schickt den verwirrt dreinblickenden Mann mit einem Nicken weg.
Die beiden bulligen Wachmänner, die mit verschränkten Armen hinter der letzten Ecke stehen, sind hingegen ein ganz anderes Kaliber. Ich kann einige schmerzhafte Treffer landen, doch muss ich umso mehr einstecken. Eine Kopfnuss hätte mich beinahe ausgeknockt, wenn der andere nicht im Moment des Angriffs in seinen Kollegen hinein gestolpert wäre. Ein Ende findet der Kampf erst, als einer mich, meinen Hals umfassend, an einer Spanplatte nach oben drückt und ich so die Chance bekomme, ihm den Kehlkopf zu zertrümmern. Ich stoppe wenige Millimeter vor seinem Hals, aber er spielt mit und lässt sich röchelnd rückwärts fallen. Besorgt beugt sich Schrank Nummer Zwei über ihn, und bietet mir damit seinen Kopf an. Ich deute einen Jump Kick an, trete ihm dann aber nicht gegen den Kopf, sondern gegen die Schulter. Er fällt um wie ein gefällter Baum und bleibt so liegen, bis Wataru auch diese Szene beendet.
»Das war doch für den Anfang sehr ordentlich. Den Kampf gegen körperlich weit überlegene und mehrere Gegner werden wir in den nächsten Tagen noch einmal spezifisch üben. Dann solltest du auch regelmäßig mit auf Ausflüge der Herrin kommen können, denn die Umgebungsanalyse und Gefahrenabschätzung kann man nur in der Anwendung lernen.«
Ich nicke und versuche nach wie vor Aufmerksamkeit zu mimen, doch ich spüre, wie erschöpft ich bin. Es reicht mir für den heutigen Tag. Hoffentlich würde Kyoko mir nicht noch die gesamte Zentrale zeigen wollen. Da steuerte auch schon eine Frau mittleren Alters in einem übergroßen Trenchcoat und mit einer Goldrandbrille auf der Nase auf uns zu.
»Schön, Sie wieder einmal zu sehen, Herrin. Ihr Gatte ist aber bereits aufgebrochen.«
»Ich weiß, ich wollte einfach wieder einmal vorbeischauen und mich auf den neusten Stand bringen lassen. Also, Carla, gibt es etwas Neues?«
Die Frau, Carla, tippt schnell auf ihrem schmalen Tablet herum, dann holt sie tief Luft: »Fausto ist endlich aus dem Geschäft ausgestiegen und hat alles an seine Tochter Alba abgegeben. Sie verhandelt mit Hebi gerade neu wegen der finanziellen Beteiligung. Außerdem möchte sie Green Ephemeral auch in Spanien verkaufen. Es hätten sich wohl schon einige Pferde- und Jagdhundezüchter bei ihr gemeldet, die an unserem Wundermittel interessiert sind. Fausto hat den Import in sein Land bisher ja untersagt, aber wenn seine Tochter jetzt das Sagen hat, wird bald eine Welle der geborenen Sieger die Rennszene überrollen. Natürlich wird Hebi entsprechend den Preis anziehen und den Versuch an Menschen geschickt nach Spanien auslagern. Falls da etwas Unvorhergesehenes passiert, können wir damit wenigstens nicht in Verbindung gebracht werden.«
Kyoko nickt kurz und bedankt sich für die Auskunft. Doch ich bemerke, wie ihre Hände zu zittern begonnen haben. Sie fürchtet sich vor Green Ephemeral, was auch immer das sein mag. Und sie fürchtet den Export des Stoffes. Erst jetzt werfe ich einen prüfenden Blick in den Raum, der sich hinter dem Labyrinth aufgetan hat. Reihen aus Bildschirmen und Arbeitsplätzen türmen sich mehrstöckig vor uns auf. Langsam schlendern wir durch die Zentrale. Nahezu alle Computer laufen auf Hochtouren, während ihre Bediener flink Befehle eingeben. Die umliegenden HD-Bildschirme flimmern bunt und zeigen die unterschiedlichsten Statistiken, Videoaufnahmen von Überwachungskameras und Landkarten von Westeuropa und Ostasien.
Am hinteren Ende der Anlage überragt ein riesiger Tresor das restliche Inventar. Gerade verlässt ein Mann mit verstrubbelten Haaren, einer schief sitzenden Schutzbrille und einem grün befleckten Ganzkörperanzug den monströsen Stahlwürfel. In der Hand hält er eine winzige Ampulle mit einem blassgrünen Pulver. Es scheint zu fluoreszieren. Winkend kommt er auf uns zu.
»Herrin, ich habe es geschafft!«, verkündet er stolz, »Green Ephemeral ist endlich nicht mehr flüchtig. Meine Versuchsreihe von heute Morgen ist in den festen Aggregatszustand übergegangen.«
»Das wird meinen Mann sehr freuen. Ich gratuliere dir, Alejo!«, antwortet sie höflich und zwingt sich zu einem Lächeln. Von der Seite aus betrachtet scheint sie geradezu eine angewiderte Grimasse zu ziehen.
Im nächsten Moment dreht sie sich auf dem Absatz um und sieht uns an wie eine Mutter, die ihre Kinder ins Bett bringen möchte. »So, ich würde den Ausflug jetzt für beendet erklären. Ihr seht alle vier sehr fertig aus und ich sehne mich auch nach etwas Ruhe. Lasst uns nach Hause fahren.«
Dieses Mal setzt sich Kaida an die Spitze und führt uns zurück auf die Straße. Grüßend hebt sie dort die Hand und verschwindet um eine Ecke des Bürokomplexes. Erschöpft sinken wir auf die weichen Autopolster. Wataru wendet und fährt die holprige Straße zurück in Richtung Stadt. Hinter uns erscheint ein schweres Motorrad. Die Fahrerin hält kurz an, setzt sich ihren dunkelblauen Helm auf und folgt uns dann. Als wir an der Kreuzung nach links auf einen Expressway abbiegen, setzt sie sich kurzerhand auf die Spur neben uns und fährt parallel.
»Kaida braucht doch nicht auf uns zu warten«, murrt Kyoko genervt.
Wataru klopft an sein Seitenfenster, sodass die Motorradfahrerin auf uns aufmerksam wird. Eine wegwerfende Handbewegung genügt, damit sie ihr Motorrad zu einer höheren Geschwindigkeit auffordert und vor uns zwischen den LKW verschwindet. Mit zusammengekniffenen Augen betrachte ich den Himmel. Blassgelb flackern die letzten Strahlen der kalten Wintersonne durch die nebligen Schwaden. Ich sehe den flüchtigen Wölkchen zu, wie sie ihren Weg gehen, sich treiben lassen, um sich zusammenzuballen. Als eine riesige Wolke würden sie wahrscheinlich noch kommende Nacht für ein donnerndes Gewitter sorgen und vielleicht den ersten Schnee des Jahres bringen. Gedankenverloren schüttele ich den Kopf. Eine harmlose Schwade kann nichts anrichten, doch viele kleine Wolken lösen die schlimmsten Überschwemmungen aus.
Das selbst leuchtende, grüne Pulver kommt mir wieder in den Sinn. Kyoko fürchtete bereits wenige Milligramm des Stoffes. Was kann diese Substanz nur bewirken, dass sie Angst einjagt und gleichzeitig für Euphorie sorgt? Ich werfe einen kurzen Blick über die Schulter. Kyoko ist in das Polster gesunken und scheint zu dösen. Der Schrank neben ihr beäugt hingegen aufmerksam die Umgebung. Nervös knete ich mir die Hände, da ich nur ungern Kyoko wecken, aber dennoch meine Frage loswerden möchte.
Schließlich fasse ich mir ein Herz. »Was ist eigentlich dieses Green Ephemeral? Warum hat der Chemiker, Alejo hieß er doch, sich so gefreut, dass es ein Pulver geblieben ist?«
»Ich dachte schon, du fragst nie.« Mit leuchtenden Augen taucht das pausbäckige Gesicht von Watarus Kollegen zwischen den Vordersitzen auf.
»Ich war mir nicht sicher, ob mir diese Frage zusteht«, murmele ich unsicher.
»Fragen kannst du jederzeit und zu allem stellen. Ob du eine Antwort bekommst, ist etwas anderes. Wie auch immer: Green Ephemeral ist eine biologische Substanz, die Alejo und zwei unserer Biochemiker entwickelt haben. Ihnen ist es nach zahlreichen Experimenten gelungen, in das Erbgut von einfachen Fledermäusen diesen Stoff einzufügen. Mithilfe von speziellen elektrischen Impulsen kann er aktiviert werden und, um es mal einfach zu formulieren, via Bluetooth von einem Computer angesteuert werden. Am PC kann man sich dann das Tier modifizieren. Unsere Fledermäuse beispielsweise wollten wir widerstandsfähiger gegen starken Wind und Sturm machen. Nach der Modifizierung am Erbgut haben wir sie in der Gegenwindanlage fliegen lassen. In den Wochen vor der Medikamentengabe sind sie unkontrolliert durch die Luft gesegelt, doch durch die Modifikation haben sie innerhalb von einer Woche sehr stark Muskeln aufgebaut, sodass sie nach sieben Tagen bis vor zur Turbine fliegen konnten, wo Belohnungen warteten.«
Geschockt sehe ich ihn an. Warum will irgendjemand eine solche Veränderung von Fledermäusen und wie kann man etwas an diesen Geschöpfen testen, ohne zu wissen, wie die Substanz wirkt? Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt.
»Das größte Problem war bisher, dass der Stoff nur als Gas vorlag. Weder den festen, noch den flüssigen oder plasmatischen Aggregatszustand wollte Green Ephemeral annehmen. Deshalb mussten die Fledermäuse drei Tage lang dem Gas ausgesetzt werden, damit sichergestellt wurde, dass sich der Stoff wirklich im Erbgut anlagert. Keine schöne Angelegenheit für die Tiere. Aber das ist ja nun vorbei, wie du heute gesehen hast.«
»Was genau ist der Sinn dieser Substanz?«
»Ursprünglich wurde Green Ephemeral gesucht, um bedrohte Tierarten zu retten. Viele Arten bekommen den Klimawandel immer härter zu spüren. Deshalb wollte Alejo etwas finden, womit man beispielsweise Schweine hitzeresistenter machen oder den Wasserbedarf von Hühnern mindern kann. Eigentlich wollte er Green Ephemeral auch auf Pflanzen anwenden, aber die Versuche mit Soja- und Reispflanzen sind bisher noch nicht geglückt.«
»Aber was hat der Herr damit zu tun?«
»Alejo hat versucht, seine Idee mit einem Start-Up umzusetzen. Das brachte allerdings nicht genügend Geld, weswegen er sein Projekt nur sehr stockend voranbringen konnte. Der Herr ist über Freunde in Spanien auf die Idee aufmerksam geworden, hat Alejo nach Japan geholt, ihm zwei seiner Biochemiker an die Seite gestellt und unterstützt ihn seitdem finanziell. Dafür gehört ihm zu 50% das Patent von Green Ephemeral. Sollte die Substanz in Spanien also wirklich Abnehmer finden, die ordentlich dafür bezahlen, wird er seinen Anteil sicherlich von Alejo einfordern.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was diese Abnehmer davon haben?«
»Die größte Karriere wird der Stoff sicherlich im Rennsport haben. Stell dir einmal vor, du züchtest ein Pferd mit wunderbarer Abstammung, aber es bringt dennoch nicht die Leistung, die du dir erhofft hast. Also spritzt du ihm Green Ephemeral und pushst beispielsweise seine Schnellkraft. Innerhalb von wenigen Trainingseinheiten wird das Tier ordentlich Muskeln aufbauen und gerade wenn der Eingriff noch während des Wachstums vorgenommen wird, steigert sich das Herzvolumen noch einmal ordentlich. Und schwups, ein paar Millionen in die Dosis Green Ephemeral investiert, aber dafür einen zukünftigen Champion im Stall, der mit Sieggeldern die anfängliche Investition um ein Vielfaches wieder einholt. Dasselbe gilt für Nutztierzüchter. Was sind schon ein paar Millionen für den Stoff, wenn man dann die dreißig Jungtiere pro Jahr der genveränderten Sau um einiges teurer verkaufen kann als die einer konventionellen, hitzeunbeständigen. Verstehst du, worauf ich hinauswill? Das kann ein riesiges Geschäft werden. Allerdings erst, wenn Alejo sicher sein kann, dass die chemische Veränderung des Erbguts auch an Filialgenerationen weitergegeben werden kann und für Menschen unbedenklich ist. Oder wenigstens wieder neutralisiert werden kann, bevor das Schwein als Wurst auf unserem Brötchen landet.«
Wenn es so weit kommen würde, schwöre ich mir, würde ich auf alles Fleisch der Welt verzichten, nie wieder Bratensoße anrühren und auch keine Eier mehr essen. Ich bin von mir selbst überrascht, als ich die aufsteigende Panik in meiner Magengrube spüre. Voll und ganz kann ich nun Kyokos Abscheu gegenüber Green Ephemeral verstehen und ihre Angst vor den Ausmaßen, die dieser Stoff annehmen kann.
Wataru biegt unterdessen auf das Grundstück der Nikushimi ein. Polternd bahnt sich die Limousine ihren Weg durch die Finsternis. Die Kiesel knistern, als wir vor der ersten Hütte zum Stehen kommen. Der Motor erstirbt blubbernd. Ein Gähnen unterdrückend hieve ich mich aus dem Auto und stapfe, einen Gute-Nacht-Gruß über die Schulter murmelnd, in Richtung Amaterasu. Dort herrscht bereits geschäftiges Treiben. Einige Mädchen haben sich Plätze im Esszimmer gesichert, während andere noch vor brodelnden Töpfen in der Küche stehen.
»Hallo«, ruft Jun fröhlich und kommt auf mich zu. Ihre Finger suchen meine Stirn, verweilen kurz und dann nickt sie, »Hat Wataru es mal wieder geschafft, dass du komplett erledigt bist?«
»Wann hat er das denn nicht geschafft?«
»Auch wieder wahr«, antwortet sie kichernd, »Möchtest du ein 3-Gänge-Menü oder die Fischplatte?«
»Ich glaube, ich nehme alles. Bis auf ein paar Bubble Tea heute Mittag habe ich noch absolut nichts im Magen.«
»So schlimm? Wataru hatte eigentlich gesagt, dass er heute noch gnädig mit dir sein will.«
»Wir wissen doch beide, was gnädig bei Wataru bedeutet.«
Sie nickt wissend. »Setz dich doch schon einmal hin. Ich komme gleich mit dem Essen und dann kannst du mir ja erzählen, mit welchen Gemeinheiten er dich heute konfrontiert hat.«
Ich bahne mir einen Weg durch das mittlerweile gut besetzte Esszimmer zu einem kleinen Tisch am hinteren Ende. Die drei tuschelnden Mädchen sitzen zum Glück drei Tische weiter. Da betritt Jun auch schon den Raum und peilt mich mehrere Tabletts stapelnd an. Die Mädchen scheinen zu denken, dass sie ihnen das Essen bringt, und reiben sich begierig die Hände. Doch Jun geht an ihnen vorbei und stellt die beladenen Tabletts vor mir ab.
»Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
»Diese Ecke war am stillsten. Außerdem riecht hier nur eine nach verschwitztem Extremsportler.«
»Na großartig, jetzt riecht man mich schon auf 20 Meter Entfernung.«
Neugierig linse ich in die zahlreichen Schälchen, die nun auf dem Tisch stehen.
»Das ist alles für mich?«, staune ich.
»Naja, es wäre schon nett, wenn du mir wenigstens ein paar Reiskörner übrig lässt.«
»Das ist doch selbstverständlich«, behaupte ich, während ich mir einen überbackenen Fisch-Würfel nach dem anderen in den Mund schiebe. Parallel löffele ich Wan-Tan-Suppe und spieße eine Sushi-Rolle auf. Für einen Moment durchströmt mich ein Glücksgefühl. Ich glaube, im Schlaraffenland zu sein. Alles friedlich, überall die leckersten Nahrungsmittel, Ruhe.
»Und, was hat sich Wataru nun eigentlich ausgedacht?«, durchbricht Jun die wundervolle Stille.
Seufzend wische ich mir die Hände an der Serviette ab, bevor ich mir etwas Algensalat schmecken lasse. Wo sollte ich bei der Erzählung vom heutigen Tag nur anfangen? Am besten von vorne, bei dem schrecklichen Erwachen und dem überhasteten Aufbruch. Vom Waisenhaus, aber nicht von Odio, von dem eigenwilligen Restaurantbesitzer und dem Labyrinth. Von Kaidas und meinem überraschendem Treffen und Green Ephemeral. Es hilft mir, den Tag in meinem Kopf nochmals zu ordnen, obwohl mir die Erinnerungen an früher noch immer in den Knochen sitzen. Das Essen trägt auch nicht dazu bei, dass ich mich wacher fühle, doch ich fürchte mich vor dem Schlafen. Vor den Träumen und Erinnerungen, die mich in letzter Zeit immer häufiger heimzusuchen scheinen.
Zufrieden lehne ich mich zurück und betrachte die geleerten Teller und Schüsseln. Ich bin pappsatt und kann nun kaum noch verbergen, wie müde ich bin. Eigentlich wollte ich Jun anbieten, ihr beim Aufräumen in der Küche zu helfen. Doch nun klappen mir von allein die Augen zu und ich verwerfe die Idee.
»Komm, Athanasia, geh schlafen. Der morgige Tag wird sicher nicht weniger anstrengend.«, sagt Jun sanft, »Ich habe im Übrigen deinen Weckerklingelton umgestellt auf Geisha-Musik. Etwas Anderes gab es leider nicht.«
Erleichtert lächele ich sie an. »Vielen Dank. Ich war selbst erschrocken, was das Piepen mit mir gemacht hat. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Erinnerung als so traumatisch gespeichert habe.«
»In einem familiären Umfeld lernt man eben mehr über sich als auf der Straße. Das habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen.«
»Die Straße hat aber auch Vorteile: die unersetzliche Freiheit und die Möglichkeit das zu tun, was man gerade möchte.«
»Diese Selbstverwaltung hat mich tatsächlich jedes Mal wieder zurück ins Heim getrieben, wenn ich versucht habe, ein unabhängiges Leben auf der Straße zu führen. Mir gefallen zig Regeln besser, als mein eigener Herr zu sein.«
»Ich lege lieber selber fest, dass ich jetzt ins Bett gehe, weil ich müde bin.«
»Ausnahmsweise erlaube ich dir das als deine Vorgesetzte.«
Ich ziehe eine Augenbraue nach oben. »Wolltest du nicht eigentlich auf jegliche Sonderstellungen verzichten?«
»Ja, prinzipiell schon. Aber scherzhaft nutze ich meine Position gern als Drohung.«
»Na dann, ich wünsche dir eine geruhsame Nacht, meine Vorgesetzte!«
Kugelrund gegessen ziehe ich mich die steilen Treppen in die zweite Etage hinauf. Oben angekommen, wanke ich vor Anstrengung. Langsam laufe ich zu meinem Zimmer, schlüpfe dort in meinen Schlafanzug und will mich gerade ins Bett legen, als mich eine Art Sog erfasst. Wie magnetisch angezogen eile ich zum Fenster und sehe hinaus.
Zwischen den Bäumen erahne ich eine Bewegung. Mit schattenhaften Bewegungen schleicht Kaida durch das Wäldchen hinter Amaterasu. Und was ist das? Für einen kurzen Moment glaube ich, einen hellbraunen Schopf zwischen den Wipfeln zu erkennen. Ob Joaquín es wagen würde, für Kaida in so gefährliches Gebiet vorzudringen? Wenn ich ehrlich bin, würde ich es ihm definitiv zutrauen. Leise öffne ich das Fenster und spitze die Ohren. Außer dem heftiger werdenden Wind ist nichts zu hören.
Knack. Angestrengt lausche ich und vernehme im nächsten Moment Kaidas aufgebrachte Stimme: »Jetzt pass doch auf, wo du hintrittst. Ich will mich nicht noch vor meinem Vater erklären müssen. Ein Wunder, dass dieses Mädchen so schnell Fortschritte bei uns gemacht hat. Sie hat ja nicht einmal eine Grundausbildung bei einem guten Lehrer erhalten.«
»Danke, vielen Dank, Kaida! Das ist das, was ich jetzt brauchte.«, giftet Joaquín zurück. Ich kann seine Antwort nur bruchstückhaft hören, doch seine schlechte Laune ist zehn Meilen gegen den Wind wahrzunehmen.
Obwohl ich Joa gegenüber nach wie vor sehr skeptisch bin, fühle ich eine gewisse Erleichterung durch meinen Körper schießen. Es tut gut, jemanden Vertrautes zu sehen, der mich bisher immer freundlich behandelt hat und mir gegenüber stets offen war. Ich sehne mich danach, von ihm zu erfahren, wie es Fukuro, Iago und Noa geht. Wenigstens auf mich aufmerksam machen möchte ich. Eilig hole ich den Funkwecker, der neben meinem Bett steht, und richte das Display so, dass sich das Mondlicht darin spiegelt.
»Was war das?«, höre ich Joaquín erschrocken fragen.
»Wahrscheinlich hat deine kleine Freundin uns bemerkt. Ihr Zimmer liegt auf dieser Seite, allerdings in der obersten Etage.«
»Das ist aber kein gutes Zeichen, wenn sie uns hört, obwohl sie so weit weg ist.«
»Ich sage doch, du bist zu laut. Was machen wir denn jetzt?«
»Sadako, falls du das hören solltest, kannst du gerne zu uns kommen!«
»Was soll das denn jetzt? Ich dachte, wir wollen den Abend endlich mal wieder allein verbringen!«
Joas Antwort bekomme ich nicht mehr mit, da ich schon das Fenster geschlossen habe und mich die Treppe hinunterschleiche. Die Stufen knarzen kaum noch unter meinen Füßen. Über diesen Fortschritt freue ich mich sehr. Kurz spähe ich in die Küche, wo noch immer Geschirr gespült wird. Dann schlüpfe ich durch die Hintertür nach draußen.
Der Vollmond ist vorbei, aber dennoch flutet das Mondlicht die baumfreien Lichtungen des Waldes. Das Laub unter meinen Füßen ist kalt und glitschig und ich beginne bald wegen der eisigen Böen zu frösteln, die durch den Wald fegen. Doch dem Lärm des Windes zum trotz kann ich Joa recht bald orten. Wie Kaida schon feststellte, trampelt er ziemlich unbeholfen durch den Wald. Lautlos husche ich in die Richtung der beiden. Hinter einem dicken Baum gehe ich in Deckung. Kaida zieht Joa händchenhaltend hinter sich her, was diesem überhaupt keine Chance gibt, sich den nächsten Schritt zu überlegen. Vorsichtig husche ich um den Baum herum, lehne mich an dessen moosige Rinde und sehe den beiden entgegen.
Kaida entdeckt mich als erste. Sie hält inne und starrt mich an. Joaquín, der davon nichts mitbekommen hat, stolpert an ihr vorbei und zuckt erst zusammen, als ich mich räuspere.
»Guten Abend allerseits!«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro