)Ankunft mit Hindernissen(
Nachdem ich mich von Akio und Dr. Elric verabschiedet habe, verlasse ich schweren Herzens, gefolgt von meinen neuen Kollegen, die Tierarztpraxis. Draußen werde ich stürmisch von meinen Hunden empfangen, die die ganze Zeit ungeduldig gewartet haben.
»Wir haben dir ja erzählt, dass wir Probleme haben, passende Agenten zu finden, richtig?«, fragt Joaquín langsam, »Vielleicht, vielleicht könnten wir ja die fehlenden Menschen durch vierbeinige Kollegen ersetzen. Straßenhunde gibt es hier ja wie Sand am Meer und wenn wir welche aus deinem Rudel auswählen, kannst du bestimmt leichter brauchbare Agenten-Hunde aus ihnen machen. Sie vertrauen dir offensichtlich sehr.«
Lachend sehe ich den hochgewachsenen, braunhaarigen Mann an. Ich finde es unglaublich amüsant, wie er für Diensthunde eine passende Bezeichnung gesucht hat. Ich meine: Agenten-Hunde? Klingt irgendwie schon witzig. Erst Recht wenn man bedenkt, dass ich überhaupt nicht weiß, wie man Hunden etwas beibringt. Alles, was der zusammengewürfelte Haufen Streuner von mir antrainiert bekommen hat, ist mehr oder weniger spontan und aus einem Bauchgefühl heraus passiert. Andererseits ist es für den ein oder anderen wahrscheinlich auch die einzige Chance, sich ein warmes Plätzchen zu sichern und umsorgt zu werden.
Deshalb stimme ich auch sofort zu: »Natürlich werde ich es versuchen. Ob es klappt, steht auf einem anderen Blatt geschrieben, aber so kommen wenigstens ein paar von den Jüngeren hier raus.«
»Dann wähl schnell fünf oder sechs Hunde aus, sonst verpassen wir noch das Mittagessen im Stützpunkt. Ist schließlich eine ziemlich weite Fahrstrecke bis Yokohama.«, weist Fukuro mich an.
Yokohama ist also unser Ziel. In Gedanken versunken schnappe ich mir Survior und Warrior und reiche sie an die beiden Agenten weiter, die sie zum Auto tragen. In dem Moment schießt Chugi, die es natürlich überhaupt nicht lustig findet, wenn jemand ihre Söhne mitnimmt, knurrend aus der Praxis. Ich versuche sie verzweifelt zu beruhigen, bis sie vorsichtig an den geöffneten Wagen tritt und ein letztes Mal sanft ihre Welpen abschleckt. In der Zwischenzeit wähle noch vier andere Junghunde aus - drei Hündinnen und einen Rüden -, die behutsam zu den anderen ins Auto springen. Zielstrebig bahne ich mir einen Weg durch die aufgeregt durcheinander wuselnden Hunde zu einer kleinen, schwachen Dackeldame, die sich am Rande des Trubels zusammengerollt hat. Schwerfällig hebt sie den Kopf und quält sich in den Stand, als sie mich kommen sieht. Vorsichtig hebe ich das gebrechliche Bündel in meinen Arm. Sicherlich wird es mir nicht vergönnt sein, meine langjährige Freundin wiederzusehen. Doch einen letzten Dienst kann ich ihr noch erweisen, um ihr wenigstens etwas die Schmerzen zu nehmen und noch einmal Lebensfreude zu schenken.
Entschlossen schreite ich voran und betrete nochmals die Tierarztpraxis Dr. Elrics. Diese sagt nichts, nimmt mir einfach die alte Hündin aus dem Arm und trägt sie in ein Behandlungszimmer. Von draußen ertönt ungeduldiges Hupen.
»Mach es gut, meine Freundin. Danke, dass du mir so lange zur Seite gestanden hast.«, flüstere ich ihr hinterher und renne dann zum Auto.
Durch das geöffnete Autofenster streiche ich Chugi ein letztes Mal über den schwarzen Kopf und blicke in die über 30 Augenpaare meiner Hunde. Chugi winselt laut, als das Auto mit heulendem Motor anfährt, lenkt ihr Rudel dann aber bestimmt in den Schatten der Gasse. Außer einigen Übermütigeren, die den Wagen noch einige Zeit flankieren, folgen ihr alle. Survior, Warrior und die anderen Vier zappeln unruhig in dem Karton, der neben mir auf der Rückbank steht. Sie spüren, dass sie sich von ihrer Familie entfernen. Immer weiter und immer weiter. Beruhigend streiche ich über die dreckigen Felle der Junghunde.
Es herrscht absolute, in den Ohren schmerzende Stille in dem SUV, jeder hängt seinen Gedanken nach. Deswegen gebe ich mich dem einschläfernden Tuckern des schokobraunen Nissans hin. Während wir langsam das Stadtgebiet Kyotos verlassen, fallen mir die Augen zu. Ich höre noch, wie die Filmmusik irgendeines japanischen Kinofilms im Radio dudelt. Dann schlafe ich endgültig ein.
Ich schlage die Augen auf. Als ich einen Blick aus dem Auto werfe, quält dieses sich gerade eine lange Serpentine nach oben. Rechts am Horizont glitzert Wasser: der Pazifik. Links erstreckt sich das Massiv des Mount Daimugen. Sonnenstrahlen tanzen auf dem Sitzpolster des Nissans. Fünf Hunde haben es sich inzwischen in dem Karton bequem gemacht. Der Sechste - Warrior - muss irgendwie herausgeklettert sein, denn der liegt als Hunde-Donut auf meinem Schoß. Lächelnd wuschele ich mit meiner Hand durch sein Fell. Als Antwort erhalte ich ein genießerisches Grummeln.
Am Horizont tauchen nun die ersten Häuser auf. Ich vermute, dass sie zu Yokohama gehören, unserem Ziel. Umso näher wir der Stadt kommen, desto aufgeregter werde ich. Die Straße wird nun von hohen Pappeln begrenzt. Der schnelle Wechsel zwischen Sonne und Schatten, den die alten Bäume ins Auto werfen, beschert mir einen Schwindelanfall. Schnell sauge ich die frische Luft ein, die durch Fukuros geöffnetes Fenster hereinweht. Schon überqueren wir die Stadtgrenze. Die Straßen zwischen den riesigen Wolkenkratzern werden immer belebter.
Plötzlich bremst das Auto abrupt. Was soll das denn? Nachdem ich mich von meinem Schreck erholt habe, sehe ich mich um. Das erste, was ich entdecke, ist eine Sushi-Bar auf der anderen Straßenseite. Auch mein leerer Magen scheint die Aussicht auf Essen gutzuheißen, denn augenblicklich gibt er ein Grummeln von sich. Ich muss mich zwingen in die Richtung zu schauen, in die nun Fukuro und Joaquín angestrengt starren. Es ist eine junge Frau, die ihre Aufmerksamkeit erregt hat. Lange, bis zur Hüfte reichende, dunkelbraune Haare fallen ihr über den kräftigen Rücken. Sie steht seitlich zu uns, sodass man nur ihr halbes Gesicht sehen kann. Suchend dreht sie sich um die eigene Achse, bis sie uns ihre andere Gesichtshälfte zuwendet.
Der Anblick eben dieser lässt mich geschockt aufkeuchen. Irgendwie wirkt sie verschoben und verdreht, die Haut ist faltig wie die einer alten Frau. Wenn man nur diese Seite sieht, schätzt man die Japanerin auf Ende 80, obwohl sie sportlich wie eine 30-Jährige zu sein scheint. Im nächsten Moment tritt Joaquín auf das Gaspedal, wodurch die Frau aus meinem Blickfeld verschwindet. Und die Sushi-Bar.
»Wenn du schon einmal wach bist, kann ich dir ja gleich noch eine weitere unserer Spielregeln erklären.«, meint Fukuro plötzlich, als wäre nichts geschehen, »Es ist bei uns Gesetz, dass niemand die wahre Identität des Anderen kennt. Reine Schutzmaßnahme. Bei dir gestaltet sich das natürlich etwas schwieriger, da Toro durch das Boxen eine ganze Akte über dich hat. Dennoch geht nicht jeden unserer Agenten dein richtiger Name etwas an. Deshalb wäre es gut, wenn du dir noch ein Pseudonym ausdenken könntest.«
»Sadako«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen.
»Heißt Sadako nicht "glückliches Kind"?«, fragt Joaquín verwirrt.
»Ja, und? Man wählt den Namen doch nicht nach dessen Bedeutung aus. Außerdem hat meine Mutter mich immer so genannt.«, entgegne ich giftig.
»Was ist eigentlich mit deiner Familie passiert?«, mischt sich Fukuro mit einem desinteressierten Unterton ein, durch den ich glaube, dass sie die Geschichte schon zig Mal gehört hat.
»Autounfall. Meine Eltern sind dabei ums Leben gekommen. Meine Tante wollte nichts von ihrer ungeliebten Nichte wissen, ist mit meinem Erbe abgehauen und hat mich damit auf die Straße gebracht«, antworte ich knapp.
Schnell wende ich mein Gesicht in Richtung Fensterscheibe, damit Fukuro und Joaquín die Tränen in meinen Augen nicht sehen, werde aber durch den Anblick einer stattlichen Villa im Zen-Stil in die Realität zurückgeholt. Ein ordentlicher Garten mit Bux- und Gummibäumen, einem Steingarten und einem kleinen Brunnen empfängt uns. Die lachende Buddhafigur des Brunnens sieht zum Zentrum des Gartens: einem wundervollen Kirschbaum mit ausladenden Ästen und großen, purpurnen Kirschen.
Staunend folge ich Fukuro und Joaquín durch den von Marmorsäulen gesäumten Eingang des Hauses. In der Eingangshalle hängt ein großer goldener Kronleuchter, dessen über 100 Lampen das ganze Haus zu erleuchten scheinen. Fukuro steuert mit drei der sechs Hunde eine mächtige Treppe am anderen Ende der Halle an. Joaquín trägt meine Sachen und einen Hund. Survior und Warrior haben es sich unterdessen in meinen Armen gemütlich gemacht. Wir erreichen den oberen Treppenabsatz und biegen nach rechts ab, vorbei an vielen weiß gestrichenen Holztüren mit goldenen Knäufen. Uns begegnet kein Mensch, obwohl ich hinter manchen Türen leise Gespräche vernehme. Schließlich erreichen wir das Ende des türenreichen Flurs und betreten ein fünfeckiges Dachzimmer mit einem frisch bezogenen Futon. Joaquín lässt meine Tasche in eine Ecke fallen und setzt die Welpen zusammen mit Fukuro in ein geräumiges, mit Zeitung ausgelegtes Kindergitterbett. Müde plumpse ich auf meine Schlafunterlage.
»In einer Dreiviertelstunde gibt es Grüntee und Krabbenchips. Das Mittag haben wir ja leider verpasst. Wir kommen dich dann holen. Aber verlass vorher bitte nicht das Zimmer. Wenn du aufs Klo musst, dann geh jetzt.«, klärt Joaquín mich auf.
Schnell husche ich hinter Fukuro her und verschwinde im Badezimmer. Staunend sauge ich den frischen Duft des Badreinigungsmittels ein. Als ich mir allen Straßendreck von den Händen gewaschen habe, benutze ich neugierig den elektrischen Händetrockner. Etwas glücklicher verlasse ich das Bad. Fukuro führt mich zurück zu meinem Zimmer.
»Wir haben noch kein Welpenfutter besorgt. Was sollen wir den Hunden stattdessen geben?«, fragt Fukuro schließlich.
»Das ist denen egal. Die haben einen sehr abgehärteten Magen, aber sie bevorzugen Geflügelwürstchen«, antworte ich grinsend.
Wir wechseln einen amüsierte Blick. Dann schließen die beiden die Tür und ich bin mit den winselnden Welpen allein.
Ich habe gerade all meine Sachen in den Schrank gepackt, als es klopft und Fukuro hineinspäht. Wir schnappen uns die sechs Welpen und laufen durch das Labyrinth aus Türen. Die, die vorher verschlossen waren, stehen nun offen und ich sehe in ordentlich aufgeräumte Zimmer. Schnell springen wir die Treppe nach unten und steuern eine unauffällige Schiebetür gegenüber der Treppe an. Drei Schritte später finde ich mich in einer großen, hellen Küche wieder, in der es nach Reis und Grüntee duftet. Sofort meldet sich mein leerer Magen. Belustigt wirft Fukuro mir einen Blick zu, der wohl »Jetzt gedulde dich doch wenigstens noch ein paar Minuten« heißen soll.
Wir setzen die jungen Hunde auf den Boden. Diese haben die sechs unterschiedlich großen Schüsseln - improvisierte Futternäpfe - schon entdeckt und rennen darauf zu. Da schießt plötzlich ein braun-schwarzer Dobermann um die Ecke und knurrt die erschrockenen Welpen drohend an. Fukuro und ich halten geschockt die Luft an, als ein älterer Mann humpelnd in den Raum tritt. Energisch greift er ihm, mit der anderen Hand auf einen Gehstock gestützt, über das Maul. Diesen Maulgriff kenne ich sehr gut von Chugi.
»¡Ya está bien, Riley!«, schnauzt er den Hund rau an. Geduckt und mit eingeklemmtem Schwanz verzieht sich der Dobermann in das anliegende Zimmer.
»Lo siento, Señorita«, beteuert er bedauernd und folgt seinem Hund ins Nachbarzimmer.
Ziemlich verwirrt wende ich mich Fukuro zu, doch diese zuckt nur hilflos mit den Schultern. Die Welpen haben den Vorfall offensichtlich im Angesicht der Massen an Futter wieder vergessen, denn sie inhalieren bereits die kleingeschnittenen Würstchen und seufzen zufrieden. Fukuro schiebt mich nun auch in das angrenzende Nebenzimmer. Auf einer langen Tafel stehen dort vergoldete Kerzenständer. Ringsum sind Teetassen ordentlich verteilt. Ungefähr 30 Augenpaare starren mich an, Unterhaltungen werden unterbrochen und ein gespanntes Schweigen senkt sich über den Saal. Fukuro manövriert mich zielsicher an das andere Ende der Tafel, obwohl ich lieber schreiend davongerannt wäre. Unsicher setze ich mich neben den alten Spanier von vorhin, der an der Stirnseite des Tisches Platz genommen hat. Erst als ich sitze, bemerke ich, dass sich die Dunkelheit unter dem Tisch bewegt. Plötzlich schnappt eine Schnauze nach mir. Würde ich das nicht von übermütigen Junghunden kennen, hätte ich wahrscheinlich ein paar Finger eingebüßt. Mit meiner linken Hand schlage ich rasch nach der Nase des Dobermanns, sodass dieser sich winselnd unter den Tisch zurückzieht. Etwas leid tut er mich schon, doch immer noch besser, als ein paar Gliedmaßen zu verlieren. Der Alte neben mir hebt die Hand, um um Ruhe zu bitten. Allerdings sind schon alle dank meines Erscheinens still und werfen sich belustigte Blicke zu.
»Kommen wir zuerst zu unseren neusten Entwicklungen. Fukuro und Joaquín wollen uns sicher die neue Kollegin vorstellen.«, wendet er sich in gebrochenem Japanisch an meine Koordinatoren. Er spricht nicht laut und doch schallt seine Stimme deutlich durch den Raum.
»Sadako gehört mit sofortiger Wirkung zum Team. Toro hat sie persönlich ausgewählt und ausgebildet. Sie lebte bis jetzt auf der Straße, weswegen wir sie auch wieder als Bettlerin tarnen wollen.«, erhebt Fukuro das Wort.
Vom anderen Ende des Tisches ertönt ein sarkastisches Schnauben. Ein braungebrannter, junger Mann lehnt sich nach vorn. Dabei fallen ihm schlohblonde Haare strähnig ins Gesicht.
»Wollt ihr das wirklich durchziehen? Ein kleines, naives Mädchen für uns arbeiten lassen?«, fragt er mit spitzbübischem Grinsen, »Ist Toro wirklich so verzweifelt, dass er inzwischen alles und jeden nimmt? Sogar diese verflohten Streuner da draußen?«
»Ich bin mir sicher, dass Sadako einen besseren Job machen wird, als du und dein Bruder zusammen!«, mischt sich ein Agent ein, der denselben Teint, dieselben Haare und dieselbe Stimme hat.
Als er sich zu mir umdreht, bemerke ich erst, dass er offensichtlich der Zwillingsbruder meines Peinigers sein muss. Verletzt schnappt dessen Bruder nach Luft, doch anscheinend ist er noch nicht fertig mit seiner Ansprache.
»Ihr habt meine Fragen immer noch nicht beantwortet. Um bei uns als Agent arbeiten zu dürfen, muss man erst die Aufnahmeprüfung bestehen und die Eingewöhnungszeit überleben. Oder gelten für die da andere Regeln, nur weil sie von der Straße kommt? Kann Toro die überhaupt objektiv einschätzen oder hat er sie aus Mitleid genommen?«
Aufgebracht presse ich meine Hände an die Stuhlkante, um nicht aufzuspringen und diesem Respektlosen meine Faust ins Gesicht zu platzieren. Doch der Alte neben mir streicht beschwichtigend über meine Schulter. Die anderen Agenten sehen mich an und warten sichtlich auf eine Reaktion meinerseits, aber ich will ihnen nicht die Show bieten, die sie erwarten, und bleibe ruhig.
»Odio, hör auf, Hass und Zwietracht hier zu säen. Damit bringst du nämlich niemanden weiter, im Gegenteil, du riskierst damit, dass unsere Teamfähigkeit Schaden nimmt. Sadako ist neu, sie weiß noch nicht, wie es hier läuft, und hat wirklich eine Chance verdient. Auch von dir. Sieh zu, wie du das wiedergutmachen kannst, sonst gehört der nächste Flieger in die spanische Provinz dir.«
Beschämt sieht der junge Mann zu Boden. Es beruhigt mich ungemein, dass der Alte einen so großen Einfluss auf den Blonden hat.
»Odio hat mich aber gerade auf die Idee gebracht, dass wir ja mal wieder ein kleines Quiz veranstalten könnten. Beim letzten Mal wurde dem Verlierer« - alle sehen zu Joaquín - »der Agentenleben-lange Treppenputzdienst auferlegt. Heute spielt Odio mit Exterminio gegen Sadako mit Fukuro um den Geschirrdienst. Solange der Verlierer hier ist, muss er das Geschirr sauber und ordentlich aufgeräumt halten. Ich werde euch Rätselfragen stellen. Das Team, das die Frage schneller und richtig beantwortet, bekommt einen Punkt. Wer zuerst fünf Punkte hat, gewinnt und kann den Geschirrdienst an den Gegner abgeben. Es gibt allerdings noch eine Regel: Es dürfen immer nur Sadako und Odio antworten, die anderen beiden sind Berater.«
Das entwickelt hier sich gerade in eine völlig falsche Richtung. Ich bin keine schlechte Schülerin gewesen, aber nach dem Tod meines Vaters hat es mich einfach nicht mehr interessiert. Außerdem liegt diese Zeit schon eine ganze Weile zurück. Ich schlucke nervös. Es würde mich viel eigene und Trainingszeit mit den Hunden kosten, wenn ich verliere. Odios hämischer Blick trifft meinen eingeschüchterten und ein fieses Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.
Ohne Vorwarnung schneiden die Worte des Alten durch die Luft:
»Was ist größer als Gott und bösartiger als der Teufel; die Armen haben es, die Reichen brauchen es; und wenn du es isst, stirbst du. Was ist damit gemeint?«
Verzweifelt sehe ich Fukuro an. Doch diese zuckt auch nur ratlos mit den Schultern. Zusammenhangslose Wörter wirbeln durch meinen Kopf und verfangen sich in einer unendlichen Spirale aus Gedanken. Mithilfe all meiner geistigen Kraft schaffe ich es, mich auf einen Gedanken zu konzentrieren: Geld. Arme brauchen Geld, Reiche wollen noch mehr davon; es kann Menschen zum Schlechten verändern. Doch die Sache mit dem Essen passt nicht dazu. Für Macht und Luxus gilt dasselbe. Glücklicherweise scheinen Odio und Exterminio ebenfalls keinen Lösungsansatz zu haben. Nach zwei Minuten ertönt ein leiser Gong.
»Hatte ich nicht gesagt, dass es maximal 120 Sekunden Bedenkzeit gibt? Jetzt müsst ihr einen Tipp abgeben.«, erläutert der alte Spanier, »Odio beginnt.«
»Es tut mir furchtbar leid, Iago, aber ich habe absolut keine Ahnung, was du damit meinst. Ist es vielleicht ein Berg aus Gold?«
Stille kehrt im Raum ein. Alle halten die Luft an, bis der Alte ganz langsam den Kopf schüttelt. Beschämt lässt der Blonde den Kopf hängen. Dann wenden sich alle mir zu.
»Was denkst du, Sadako?«
»Ich denke....nichts.«, gebe ich bedauernd zu.
»Das ist die richtige Antwort. Kannst du uns das erklären?«, platzt es aus dem Alten heraus.
Verdattert starre ich ihn an, dann geht mir ein Licht auf: »Natürlich! NICHTS ist größer als Gott, NICHTS ist schlimmer als der Teufel, die Armen haben NICHTS, die Reichen brauchen NICHTS und wenn man NICHTS isst, stirbt man!«
»Das war absolut korrekt. Der erste Punkt geht an Sadako!«
Höflicher Applaus ertönt, während sich Genugtuung gegenüber Odio in mir ausbreitet.
»Kommen wir zur 2. Aufgabe: Wenn man es braucht, wirft man es weg; wenn man es nicht braucht, holt man es wieder zurück. Was ist das?«
Odio grinst triumphierend: »Ein Anker natürlich!«
»1:1«, lässt der alte Spanier nur verlauten, »Nächste Frage, nun gibt es zwei Punkte: Es hat zwei Flügel und kann doch nicht fliegen; es hat einen Rücken und kann doch nicht liegen; es trägt eine Brille und kann doch nicht sehen; es hat ein Bein und kann doch nicht stehen; zwar kann es laufen, aber nicht gehen. Was habe ich beschrieben?«
Es vergehen wieder ganze zwei Minuten, dann hat Fukuro plötzlich einen Geistesblitz. Leise flüstert sie mir die Lösung ins Ohr. Ich sehe allerdings auch, dass die Brüder auf Fukuros Mund geschaut haben.
»Die Nase«, antworte ich schnell, doch Odio spricht zeitgleich mit mir die Lösung aus.
Der Alte lächelt amüsiert.
»Einer von euch beiden hat geschummelt«, murmelt er wissend, »Rileys Stunde ist gekommen.«
Im selben Augenblick schießt der Dobermann unter dem Tisch hervor und wandert langsam durch den Raum. Bei Fukuro und mir bleibt sie nur kurz stehen und schnüffelt. Dann eilt sie durch das Zimmer und setzt sich neben die beiden Zwillingsbrüder. Sie sucht den Blick ihres Herren, kehrt nach einem leisen Flöten seinerseits zu ihm zurück und rollt sich wieder unter dem Tisch zusammen. Erleichtert atme ich auf.
»Damit gehen die zwei Punkte an Sadako. Es steht 1:3!«, verkündet der Alte begeistert.
Nun ertönt schon deutlich begeisterter Applaus.
»Matchball für Sadako. 4. Aufgabe: Das Kalte mache ich warm, das Heiße mache ich kalt; es hat mich reich und arm, wer lang mich hat, wird alt. Was meine ich diesmal?«
Die ideenlose Spirale in meinem Gehirn setzt ihre Arbeit fort und lässt mich verzweifelt zurück. Meine Gedanken schweifen sogar noch ab. Zu meinen Hunden. Wie es ihnen wohl geht? Als ich noch klein war, habe ich tote Tiere immer "Luftlose" genannt. Hoffentlich haben meine Familie und vor allem Akio noch viel Zeit, bevor sie unter die Luftlosen gehen.
Da vernehme ich plötzlich Odios Stimme: »Das ist eindeutig der Atem!« Arrogant grinst er mich an, als der Alte bestätigend nickt.
»3:3, aber die letzte Aufgabe hat es in sich. Der, der es macht, benutzt es nicht; der, der es kauft, braucht es nicht; der, der es bekommt, hat davon nichts. Was ist die Antwort des letzten Rätsels?«
Dieses Gefühl der Ahnungslosigkeit lässt mich langsam an meinem Verstand zweifeln. Ich gehe so intensiv diverse Möglichkeiten durch, dass der Krupuk, den ich in der Hand halte, zu Boden fällt. Mit einem eleganten Fuchssprung, durch den der gesamte Tisch durchgerüttelt wird, stürzt sich Riley auf den Krabbenchip, verschlingt ihn und schaut mich dann versöhnlich an. Lächelnd lasse ich einen weiteren Chip im Maul der Hündin verschwinden. Plötzlich dreht Riley sich auf den Rücken. Doch ich habe schon zu viel Zeit verloren, um jetzt auch noch die Hündin zu streicheln. Eilig versuche ich mich wieder auf die Aufgabe zu konzentrieren, aber mein Blick kehrt zurück zu Riley. Sie liegt immer noch auf dem Rücken, richtet die Augen starr geradeaus und scheint kaum zu atmen. Als wäre sie eine Luftlose, denke schmunzelnd. Toller Trick.
»Tod«, grübele ich laut.
Alle sehen mich verwundert an, da sie mit meinem Gemurmel nichts anfangen können.
»Sarg, das beschriebene Etwas ist ein Sarg!«, führe ich meine Überlegung nun lauter fort.
»Odio, ab heute bist du offizieller Geschirr-Verantwortlicher! Sadako hat dich soeben mit 3:5 geschlagen!«, stellt er mit stolz leuchtenden Augen fest.
Der Schrecken steht Odio ins Gesicht geschrieben.
»Aber Iago, das kannst du doch nicht mit mir machen! Wir hätten ja gewonnen, aber die da hat Hilfe von dem Hund bekommen.«
Odios Bruder formt ein stummes »Lass gut sein, Bruderherz« mit seinen Lippen. Doch mir treibt Odio mit seiner Beschwerde die Schamesröte ins Gesicht. Er hat Recht. Ohne Riley hätte ich die Aufgabe nicht lösen können.
»Aber Odio, das ist doch bloß ein Hund, der nicht einmal irgendeine menschliche Sprache versteht. Wie soll Riley Sadako denn deiner Meinung nach geholfen haben?«, fragt der Alte.
Als er mir einen Blick zuwirft, erkenne ich, dass er das eben Gesagte nicht wirklich ernst meint. Wie zur Entschuldigung wandert seine linke Hand unter den Tisch und wuschelt Riley über das Nackenfell.
»Damit hätten wir den ersten Tagesordnungspunkt abge...«, beginnt Iago, als Odio schweigt. Doch weit kommt er nicht.
Neugierig schlendern meine Welpen in den Raum. Ein allgemeines »Oh, wie süß« geht durch den Raum, als sie sich dem Tisch nähern. Riley, die bereits leise knurrt, scheinen sie nicht zu bemerken. Schnell packt Iago die Hündin am Nacken, bevor sie losstürmen kann. Ich schnappe mir mit der linken Hand eine volle Schale mit Krupuk und mit der rechten Warrior, der die Aktion sicherlich angezettelt hat. Eilig verlasse ich den Raum in Richtung Küche. Der alte Spanier folgt mir mit der wütend im Halsband hängenden Riley durch die Eingangshalle in den Garten, wo er sie frei laufen lässt. Kurz höre ich noch, wie Fukuro mit dem nächsten Tagesordnungspunkt fortfährt, dann schlägt die Tür hinter Iago zu.
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