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)Anderen Chancen geben(

Ich reiße die Augen weit auf. Wasser prasselt mir schmerzhaft ins Gesicht, weshalb ich die Augen automatisch wieder schließe. Ich taumle seitwärts, klammere mich an den Duschschlauch und sauge gierig Sauerstoff in meine leeren Lungen. Hustend betätige ich den Knopf der Dusche, der den Wasserfluss kurz unterbricht, greife langsam nach dem Shampoo und verteile es auf meinem Kopf. Währenddessen stiere ich die gelblich verfärbten Fliesen mir gegenüber auf der anderen Seite des Raumes an.

Was ist das immer? Werde ich bei diesen Flashbacks bewusstlos? Wodurch werden sie ausgelöst? Sind das überhaupt Erinnerungen? Jedes Mal, wenn ich von meiner Familie träume, scheine ich nicht am Geschehen beteiligt zu sein. Ich beobachte die kleine Sia, als wäre sie die Schauspielerin in einem Familienfilm. Habe ich wirklich in diesem Haus gewohnt? Oder wünsche ich mir, dass so mein Leben vor der Straße aussah? Kenne ich meine Eltern überhaupt? Oder stelle ich mir so das Familienleben vor? Ist Toro nicht vielleicht die einzige menschliche Familie, die ich je hatte?

Wie in Trance schalte ich die Dusche wieder an. Zufällig gleitet mein Blick zu dem Mädchen mit den langen Haare. Sie schaut in meine Richtung, scheint dabei aber durch mich hindurch zu schauen. Ihre Augen sind starr geradeaus gerichtet. Als sie meinen prüfenden Blick bemerkt, dreht sie den Kopf weg, schaltet die Dusche aus, schnappt sich ihr Handtuch und flüchtet in den Vorraum. Verwirrt runzle ich die Stirn. Was ist denn mit der los?

Nach einem zweiten Mal einseifen stelle ich die Dusche ab. Mit dem Handtuch rubble ich meinen Körper und meine mittlerweile recht langen Haare annähernd trocken. Bevor ich anfange zu frösteln, schlüpfe ich in die eintönigen Kleidungsstücke. Neugierig bummle ich in den Aufenthaltsraum, der zu dieser frühen Stunde schon erstaunlich gut gefüllt ist. Die vielen dunkelroten Punkte der Leihkleidung an den Körpern der anderen Besucher verschwimmen zu einer Masse. Wie soll ich zwischen diesen ganzen Leuten nur das Mädchen finden? Für einen kurzen Moment glaube ich sie am Tischkicker zu sehen, doch gerade als ich zu ihr laufen will, legt sich eine Hand auf meine Schulter.

Schwungvoll reißt Exterminio mich herum. Er schmunzelt mich verschmitzt unter seinen blonden Haaren an. In den bordeauxfarbenen Klamotten sieht er aus wie eine lachende Kirsche.

»Na, fühlst du dich jetzt besser?«, necke ich ihn.

»Oh ja, ich bin so sauber und fast wieder ein Mensch.«

Ich verdrehe die Augen, muss aber gleichzeitig lachen, weil wir dieses Gespräch an diesem Ort zu dieser Zeit jede Woche führen. Ich deute über die Schulter zum Tischkicker und fordere ihn heraus, in der Hoffnung, mit dem Mädchen in Kontakt zu kommen. Als wir uns einen Weg durch die zahlreichen Jugendlichen gebahnt haben und vor dem Kicker stehen, muss ich enttäuscht feststellen, dass die Langhaarige fort ist. Verärgert lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Sie kann ja noch nicht weit sein.

Es kommt, wie es kommen muss: Während ich mich suchend umblicke, laufe ich ungebremst in einen der Steuerungsstäbe des Kickers, der sich sofort schmerzhaft in meine Magengrube bohrt.

Eilig schlucke ich die aufkommende Übelkeit hinunter, beuge mich schnell zu meinen Schuhen, damit niemand - vor allem nicht Exterminio - mein Malheur bemerkt. Doch der junge Spanier hat den Vorfall mitbekommen und hockt sich neben mich.

»Geht's dir gut? Willst du dich da auf die Bank setzen?«

Stumm schüttle ich den Kopf und bleibe einfach in der kauernden Position. Langsam lassen Schmerz und Übelkeit nach, sodass ich mich an Exterminio festhaltend nach oben ziehen kann. Einen Moment hält er noch meine Hand und sieht mich prüfend an. Nur keine Schwäche zeigen, sonst lässt er mich nie los. Schließlich scheint er sich genug vergewissert zu haben und geht zur anderen Seite des Kickers. Meine Hände zittern, als ich sie an die Griffe der Steuerungsstäbe lege.

Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Ich schaue zu dem Blonden auf, der mich noch immer beobachtet und nicke, damit er den Ball einwirft. Im selben Moment entdecke ich das Mädchen am Durchgang zum Empfang. Sie blickt in meine Richtung, ihr Gesicht ist vorwurfsvoll verzerrt und ihre Augen scheinen in mein tiefstes Innerstes zu schauen. Während Exterminio den Ball einwirft und ihn sauber in meinem Tor versenkt, starre ich wie hypnotisiert in die hellen Augen des Mädchens. Sie scheint keine Iren zu haben oder wenn doch, müssen sie von so blasser Farbe sein, dass sie im Vergleich zu ihrer weißen Umgebung unsichtbar erscheinen.

Das Mädchen schiebt ihre Haare hin und her. Dieses Verhalten erinnert mich an eine Schleiereule, die zum Lauschen die Federn ihres Schleiers unterschiedlich ausrichtet. Jetzt muss ich sie doch erwischen. Deshalb lasse ich Exterminio stehen und bahne mir wieder einen Weg durch die anderen Obdachlosen. Gerade als ich bei ihr anzukommen scheine, wirft sie sich ihre langen Haare über die Schulter und verschwindet um die Ecke. Ich beginne zu rennen, doch als ich an der Rezeption ankomme, ist von dem Mädchen nichts mehr zu sehen. Eigentlich will ich nur auf die Straße stürmen, um sie vielleicht doch noch zu erwischen, doch die faultierartige Empfangsdame hält mich mit überraschend eisernem Griff fest.

»Was hatte ich dir vorhin bezüglich der Leihkleidung gesagt, junge Dame?«, fragt sie scharf und schaut mich böse an.

Leise murmele ich die Antwort und mache mich auf den Weg zurück in den Aufenthaltsraum. Ich will gerade um die Ecke biegen, als ich eine kleine Gestalt mit wehendem Mantel an der Eingangstür vorbei huschen sehe. Sie wirft einen kurzen Blick in den Empfangsraum und begegnet meinem. Fast weiße Iren. Mist, wie hat es dieses kleine Mistding bloß geschafft, trotz Leihkleidung so schnell zu verschwinden? Wutschnaubend kehre ich zu Exterminio an den Kickertisch zurück. Wie kann es sein, dass ich nicht einmal ein kleines Mädchen zu fassen bekomme?

»Da bist du ja wieder! War dir doch noch schlecht? Du bist ja gerannt, als wäre Satan persönlich hinter dir her.«

Ich nicke nur. Was soll ich ihm auch sagen? 'Nein, weißt du, Exterminio, da war ein Mädchen mit komischen Augen, das mich die ganze Zeit angestarrt hat. Ich wollte sie darauf hinweisen, dass das unhöflich ist, aber sie hat einfach die Flucht ergriffen.'

»Peinlicher geht doch gar nicht. Da denkt er ja gleich, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe.«, lege ich kopfschüttelnd für mich fest.

»Was hast du gesagt?«

»Du sollst endlich losspielen, bevor mir gleich wieder übel wird.«

»Ich bin mir zwar sicher, dass du das nicht gesagt hast. Aber wenn du dich jetzt bereit fühlst, richtig zu verlieren, dann bitte. Du hast es nicht anders gewollt.«

Klappernd lässt er die Kugel auf das Spielfeld rollen.

»3:1:0 für Sia! Das ist mein Mädchen!«

Lachend nahm der Vater seine Tochter in den Arm, während er sich eine gräuliche Strähne aus dem Gesicht wischte. Er sah müde aus, das Lächeln erreichte nicht einmal annähernd seine Augen, doch er versuchte die Fassade aufrecht zu erhalten. Für seine Tochter.

»So, Mama ist an der Reihe.«, stellte die Kleine fest und reichte ihrer Mutter einen neongelben Tennisball.

Diese holte aus und warf ihn durch den halben Flur. Scheppernd stürzten einige der aufgeschichteten Dosen von der Pyramide. Sie blickte liebevoll zu ihrem Mann, der den neuen Punktestand verkündete. Doch dieser ignorierte ihre Zuneigung. Zu tief saß der Schmerz des Geständnisses. Ihres Verrats.

Wieder und wieder versenkt Exterminio die kleine, weiße Kugel in meinem Tor. Wäre sein spöttisches Lachen nicht, wäre es mir wahrscheinlich egal gewesen. Mich interessiert viel mehr, um welchen Verrat es in meinem Flashback geht. Was hat meine Mutter meinem Vater wohl gestanden? Wieso ist dieser Tagtraum an der entscheidensten Stelle abgebrochen?

»Oh, mein Shirt!«, ruft Exterminio plötzlich begeistert aus.

Er hetzt an mir vorbei zu einer Wand mit Kleiderbügeln, an denen die aus der Wäsche kommenden und vom Trockner entfeuchteten Klamotten aufgehängt werden. Ganz oben erkenne ich meinen Parka, die zerfetzte Jeans und meinen alten, violetten Wollpullover. Exterminio hat sich inzwischen seine dunkelgrüne Arbeitshose und sein geliebtes, grau verwaschenes Shirt vom Bügel geholt. In einem Beutel hinter dem Bügel befindet sich die jeweilige Unterwäsche. Das fällt dem Spanier allerdings erst ein, als er fast an den Umkleiden angekommen ist. Vollbeladen marschiert er zurück, reißt den Beutel von der Wand und verschwindet mit großen Schritten hinter dem Vorhang einer Umkleidekabine.

Ich schlendere gemütlich hinüber und nehme langsam mein Zeug von der Wand. Gerade als ich gehen will, fällt mir Exterminios khakifarbener Wintermantel auf, nach dem eben ein groß gebauter etwa 20-jähriger Mann greifen will. Seine Aufmerksamkeit gilt Exterminios Umkleidekabine. Ich quetsche mich schnell zwischen ihm und dem Anorak hindurch, nehme ihn dabei unauffällig vom Haken, lächle den finster dreinschauenden Jungen dabei zuckersüß an und mache mich schleunigst aus dem Staub. Gerade rechtzeitig kann ich mich in eine Toilette retten, als zwei bis zur Nasenspitze tätowierte Frauen zu dem Mann stoßen und dieser peinlich berührt das Verschwinden des Mantels bemerkt.

Eilig schlüpfe ich in meine Kleidung, verlasse das Klo in dem Moment, in dem die beiden Frauen den Unglücklichen schelten. Leise klopfe ich von der anderen Seite gegen Exterminios Umkleide.

»Was ist denn?«, fragt eine tiefe Stimme, definitiv nicht Exterminios.

Ich höre, wie der Vorhang zur Seite gezogen wird und sich Schritte der Rückseite nähern. Mist! Wo ist denn dieser Kerl schon wieder? Panisch sehe ich mich um und entdecke den blonden Schopf schließlich auf einem Sofa inmitten zahlreicher Jugendlicher. Den Konflikt des Mannes und der Tätowierten hat er offensichtlich nicht bemerkt, während er zwei ihn schüchtern musternden Japanerinnen etwas erzählt. Erbost will ich zu ihm laufen, doch plötzlich steht ein buckliger und mit Warzen übersähter Mann vor mir. Seine Augen, die mit einem Regenbogen einen Farbenwettkampf austragen könnten, starren mich misstrauisch an.

»Was willst du denn, Kleine?«

Eine starke Fahne schlägt mir ins Gesicht. Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu. Das ist eindeutig zu nah. Unsanft schiebe ich ihn beiseite und kläre ihn knapp über das Missverständnis auf. Ich spüre seinen Blick auf mir, als ich endlich zu Exterminio eile. Die drei Streithähne haben sich mittlerweile beruhigt und unter die Übrigen gemischt. Zu nah an Exterminio. Mein Herz rast. Während seiner Erzählungen sieht er sich um und entdeckt mich. Bestimmt nicke ich gen Ausgang. Er macht eine beschwichtigende Geste und fährt, die beiden Mädchen charmant anlächelnd, fort.

Nervös klopfe ich mir auf den Oberschenkel. Die Tätowierten gefallen mir nicht. Ihre Haare sind offensichtlich nur schwarz gefärbt, denn der Haaransatz leuchtet dunkelblond bis rot. Durch die Tätowierungen im Gesicht kann ich nicht erkennen, wo sie herkommen könnten, doch ihre Augen wirken zu rund, zu klobig, zu europäisch. Langsam ziehe ich mich zurück und schlendere mit Exterminios Mantel über der Schulter zum Empfang. Die Schicht der Faltigen scheint beendet, denn an ihrer Stelle lächelt mich nun ein mittelalter Mann an. Er deutet auf seine Kaffeetasse und schaut mich fragend an. Ich nicke müde. Als hätte er darauf gewartet, steht er plötzlich mit einer weiteren Dampfenden da.

Zufällig wandert mein Blick an ihm hinab und bleibt an einem Detail hängen. Ein graues Stück führt aus seinem rechten Schuh in sein Hosenbein. Er folgt dem Meinen. Seine Miene hellt sich weiter auf.

»Keine Angst, ist nur eine Prothese! Ich hatte vor kurzem einen...Arbeitsunfall. Mein Unterschenkel musste amputiert werden und jetzt habe ich dieses total hippe Ding.«

Er zieht sein Hosenbein etwas nach oben, sodass ich das Ende der Konstruktion, das an seinem Knie ist, bestaunen kann. Er wirft den Kopf nach hinten, um sich die Haare seines Ponys aus dem Gesicht zu fegen. Sein Lächeln und seine Laune sind beinahe ansteckend. Und das trotz des ernsten Themas. Unfall. Amputation. Schicksalsschlag. Dennoch scheint es ihn nicht zu verbittern oder gar zu erschüttern. Er macht weiter, lebt weiter. Ein ehrliches Lachen bereitet ihm überhaupt keine Schwierigkeiten. Im Gegensatz zu mir.

Damit er nicht merkt, wie sehr meine Hände zittern, umklammere ich die Tasse und trinke einen Schluck. Fast hätte ich sie fallen gelassen, als plötzlich die Tür schwungvoll aufgerissen wird. Ein eiskalter Windzug bläst mir die Haare ins Gesicht. Prustend schiebe ich sie zur Seite und sehe neugierig zu dem Besucher. Ein etwas breiterer Mann mit Glatze und Bierbauch. Schmunzelnd umrundet er den Tresen und gibt meinem Gegenüber einen leidenschaftlichen Kuss.

»Ist mein Kaffee schon fertig, Schatz?«, fragt er sanft.

Der Prothesen-Mann errötet leicht und beißt sich auf der Lippe herum: »Ja und nein. Theoretisch wäre er fertig, aber dann kam die junge Dame da. Sie sah aus, als hätte sie es nötiger als du.«

Spielerisch kneift er seinem Partner in den Bauch. Dieser wehrt ihn lachend ab und mustert mich dann.

»Ok, Ausrede akzeptiert. Kriege ich trotzdem noch einen Kaffee?«, fordert er Mr. Prothese auf, bevor er mir die Hand entgegen streckt, »Ich bin übrigens Jotaro und der Spaßvogel da ist Kiano.«

»Sadako. Und danke für deinen Kaffee.« Ich kann mich tatsächlich zu einem ungezwungenen Lächeln durchringen.

Er zwinkert mir einfach nur zu.

»Ach hier bist du!«

Exterminio steht plötzlich hinter mir. Seine blonden Haare sind unordentlicher als vorhin und er wirkt hektisch, durch den Wind.

»Kiano, willst du meinen Ersatz-Kaffee vielleicht auch noch an den hübschen Blondie abgeben?«, fragt Jotaro leicht selbstironisch.

»Sehr gute Idee«, stimmt dieser zu und lächelt den Spanier zuckersüß an, der die Geste mit einer nach oben gezogenen Augenbraue quittiert.

Irgendetwas an Kianos Lächeln erinnert mich plötzlich an jemanden. Es ist eine Sequenz, eine winzige Kräuselung an seiner Nase, wodurch selbst diese zu strahlen scheint. Gefahr. Eine Eingebung und ein ungutes Bauchgefühl, das ich nicht wieder loswerde. Schwungvoll setze ich die leere Kaffeetasse auf dem Tresen ab, der unter der Bewegung einen Moment zu schwanken beginnt.

Im selben Augenblick meldet sich Exterminio zu Wort: »Wir müssen los. Komm, Si...« - kurz hängt die falsche Silbe wie eine Rauchschwade in der Luft - »Sadako! Osa und Warrior warten auf ihr Frühstück.«

Ich wende mich zur Tür, als Kiano uns noch etwas hinterher ruft: »Wann seid ihr denn das nächste Mal hier? Ich muss wissen, wann ich zwei Kaffee mehr kochen soll.«

»In einer Woche, gleicher Ort, gleiche Zeit«, presse ich hervor, bevor die Eingangstür hinter mir ins Schloss fällt.

Als ich noch einmal durch die Glasscheibe nach Innen sehe, küssen sich Jotaro und Kiano schon wieder. Beobachtet durch die beiden Tätowierten, die um die Ecke des Aufenthaltsraumes schielen. Für einen kurzen Augenblick glaube ich, einen direkten Blickwechsel Kianos mit den Frauen zu bemerken. Dann zieht Exterminio mich weiter und die Szenerie bleibt nur schemenhaft vor meinem inneren Auge zurück.

Schweigend eilen wir zu unserem Quartier. Die Hunde begrüßen uns erfreut, werden noch begeisterter als wir ihnen ihre tägliche Handvoll Futter geben. Außerdem liegen zwei neue Briefe, für jeden einer, auf ihren üblichen Plätzen im Futter unserer Schlafunterlagen. Wir setzen uns Rücken an Rücken auf seine Matratze und reißen die Briefe auf.

Hey, Sia!
Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben, dass deine Hunde nun allesamt wohlauf und gesund sind. Über Folgendes behältst du bitte Stillschweigen, da ich es nicht einmal wissen dürfte: Toro hat dein Elternhaus gekauft und eine Firma beauftragt, es 1:1 wieder aufzubauen und um einen großen Wintergarten mit Geräten für verschieden alte Hunde zu erweitern. Eine Art Paradies für deine Straßenhunde, wo diese inklusive Kim und zwei weiteren Tierpflegern nach Abschluss ihrer medizinischen Behandlung hinziehen werden. Also was auch immer dir passiert, deine Hunde sind...

»Jetzt reicht es aber, Brüderchen! Ich habe langsam die Nase voll von deinen Spielchen!!«, stößt Exterminio wütend aus.

Verwirrt drehe ich mich zu ihm um. Noas Worte hallen noch in meinem Kopf nach, vermischen sich da mit Exterminios und sinkern wie Säure durch meine Gehirnkanäle. Hinterlassen ein Schlachtfeld der Fassungslosigkeit. Meine Hunde würden sicher sein. Sie wären versorgt, auch wenn ich nicht überlebe. Aber was hat Odio seinem Bruder geschrieben? Ich versuche, den Blick des Spaniers auf mich zu ziehen. Dieser bemerkt ihn und scheint auch die Frage dahinter zu erkennen. Nervös schlägt er sich mit der Faust auf die geöffnete Hand.

»Odio bringt mich um, wenn ich dir das erzähle.«

»Naja, da sterben wir wenigstens zusammen. Wenn ich schon mal in der Nähe bin, wird er sich die Chance nicht entgehen lassen.«

Kurz hält er inne und schmunzelt leicht, bevor er besorgt fortfährt: »Du verstehst das nicht. Ist eine Familienangelegenheit.«

»Dann eben nicht. Hast du vorhin die beiden Frauen mit den schlecht getönten Haaren und den tätowierten Gesichtern gesehen?«

»Ja, wieso?« Er versucht die Frage beiläufig klingen zu lassen, doch seine Stimme zittert.

»Die wollten erst deine Jacke klauen lassen und dann sind sie dir so auf die Pelle gerückt, dass ich dachte, sie wöllten dich gleich umbringen. Du hast auf meinen Rettungsversuch nicht reagiert, also war es mir dann auch egal. Jeder ist seines Peches Schmied. Oder so ähnlich.«

Für einen Moment starrt er mich mit ungläubig verkrampften Gesicht an, dann bricht er in Gelächter aus. Während er sich auf die Obschenkel klopft, bringt er hervor: »Ach, deswegen hast du so einen Aufstand gemacht.« Dann lacht er weiter.

Ich fühle mich unwohl, rutsche nervös auf der Matte hin und her und pfeife schließlich Osa heran, um meinem Unwohlsein via Streicheln Luft zu machen. Nach mehreren Minuten kriegt Exterminio sich endlich wieder ein. Doch anstatt mir das Ganze zu erklären, schlägt er vor, nun zu unseren heutigen Tour aufzubrechen. Verärgert stimme ich zu, bis mir der Brief in meinen Händen wieder einfällt. Deshalb schicke ich ihn vor und lese fertig.

Also was auch immer dir passiert, deine Hunde sind versorgt. Dafür werde ich persönlich sorgen. Ehrenwort.
Wenn du übrigens Probleme mit deinem Partner vermeiden willst, bringe das Thema Odio und Familie am besten nie zur Sprache. Die spanische Goldammer macht hier ganz schön Stimmung gegen dich, telefoniert jeden Tag mit Toro, um diesen davon zu überzeugen, dass er an der Seite seines Bruders operieren sollte und nicht du, und schreibt sich bei Briefen an Exterminio die Finger wund. Exterminio ist ein netter Kerl und er will dir auch nichts Böses, aber im Fall der Fälle ist Blut immer dicker als Wasser.
Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ihr auf dem richtigen Weg seid. Vielleicht kommt es euch nicht so vor, als würdet ihr etwas bewirken, aber die Frau Nikushimi Hebis ist in den letzten Tagen erstaunlich oft in der Stadt. Irgendetwas ist in Bewegung, verändert sich. Wenn ihr noch etwas Geduld habt - und vor allem Toro -, dann werdet ihr eure Chance bekommen. Ich verhandle schon eine Weile mit ihm, ob ihr nicht noch bis zum Neujahresfest im Einsatz bleiben könntet. Bis jetzt ist ihm das Risiko noch zu groß und die Indizien zu unbedeutend. Aber ich bin mir ganz sicher, dass er bald überzeugt sein wird. Sobald die Temperaturen unter 0°C kommen, holen sich die Nikushimi immer neue Rekruten von der Straße. Fast kostenlose und treu ergebene Mitarbeiter, wenn du verstehst, was ich meine.
Gedulde dich noch etwas und passe vor allem auf Blondie auf. Er tut, als wäre ihm total warm, derweil kennt er überhaupt keine japanischen Winter und schon gar nicht die auf der Straße. Was auch immer er dir dazu erzählt, du bist die wahre Expertin in Sachen Überleben auf der Straße.

Du weißt, was du mit dem Brief zu tun hast. Ich habe mir erlaubt, dein Streichholz-Lager aufzufüllen.

Grüße, Noa

Zur Sicherheit lese ich mir den Brief nochmals durch und versuche, mir so viele Fakten wie möglich zu merken. Dass Odio mir das Leben weiterhin schwer machen will, finde ich nicht so besorgniserregend wie die Tatsache, dass Noa und ihr Team Regungen im Untergrund registriert haben. Einsatz gut und schön, was das Ziel unserer Mission ist, wird mir aber erst jetzt klar. Undercover in der Nikushimi. Unter organisierten Schwerkriminellen. Auf was habe ich mich da bloß eingelassen. Und bis zum Neujahresfest will ich auch nicht mehr hier sein. Ich habe mittlerweile ein Gefühl für die Strenge des bevorstehenden Winters entwickelt und der kommende wird alles andere als mild sein. Um mich und die Hunde mache ich mir nicht einmal Sorgen, sondern eher um unseren spanischen Kollegen. Er zittert schon bei einem kühlen Luftzug, wie soll er da Wochen im Minusbereich überstehen?

Kurz genieße ich noch die Wärme des brennenden Briefs, dann eile ich Exterminio hinterher. Er hat sich bereits in der Einkaufspassage eingerichtet und schmökert in einer zerknitterten Zeitung, die ihm ein Passant geschenkt haben muss. Im Schneidersitz hocke ich mich neben ihn und überfliege die Schlagzeilen. Durch die breite Straße pfeift eine steife Brise, die mir meine Haare ins Gesicht peitscht. Während ich sie mir wieder hinter die Ohren schiebe, beobachte ich den jungen Spanier. Seine übliche blassrote Gesichtsfarbe ist einem Kalkweiß gewichen und sein Atem geht zitternd. Wenn ich genau hinsehe, erkenne ich sogar ein leichtes Zucken an seinem Unterkiefer, dass er krampfhaft zu unterdrücken versucht.

Er würde einen kalten Winter keinesfalls überstehen. So leid es mir für unsere Mission und Toro auch tut, aber wir müssen abbrechen, bevor Exterminio sich erkältet. Plötzlich springt er auf und beginnt, auf der Stelle zu hüpfen. Es schließen sich einige Fitnessübungen, Sit-ups, Liegestütze, an, bis hin zu Joggen um unseren Sitzplatz.

»Du machst mich ganz nervös mit deinem Gerenne. Kannst du das bitte lassen?«, frage ich leicht genervt.

»Nein, kann ich nicht. Wenn ich nämlich weiter dasitze und nichts mache, wachsen mir Eiszapfen.«

»Gibt es bei dir zu Hause keine Winter?«

»Doch, aber die verbringe ich im Sessel vor dem Ofen oder Tee trinkend an der Heizung. Nichts liegt mir ferner als Wintersport.«

»Mit anderen Worten: Du plädierst für Abbruch, bevor hier der richtige Winter kommt?«

»Ach Quatsch, ich schaffe das schon. Ich muss mich nur akklimatisieren.«

Ich nicke langsam. »Ich schreibe Noa, dass das unsere letzte Woche hier draußen ist.«

»Was? Nein! Ich komme klar.«

»Du hast keine Ahnung, wie kalt es nachts auf der Straße werden kann. Es hat keinen Zweck; deine Gesundheit geht vor.«

»Dann wird Toro mich rausschmeißen und mir eine neue Identität fern von Odio geben, getrennt von meiner einzigen Familie. Dann darf ich in ständiger Angst leben, ob mich einer von Nikushimis Verbündeten findet oder Toro es sich anders überlegt und mich aufgrund des Sicherheitsrisikos beseitigen lässt. Willst du das?« Tränen schießen ihm in die Augen. Er versucht sie wegzublinzeln, doch seine Angst ist stärker.

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