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„Wo bist du, mein Liebling?"
Adea kicherte lautlos in ihrem Versteck auf dem Boden des Kleiderschranks ihrer Mama und spähte zwischen den edlen Stoffen hindurch um ihre Sucherin nicht aus dem Augen zu verlieren. Jen schlich langsam in das Zimmer und sah übertrieben sorgfältig an verschiedenen Orten nach, ob sich ihr kleines Töchterchen nicht vielleicht doch hinter dem Vorhang, oder unter dem Bett versteckte.
„Oh, nein... jetzt hab ich überall nachgeschaut und mein Baby ist verschwunden..."
Die Mama griff nun zu unfairen Mitteln und ließ sich auf das Bett sinken. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen und wartete. Für einige Herzschläge herrschte vollkommene Stille und Adea wurde nervös. Warum war Mami denn traurig? Dachte sie wirklich, dass...
„Mamiii... nicht weinen! Ich bin doch hier! Ich bin nicht weg... ich werde doch immer bei dir bleiben!" Das kleine Mädchen stolperte aus dem Schrank, halb in ein großes Umhängetuch aus feinstem Leinen verheddert und krabbelte die letzten Meter hastig über dem Boden um die Beine der Mutter zu umarmen.
Lachend beugte Jen sich zu ihrer Tochter und hob den niedlichen Fratz in die Höhe, um ihr ganzes Gesicht mit zärtlichen Küssen zu übersähen. „Das weiß ich ja, mein Liebling! Du wirst für immer mein süßer, kostbarer Engel sein!"
Überglücklich schmiegte Klein-Adea sich in die Arme der Mama... hier war sie sicher, hier konnte ihr niemals etwas Böses widerfahren! „Ich hab dich so lieb, Mami!" flüsterte das Kind und die Heilerin lächelte zärtlich. „Ach, mein Liebling... ich liebe dich solange die Sterne am Himmel uns den Weg weisen." Sanft wiegte Jen ihr Kind in den Schlaf, ein glückliches Lächeln auf den Lippen.
Blinzelnd öffnete Adea die Augen und sah sich desorientiert um.
Wo war ihre Mutter nur?
Sie war doch gerade erst in ihren Armen eingeschlafen... als die Realität mit einem scharfen Ruck zuschlug, vergrub das Mädchen das Gesicht in den Händen und schluchzte herzzerreißend.
Ach, Mond... Es tat so weh!
Die Einsamkeit lastete dermaßen schwer auf ihrer Seele, dass Dea kaum Luft bekam.
Draußen wurden allmählich Stimmen laut, was ihr klar sagte, dass sie sich schleunigst in den Griff bekommen musste. Leider hatten Werwölfe ein hervorragendes Gehör und das allerletzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass Swana und ihre Fangirl-Mannschaft sie hier fanden!
Doch das war eindeutig leichter gesagt als getan. Die Schleusen waren geöffnet und der aufgestaute Schmerz der vergangenen Jahre drängte mit brutaler Gewalt nach draußen.
Verzweifelt zog Adea das dicke Federbett über sich, rollte sich darunter zusammen und weinte ihren Kummer in die Matratze.
Warum?
Was hatte sie nur verbrochen, um so gestraft zu werden?
Warum hatte ihr der Mond nur keinen Wolf geschenkt?
Wie konnte es nur sein, dass jemand aus der uralten Blutlinie ihrer Eltern als wertloser Mensch geboren worden war?
Es dauerte eine geraume Zeit, bis Dea's Tränen versiegten und sich eine dumpfe Leere in ihr ausbreitete.
Sie blieb, wo sie war... eingerollt in ihrem Kokon und starrte stumm ins Nichts.
Ein winziger Teil in ihr flüsterte unglücklich, dass Swana ihr einen Ausweg gezeigt hatte. Der Sprung von der Teufelsklippe erschien im Augenblick schrecklich verlockend. Es würde nur ein kurzer Schmerz sein, wenn die scharfen Basaltklippen sie nach dem einhundert Meterfall auffingen.
Und dann wäre sie frei... und ihre Familie wäre zudem von der Schande befreit, einen Menschen in ihren Reihen zu haben.
Und doch konnte Adea sich nicht bewegen. Obgleich ihr Geist merkwürdig losgelöst war, ihr Körper fühlte sich bleischwer an. Teilnahmslos beobachtete das Mädchen wie die herbstliche Sonne langsam über den Himmel wanderte und allmählich kroch ein Gefühl in die Leere.
Sie hatte Hunger.
Und zwar so richtig!
Mühsam kämpfte Dea sich schließlich auf die Beine. Sie würde zwar definitiv den Unterricht heute schwänzen, aber einen Ausflug in die Kantine musste sie einfach riskieren. Das letzte was sie in den Magen bekommen hatte, war das lieblos zusammengerührte Porridge von Linn, serviert unter den abfälligen Blicken von dem Arschloch Stephen.
Hastig fuhr sie sich über das Gesicht und kämmte mit den Fingern ihre zerzausten Ringellocken. Dann zog sie aus dem an der Wand lehnenden Rucksack eine schlichte schwarze Hose und einen grauen Hoddie hervor und zog sich rasch um. Leise schlich Adea zur Tür und lauschte sorgfältig.
Der Lärm der Schülerschaft war nur gedämpft zu hören. Vermutlich sammelten sich die letzten Reste in der Mensa um danach den letzten Unterrichtsblock gemeinsam zu bestreiten.
Wenn sie sich jetzt nur etwas Zeit lassen würde, konnte sie vielleicht ungesehen von den Wölfen etwas essen.
Klar, es würden ausschließlich Reste sein, aber wer nichts hatte, der konnte auch nicht wählerisch sein, oder?
Langsam, die Schatten des nahen Waldes ausnutzend schlich Adea am Schulgebäude entlang und achtete sorgfältig darauf, dass niemand ihren Weg kreuzte.
In der Ferne sah sie ihre Nemesis mit Anhang kichernd und giggelnd, am Arm von Alphasohn Lucien in Richtung der Bungalows schreiten, in denen die Uni-Studenten die Geschichte vom Aufstieg lernten.
Oder wie Adea es nannte: indoktriniert wurden, dass die Werwölfe die Krone der Schöpfung waren
Dass Lucien dort Klassenprimus war, musste wohl nicht erwähnt werden...
Erleichtert atmete Dea auf, wenn die Truppe aus dem Weg war, wurde der Tag doch gleich angenehmer.
Nicht, dass die anderen Schüler ihr gegenüber freundlicher gesonnen waren, oh, Mond... natürlich nicht!
Aber zumindest waren sie nicht so skrupellos, wenn es um den Einsatz ihrer Fäuste ging. Zaghaft betrat Adea die Kantine und atmete verstohlen auf. Nur etwa zehn jüngere Schüler saßen noch an den Tischen und unterhielten sich leise, doch auch diese Gespräche erstarben, als sie den Menschen eintreten sahen.
Das Mädchen zog den Kopf ein und schlich zur Essensausgabe.
Vor ihr war ein junger Wolf namens Andres, der sich gerade den Teller mit Fleisch und Kartoffeln vollpacken ließ und dabei lachend mit der Servicedame sprach.
Als er einen Blick über die Schulter warf und Adea sah, verzog er höhnisch die Lippen und machte einen Schritt zur Seite. Verwirrt musterte sie Andres kurz, dann sah sie hoffnungsvoll auf die Frau hinter dem Tresen.
Doch bevor Dea den Mund öffnen konnte, herrschte die Werwölfin sie kalt an: „Was willst du, hm? Hier gibt es kein Essen mehr!"
Das Mädchen betrachtete die großen Behälter, die immer noch gut gefüllt waren, dann wanderte ihr Blick wieder zu dem vollen Teller von Andres, dessen Grinsen jetzt eindeutig bösartig geworden war.
„Ich verstehe ni..." begann Adea, da fuhr ihr die Frau ins Wort: „Bist du wirklich so schwer von Begriff, du dämlicher Mensch? Für dich gibt es ab heute kein Essen mehr! Anweisungen von der zukünftigen Sahidi, unterstützt vom Alpha und seinem Sohn! Also verpiss dich gefälligst, bevor ich dir die Beine breche."
Wie betäubt drehte Dea sich um und wankte unter dem schallenden Gelächter der noch anwesenden Schüler aus der Mensa.
Sie war völlig fassungslos... was wollte der Alpha damit bezwecken?
Wollte er sie wirklich verhungern lassen?
Trotzig wischte sie ihre Tränen ab und marschierte in den Wald. Noch war es Herbstanfang und wer wusste, wo er suchen musste, konnte durchaus dort genug Nährendes zusammentragen!
Und schließlich verbrachte Adea den Tag nicht wie geplant damit, sich auszuruhen, sondern stolperte durchs Unterholz um Nüsse. Eicheln und Beeren zu sammeln.
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