1 Open Book
Der Bibliothekar kam gerade zurück in den Eingangsbereich. Er und Jeff hatten eigentlich einige ältere Werke begutachten - und auf mögliche Schäden prüfen wollen. Doch der Bibliothekar war plötzlich einfach aufgestanden und hatte den armen Jeff mit der ganzen Arbeit allein zurück gelassen. Nun war er fast fertig. Das Timing dieses verträumten Bibliothekars ließ wirklich zu wünschen übrig.
"Was haben Sie da?"
Jeff wunderte sich über das Glas in den Händen des eigentümlichen Mannes.
"Nichts. Steck nicht überall deine Nase rein."
Die forschen Worte ließen Jeff sogleich verstummen. Also wandte er sich wieder dem lädierten Gedichtband von Morgenstern zu.
"Wasserschaden. Oder Kaffee..."
-Wegen der gelben Seiten schwerer zu erkennen.-
Jeff murmelte vor sich hin, während der wundersame Bibliothekar wieder zwischen den Ragalen verschwand. Diesmal wenigstens in Begleitung eines Staubwedels. Jeff hätte sich bereits beinahe ein Taschentuchabbonement zugelegt, so oft wie er hier niesen musste. Lüften konnte er auch nicht. Der Bibliothekar hielt nicht viel von Fenstern. Sie nehmen schließlich Platz weg, wo auch Bücher stehen könnten. Und die Wenigen, die es hier gab, weigerte er sich zu öffnen.
Temperaturschwankungen sind nicht gut für das empfindliche Papier.
Schon tausendmal hatte Jeff sich derlei Predigten angehört, obwohl er hier noch nicht lange aushalf. Erst seit ein paar Wochen ging er diesem ungewöhnlichem Kauz nach der Schule und am Wochenende zur Hand. Der Bibliothekar schien sich jedoch an ihn gewöhnt zu haben, sonst hätte er ihn bereits mit einer Mistgabel davon gejagt und ihm nicht den Ferienjob gestattet, um den er gebeten hatte. Von dem bisschen, was er für sein Tun hier erhielt, wollte er sich eine schöne Schreibmaschiene zulegen. Dafür musste jedoch gespart werden. Er würde noch eine halbe Ewigkeit hier Bücher stapeln, bevor er sich seinen Wunsch erfüllen konnte. Aber das machte ihm nichts aus. Am Ende des Tages kam ihm seine Arbeit im Open Book niemals wirklich als solche vor. Jeff hatte ein Herz für Bücher und selbst der Bibliothekar war ihm ab und an sympatisch. Man musste seine Eigenarten hinnehmen, wie sie waren, denn ändern würde er sich sicher nie. Glücklicherweise lieferte sein eigentümlicher Charackter viele Ideen, für die Charaktere in seinen eigenen Geschichten. Manchmal träumte Jeff davon, wie eines seiner Bücher eines Tages in einem der Regale hier stehen würde. Hoffentlich.
Die Glocke an der Tür schellte. Wie aus dem Nichts kam der Bibliothekar angeschossen. Er hatte ein Gespür für alles, was ihm gegen den Strich ging.
"Raus. Wir haben geschlossen."
"Aber draußen steht..."
"Ich sage wir schließen gerade, guten Tag."
Eine verunsicherte, ältere Dame stand im Eingangsbereich. Jeff kam hinter dem Tresen hervor und entschuldigte sich mehrfach. Für die Missverständnisse und ein Fehler, der ihm mit dem Schild unterlaufen sei. Er würde es gleich rein holen. Und für den unfreundlichen Empfang, entschuldigte er sich auch noch. Obwohl er sich lieber für die Schwindelei entschuldigt hätte.
"Bitte kommen Sie doch wieder, soblad der Wasserschaden behoben ist."
Sobald die Dame wieder fort war meldete sich der Bibliothekar, der sich niemandem mit Namen vorstellte, zu Wort. Selbst Jeff wusste nicht wie er hieß.
"Ich hoffe sie kommt nicht wieder."
"Sie werden irgendwann pleite gehen, wenn sie jeden vergraulen. Da helfen auch die Förderungen der Stadt nicht weiter."
"Sie sah aus wie ein Unruhestifter."
"Eine Rentnerin mit Hornbrille und gehstock . Sehr gefährlich."
Jeff machte Anstalten das Schild mit den Öffnungszeiten rein zu holen, doch der Bibliothekar hielt ihn zurück.
"Wenn Sie keinen hier haben wollen, erfüllt es keinen Zweck. Es werden noch andere kommen."
"Na und? Wäre kein Problem, wenn du nicht so nett wärst. Außerdem gefällt es mir. Sieht doch schnuckelig vor der Tür aus. Das ist der Zweck, na bitte."
Der Bibliothekar klatschte begeistert, als hätte er soeben eine ganze Keksschachtel verdrückt und würde nun die Krümel weg klopfen. Anschließend verrenkt er sich, als hätte er Schwerstarbeit geleistet. Sein Verhalten verwirrte Jeff jeden Tag aufs Neue.
"Wie lange dauert das eigentlich noch?"
Er meinte die Bücher, die Jeff beinahe im Alleingang kontrolliert hatte.
"Zwei fehlen noch."
"Na dann, beeilung."
Ohne auf die Bemerkung des Bibliothekars einzugehen machte Jeff sich wieder ans Werk. Beeilung. Hatten die Bücher etwa Termine mit den Holzwürmern? Jeff schüttelte den Kopf über den Bibliothekar. Manchmal blieb ihm auch nichts anderes übrig. Zu diesem Kerl fiel ihm einfach nichts mehr ein.
Die Kiste der Bücher, die ausgebessert werden mussten, war endlich fertig verschnürt. Das bedeutete, dass das Einräumen der Rückgaben an stand.
Aber es waren nicht viele. Es wäre besser, wenn es mehr wären. Ab und zu tat Jeff das Open Book Leid. Es könnte hier eindeutig lebendiger zugehen, auch wenn er bezweifelte, dass es dem Bibliothekar gefallen würde.
"Gut. Gut. Nimmst du die Kiste später mit?"
Der Bibliothekar warf sein Taschentuch auf die Ablagefläche. Jeff nahm es an.
"Stift ausgelaufen?"
Der Bibliothekar schnaubte genervt und winkte ab. Das Tuch musste jedenfalls in die Reinigung. Solche Flecken gingen selten wieder raus. Jeff hob die paar Bücher hoch, die zurück gestellt werden mussten. Es waren so wenige, dass er den Wagen nicht einmal benötigte. Das Open Book, ist die älteste Bibliothek in der Ganzen Region. Schon über 400 Jahre alt. Darum hatte die Stadt, die ein odere andere Spende ins Leben gerufen. Doch die Blütezeiten des Open Book waren leider längst vorbei.
Nach einem langen Tag machte Jeff sich auf den Weg. Was so viel bedeutete wie -Eine halbe Weltreise-. Der Bibliothekar lebte quasi ausschließlich im Open Book. Keine Ahnung, wann er das Gebäude das letzte mal verlassen hatte. Wenn er nicht Jeff schickte, dann scheuchte er einen Cousin durch die Weltgeschichte, um seine Angelegenheiten zu klären.
Es war ein Sonniger Abend und Jeff freute sich bereits darauf, nach allen Erledigungen nach Hause an seinen Schreibtisch zu kommen, um die mystische Schönheit der Abendsonne zu beschreiben. Er würde schon eine Geschichte finden, in die dieser Augenblick passen würde.
Doch zuerst bog er in die Libellenstraße ein, die am Kanal entlang führte. Die Straße trug den Namen zurecht, denn das Gewässer lockte im Frühjahr immer jede Menge Libellen an. Ein paar summten gerade über das Wasser hinweg. Das violette Schimmern ihrer Körper erinnerte ein wenig an nasse Tinteflecken. Das Tuch hatte Jeff bereits bei der ortsansässigen Wäscherei der Seifenblasentraum abgegeben. Als nächstes kamen die kaputten Bücher dran, die Jeff mit dem Bibliothekar aussortiert hatte. Sie würden in die Reperatur bei Herr Golruhn gehen. Das Lädchen befand sich abseits des Wochenmarkts. Im Augenblick stand der Platz leer. Erst übermorgen würden die Gemüsehändler ihre Stände fürs Wochenende aufbauen. Jeff genoss die seltene Ruhe des Platzes, in dessen Mitte die Statue des ersten Bürgermeisters stand. Schon oft hatte Jeff am Fuße des Sockels gelehnt und ein Eis gegessen. Die Stadt steckte voller Erinnerungen und wenn er eines Tages ein Autor sein würde, würde er sich Zeit nehmen durch die Stadt zu Spazieren und sich wieder daran erinnern.
Vom Markplatz aus ging es den Wacholderweg hinunter. Der Laden des Restaurators Herr Golruhn befand sich in einer kleinen Gasse, die von dieser Straße mit den unebenen Pflastersteinen abzweigte. Schon bald kam der Laden in Sicht. Ein Aufkleber mit Goldenen Buckstaben zog sich quer über das Schaufenster
-Good for Books-
In der düsteren Gasse schimmerten sie wegen der Abendsonne umso greller. Die rotweiß gestreifte Marquise war ausnahmsweise mal nicht ausgefahren. Jeff hatte vor einigen Tagen mal die Streifen gezählt, weil er hatte warten müssen, ehe Herr Golruhn mit einem anderen Kunden fertig wurde. 17 Rote und 16 Weiße Streifen.
Diesmal war die Straße und auch das Ladenlokal menschenleer so wie es schien. Immerhin war es ja auch schon spät. Zum Glück blieben Jeff noch knapp zehn Minuten. Und anders als der Bibliothekar, warf Herr Golruhn seine Kunden zumindest nicht einfach raus.
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