Kapitel 5 - Gischt
Für einen Moment bin ich wie gelähmt, begreife kaum, was ich zu sehen glaube. Spielen mir Dunkelheit und meine überreizten Nerven etwa einen Streich?
Plötzlich verharrt der Schemen jedoch in seinem Abstieg. Blitzartig durchschießt mich die Erkenntnis, dass ich entdeckt worden bin und endlich löst sich meine Erstarrung. Wie von selbst gerät mein Körper in Bewegung, sicher tragen mich Hände und Füße weiter hinab, so sehr meine Glieder auch zittern.
Wild irren derweil meine Gedanken umher. Wer könnte den gleichen Wahnwitz wagen wie ich, und warum nur? Hat jemand geahnt, dass ich entfliehen würde und will mich nun aufhalten? Doch warum nicht einfach im Hof auf mich warten, um mich dort abzufangen? Oder gibt es in Sydhaven vielleicht so manch einen Narren, der aus unbekannten Gründen den Nervenkitzel schätzt?
Ein erneuter Blick in die Höhe reißt mich aus meinen Überlegungen, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren – auch die unbekannte Gestalt hat an Geschwindigkeit zugelegt. Und soweit ich es erkennen kann, gibt es auf ihrem Weg keinerlei Fenster, die es zu überwinden gilt.
Hektisch starre ich in die Tiefe, mühe mich, die verbliebene Distanz bis zum Boden abzuschätzen. Weit kann es nicht mehr sein, lediglich ein Stockwerk trennt mich noch vom sicheren Grund.
Das Herz schlägt mir bis zum Halse, dennoch verliere ich keine weitere Zeit. Kräftig stoße ich mich ab, dann lösen sich meine Hände von den Stoffbahnen. Unendlich lang scheint der Sturz zu dauern, habe ich mich verschätzt?
Schließlich jedoch pralle ich hart auf, mich instinktiv abrollend. Weit mehr als der meine Beine durchziehende Schmerz trifft mich hingegen das Geräusch brechender Zweige, die ich unter mir zermalme.
Selbst dann, wenn ich mir nur eingebildet habe, entdeckt worden zu sein, ist es nun definitiv so weit. Hastig rappele ich mich auf und stürme zwischen Hecken, Beeten und steinernen Bänken jenem Tor entgegen, das mir den einzigen Fluchtweg bietet.
Es ist so dunkel im Innenhof, dass ich mehrfach ins Straucheln gerate und für einen Moment gar glaube, mich in die falsche Richtung gewandt zu haben. Als ich endlich das vergitterte Tor gleich vor mir entdecke, wird mir jedoch kaum leichter ums Herz.
Jemand ist mir dicht auf den Fersen, ich höre die verhaltenen Schritte in meinem Rücken. Panisch krallen sich meine Finger um die eisernen Stäbe, doch bevor ich mich in die Höhe ziehen kann, umschlingt mich ein Arm, gleichzeitig legt sich eine Hand fest über meinen Mund.
Verzweifelt sträube ich mich gegen den harten Griff, der mir den Atem raubt, doch der Unbekannte drückt mich so fest an seinen Körper, dass jeglicher Widerstand zwecklos ist.
„Nun halt doch still", knurrt es plötzlich an meinem Ohr. „Was tust du hier, Ilva?"
Vor Überraschung erstarre ich – die Stimme kenne ich, selbst gedämpft und unfreundlich wie nie zuvor. Doch warum klettert Rurik, mein angedachter Gemahl, einem Dieb und Mörder gleich aus seinem Gemach heraus? Und wie kann er wissen, das ich es bin?
„Keinen Laut, dann lasse ich dich los", fährt er leise fort. „Hast du das verstanden?"
So gut es mir möglich ist, nicke ich, woraufhin er mich tatsächlich freigibt. Sogleich fahre ich herum, den Kopf voller Fragen und hauptsächlich der einen – ist diese Begegnung nun das Ende meiner gerade erst begonnenen Flucht, oder könnte sie mir gar helfen?
Schwer atmend sehe ich zu Rurik auf, der mich stumm betrachtet und anscheinend ebenso wenig weiß, wie er mit dieser seltsamen Situation umgehen soll. Doch eins wird mir dennoch im Durcheinander meiner aufgewühlten Gedanken mit jedem verstreichenden Herzschlag klarer.
Es kann nur eine Erklärung dafür geben, warum wir in dieser Nacht unter merkwürdigsten Umständen aufeinandertreffen – auch Rurik will diese Vermählung nicht, so wie ich es von Anfang an geahnt habe, und nun greift er wie ich zum letzten Mittel, sich all dem zu entziehen.
Und er muss ebenfalls ahnen, was mich antreibt. Doch im Gegensatz zu mir, schießt es mir durch den Kopf, hat er gewiss einen besseren Plan, er wird genau wissen, wie man den Mauern der Burg entkommen kann.
„Nimm mich mit!", entfährt es mir gedämpft. „Bitte, nimm mich nur mit hinaus!"
Sogleich entweicht Rurik ein leises Stöhnen. „Ilva, das ..."
„Ich werde schreien", zische ich zurück. „Dann wird auch aus deinem Abgang nichts!"
Woher ich mit einem Mal sowohl Mut als auch Schlagfertigkeit nehme, ist mir schleierhaft, doch es ist pure Verzweiflung, die mich antreibt.
Wieder stöhnt Rurik auf und presst sich die geballten Fäuste gegen die Schläfen, soweit ich es erkennen kann. „Warum bist du nur so närrisch?", knurrt er mich an. „Warum hast du nicht brav gewartet wie deine Schwester es getan hätte, was soll das hier werden?"
Ich begreife nicht, warum ihn meine Flucht derart in Rage bringt, wenn er doch offensichtlich nicht einmal daran gedacht hat, seinen Part bezüglich des Bündnisses zu erfüllen. Was nur ist hier im Gange? Es muss mehr dahinterstecken, eine Diskussion möchte ich in diesem Moment hingegen ungern beginnen.
„Nimm mich mit hinaus", wiederhole ich meine Forderung. „Bitte, mehr will ich nicht!"
Weitere wertvolle Zeit verstreicht, bis der Sohn des Jarls Sydhavens ein Seufzen von sich gibt. „Also schön, aber du wirst genau das tun, was ich dir sage, und vor allen Dingen keinen weiteren Laut mehr von dir geben, hast du verstanden?"
Erleichtert nicke ich. „Ja, natürlich", füge ich hastig hinzu, denn Rurik kann in der Dunkelheit wohl kaum mehr erkennen als ich. „Gut, dann halte dich daran!", erwidert er, seine Stimme von Widerwillen gezeichnet. „Und nun mach Platz, wir müssen hier hindurch!"
Hastig rücke ich zur Seite. Schlüssel klimpern, gefolgt vom Knirschen des Schlosses. Ich wusste doch, dass Ruriks Plan um einiges ausgereifter sein muss denn der meine! Geduckt folge ich ihm durch das Tor auf die Stallungen zu.
Aber sind dort nicht einige Wachen postiert, werden sie uns mitten in der Nacht ausreiten lassen? Voller Zweifel und kurz davor, mein Versprechen zu brechen, beiße ich mir auf die Lippe. Rurik wird wissen, was er tut, und tatsächlich hält uns niemand auf, niemand bewacht das Tor zum Stall.
Zufall oder klug eingefädelt? Ich schätze, es ist letzteres, entspannen hingegen kann ich mich noch lange nicht, derweil wir in das weitläufige Gebäude eintreten. Denn war es zuvor schon dunkel, so kann ich nun nicht einmal mehr die Hand vor Augen erkennen.
Das Schnaufen und Scharren der Pferde überdeckt Ruriks Schritte, schon habe ich die Orientierung verloren. „Warte", stoße ich leise aus. „Wo bist du?"
„Hier", knurrt es gleich vor mir, dann schließt sich eine Hand fest um meinen Arm. „Komm, und sei um der großen Mutter Willen leise!"
Blindlings stolpere ich voran, von Rurik geführt. Aber warum dringen wir weiter in den Stall ein, stehen doch die besten Reittiere gleich ganz vorn? Wieder muss ich mich beherrschen, meine Fragen zurückzuhalten.
Schier endlos scheint unser Gang durch die Dunkelheit anzudauern, bis Rurik endlich innehält und mich aus seinem Griff entlässt. Während ich still dastehe, vernehme ich ein Rascheln und Knistern, das ganz nach Stroh klingt.
Dann erneut das metallische Knirschen eines Schlüssels, gefolgt von einem schauerlichen Knarren. „Komm", zischt Rurik, hart schließen sich seine Finger um mein Handgelenk. Ich wundere mich, wie gut er sich zurechtfindet, nach wie vor habe ich keine Ahnung, wohin es geht, geschweige denn, wo ich gerade bin.
„Vorsicht, Stufen", erhalte ich eine Anweisung und so unangenehm es mir auch ist, festgehalten zu werden, bin ich nun dankbar dafür, während ich mich langsam in die Tiefe vortaste.
Am Grunde angekommen löst sich Rurik von mir und lässt mich in der undurchdringlichen Finsternis allein. Nervös lausche ich seinen Schritten, die sich jedoch nicht weit entfernen. Wie es scheint, verschließt er lediglich den Zugang oberhalb der Stiegen.
Dann erklingt das vertraute Geräusch eines Feuerschlägers, gefolgt von ersten Funken, die mich ob der plötzlichen Helligkeit zurückzucken lassen. Als ich wieder aufsehe, hält Rurik eine Öllampe in der Hand, deren Schein einen schmalen, gemauerten Gang erleuchtet.
Zum ersten Mal seit unserer Begegnung kann ich ihn nun endlich in Gänze erkennen, indes er sich an mir vorbeischiebt. In schlichtes Leinen, einem Tagelöhner gleich, ist er gehüllt, sein langes, blondes Haar wirr und verdreckt. Selbst sein Gesicht ist von schmutzigen Striemen überzogen, niemand würde in ihm den Sohn des Jarls erkennen.
Ich hingegen, wird es mir unangenehm bewusst, werde selbst in den schlichtest gewählten Kleidern auffallen. Bevor mich diese Sorge überwältigen kann, schlägt der gemauerte Gang eine Kurve und was ich dahinter erblicke, lässt mich auf der Stelle erstarren.
Vor einer eisernen Tür, gleich neben einem Tisch, liegen zwei Landsknechte reglos am Boden. Bevor ich auch nur reagieren kann, sieht sich Rurik zu mir um. „Sei unbesorgt, die werden schon wieder."
Derweil er höchst gelassen in seinen Taschen kramt, schaue ich dennoch nach den Männern. Herzschlag und Atmung sind gleichmäßig, sie müssen betäubt worden sein. Tief hole ich Luft, mein Körper entspannt sich ein wenig. Alles wird gut gehen, Rurik muss seinen Abgang bis hin zum kleinsten Punkt durchdacht haben.
Hinter der Tür schlägt uns modrige, abgestandene Luft entgegen, feucht glitzern die grob behauenen Felswände im Schein der Lampe. Schnurgerade führt uns der Tunnel voran und Rurik verfällt wortlos in einen Laufschritt, der nahezu an ein Rennen grenzt.
Jegliches Zeitgefühl geht mir abhanden, während ich ihm eilig folge, eine gefühlte Ewigkeit lang hetzen wir tiefer und tiefer in das uralte Gestein unterhalb Sydhavens hinein. Auch meine Gedanken kommen zur Ruhe, die Bewegung tut mir gut und lenkt mich von allen Zweifeln ab.
Erst, als der glattgetretene Grund in eine sanfte Steigung übergeht, erwacht mein Verstand auf ein Neues und überschüttet mich mit unzähligen Fragen.
Wo werden wir auskommen, und bis wohin gedenkt Rurik, mich mitzunehmen? Und wäre es nicht klüger gewesen, zurück in mein Gemach zu klettern, in dem Wissen, dass es keine Vermählung geben wird?
Das Bündnis mit Sydhaven scheint ohnehin gescheitert, ich hätte gemeinsam mit meiner Schwester zurück nach Bjerklund reisen und mich mit ihr versöhnen können. Doch die Erinnerung an Diljas hasserfüllten Blick bringt mich ins Straucheln – will ich diese Versöhnung wirklich, kann ich meiner Schwester jemals wieder vertrauen?
Plötzlich fröstelt es mich, obwohl der rasche Lauf mir Hitze in sämtliche Glieder getrieben hat. Was Zorn und Verzweiflung zuvor überdeckt hat, wird mir nun umso klarer – ich werde bald gänzlich auf mich alleine gestellt sein.
Unwillkürlich schließe ich dichter zu Rurik auf. Dass es ihm nicht behagt, mich im Schlepptau zu haben, ist mir bewusst, doch zunächst ist er mein einziger Halt. Wohin er wohl gehen will? Wieder muss ich mich zurückhalten, ihn nicht mit meinen Fragen zu bedrängen, hat er doch unmissverständlich klargemacht, dass ich still sein soll.
So folge ich ihm, bis der Tunnel mit einem Mal steil in die Höhe führt und wir vor einer weiteren Tür stehen, die Rurik erneut mit passendem Schlüssel öffnet. Sogleich empfangen uns ein strammer Wind und das Brausen des Meeres, salzige Luft dringt in meine Lungen. Die Öllampe flackert, doch bevor sie erlischt, erblicke ich zwei niedergestreckte Körper auf dem felsigen Grund – auch diese Landsknechte sind außer Gefecht gesetzt worden.
Ich frage mich gerade, wie es nun weitergehen soll, als sich nicht weit entfernt ein Licht erhebt und schwankend auf uns zuhält. Schon bald kann ich erkennen, dass es Asker ist, Ruriks Leibwächter. Unverkennbar ist seine Gestalt, ebenso hoch gewachsen wie der Sohn des Jarls, doch beinahe doppelt so breit.
Der Schein seiner Sturmlaterne lässt Askers prächtigen, roten Bart noch greller wirken, auch das geflochtene Haar von gleicher Farbe erstrahlt wie Feuerglut in der Dunkelheit. Sein Gesicht indes verzieht sich voller Überraschung, da des Mannes Blick aus hellgrünen Augen heraus auf mich fällt.
„Was zum ...", stößt er aus und betrachtet mich eindeutig fassungslos. „Rurik, was soll das? Was macht sie hier?"
„Schon gut, wir nehmen sie nur ein Stück weit mit", brummt der Sohn des Jarls. „Aber du weißt ... ", beginnt sein Leibwächter, wird jedoch abrupt von Rurik unterbrochen, der sich unbeirrt an ihm vorbeidrängt. „Ja, ich weiß! Und nun los, ich will fort von hier!"
„Junge, du bist doch närrisch!", knurrt Asker ihm hinterher, bedenkt mich mit einem letzten Stirnrunzeln und folgt dann seinem Schützling, um ihm den Weg zu erleuchten. Was bitter nötig ist, führt es uns doch über zunehmend glatter werdende Felsen hinab Richtung Meer.
Der Wind bläht meinen Reiseumhang, zerrt mich hin und her, während ich den beiden folge. Obendrein gerate ich immer wieder ins Rutschen, denn je tiefer wir steigen, desto schlüpfriger wird das Gestein.
Als das Licht der Sturmlaterne endlich auf einen am Ufer vertäuten Kahn fällt, bin ich nur wenig beruhigter. Die See ist nicht allzu aufgewühlt, dennoch schaukelt das kleine Gefährt haltlos in den brandenden Wogen umher.
Immerhin sieht sich Rurik nun wieder nach mir um. „Steig ein", kommandiert er barsch, reicht mir jedoch eine Hand, die ich dankbar ergreife. „Setz dich nach ganz hinten, schaffst du das?"
Die spitze Antwort verkneife ich mir – soll dieser überhebliche Bursche doch von mir denken, was er will. Wortlos schwinge mich an Bord, während sich Asker und Rurik bemühen, den Kahn möglichst ruhig zu halten.
Unsanft plumpse ich auf die hintere Bank, kurz darauf erzittert das Holz unter dem Gewicht Askers, der sich an den Rudern platziert. Rurik, als einziger noch an Land verblieben, löscht zu meiner Überraschung die Sturmlaterne.
Wie sollen wir nun unseren Weg finden? Ein weiterer Ruck lässt mich zusammenfahren, dann vernehme ich über das Brausen des Meeres hinweg kräftigen Ruderschlag. Weder weiß ich, wo wir sind, noch wohin es geht. Die dunklen Konturen des Ufers verschwimmen rasch, scheinbar haltlos taumelt der Kahn in den Wogen umher.
Die aufspritzende Gischt hat mich schon nach kürzester Zeit durchnässt, so dicht der Wollstoff meines Reisemantels auch ist. Zitternd kauere ich mich auf der Bank zusammen, beide Hände um ihre Kante geklammert.
Schier endlos scheint unsere Fahrt zu dauern, wieder und wieder verrenke ich mir den Hals und schaue gen Bug über meine Schulter, und als ich endlich ein erstes Licht erblicke, weiß ich, wohin es uns führen wird.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro