Kapitel 4 - Entscheidung
Sanft federt der moosbewachsene Grund unter meinen bloßen Füßen, während ich bedächtig zwischen Birken und Felsen durch den Wald schreite. Ein munterer Wind lässt die Blätter erzittern und dringt durch das Zweigwerk bis zu mir herab, streichelt mein Haar, weht die langen, blonden Strähnen mal hierhin, mal dorthin.
„Oh sieh nur, wie gut es dir steht, Ilva!"
Die vertraut grelle Stimme reißt mich aus meinen Gedanken zurück in die Wirklichkeit. Viel zu eng schnürt sich der seidene Stoff um meinen Körper, mühsam ringe ich nach Luft, während emsige Hände die Kordeln noch fester anziehen.
„Eine schönere Braut hat es in Stenland sicher niemals gegeben", fährt meine Mutter voller Stolz fort, hier und dort an dem Kleid zupfend, das mir bereits jetzt den Atem raubt. „Rurik wird dich lieben! Und wie es scheint, hat die Schneiderin ganze Arbeit geleistet."
Anstatt dem Impuls zu folgen, ihre Finger abzuwehren, zwinge ich ein Lächeln auf meine Lippen, obwohl mir viel eher danach ist, einen gellenden Schrei auszustoßen. Schon lange sitzt er mir in der Brust, doch helfen kann er mir gewiss nicht.
Weder würde er mich zurückbringen in die Wälder meiner Heimat, noch Mutters Verständnis erwecken. Undankbar, hallt mir ihre Stimme durch den Kopf. Undankbar und närrisch. Ihre kornblumenblauen Augen, die den meinen so sehr gleichen, betrachten mich kühl.
Mit einer herrischen Handbewegung scheucht sie die Bediensteten fort, dann kommt sie mir unerwartet nah. Ihre makellosen Züge, dem fortschreitenden Alter zum Trotz noch immer von Schönheit geprägt, verziehen sich zu einer eisigen Maske.
„Sieh nur zu, dass du dich morgen zusammenreißt!", zischt Mutter mich an, ihre Finger in meine Schulter gekrallt. „Du weißt genau, was auf dem Spiel steht!"
Ja, ich weiß es genau. Oft genug habe ich es hören müssen, wieder und wieder haben sie es mir in den letzten Tagen eingebläut, Mutter, Vater und Eidrun. Dass ich mir etwas gänzlich anderes wünsche, ist ihnen einerlei.
Dennoch nicke ich artig, obwohl sich mein Innerstes verkrampft und mein Magen wieder einmal zu brennen beginnt. Die ohnehin enge Schnürung des Kleides scheint sich in einen eisernen Ring zu verwandeln, der mein Herz zu zermalmen droht.
„Schön, schön", murmelt Mutter und löst ihren schmerzhaft festen Griff, um mir hauchzart durchs Gesicht zu streichen. „Denk nur daran, morgen ein wenig breiter zu lächeln, ganz, wie wir es geübt haben. Was soll Jarl Erik nur denken, wenn du seinem Sohn derart verkniffen begegnest? Nicht, dass er die Vermählung noch abbricht!"
Ein leises Schnauben Diljas, die nicht weit entfernt auf einem der gepolsterten Sessel sitzt und an ihrem Stickwerk arbeitet, lenkt meinen Blick in ihre Richtung. Sogleich bereue ich es, denn nach wie vor habe ich mich nicht an den Hass gewöhnt, der in ihren hellblauen Augen steht.
Sie weiß genau, dass ich das alles nicht will, weder Rurik noch die Ehre, Einzug in ein angesehenes Jarltum zu nehmen. Ich habe in den letzten Tagen wieder und wieder versucht, mit Dilja zu sprechen. Doch die Eifersucht hat alles zerstört, hat unsere tiefe Freundschaft zerrüttet, nicht einmal zuhören wollte sie mir.
Wieder einmal fährt mir ein Stich durchs Herz, Mutter indes scheint es nicht zu kümmern, wie elend mir zumute ist. Vielleicht merkt sie es nicht, vielleicht aber ist es ihr einerlei.
„Und nun auf", verkündet sie energisch, „es ist schon spät." Auf einen erneuten Wink ihrerseits treten die Bediensteten wieder heran, um mich aus dem herrlichen Kleid zu befreien. Wieder spüre ich Diljas Blick, beinahe wundert es mich, dass er die schneeweißen, mit dunkelblauen Borten verzierten Seidenbahnen nicht in Flammen aufgehen lässt.
Es fröstelt mich, so gemütlich das Feuer im Kamin auch flackert, wohlige Wärme verbreitend. Zudem erhellen zahlreiche Öllampen das großzügig geschnittene Gemach, selbst der Teppich unter meinen Füßen ist warm.
Doch an all der Pracht kann ich mich nicht erfreuen. Ebenso ist es mir ein Graus, den Händen der Zofen ausgeliefert zu sein, als ob ich ein kleines Kind wäre. Nur widerwillig ertrage ich es, dass sie mich vollkommen entkleiden und mir gar dabei behilflich sind, mein Nachtgewand überzuziehen.
„Vorsichtig", mahnt Mutter, während Eidrun und Svara das Hochzeitsgewand hinüber zur Garderobe tragen. „Dass ja keine Falten entstehen!"
„Darf ich mich zurückziehen?", erkundige ich mich höflich. „Ich bin müde und möchte morgen ausgeruht sein."
„Natürlich, natürlich", erwidert Mutter und nickt Eidrun auffordernd zu. „Geleite Ilva in ihr Zimmer und gib ihr ein wenig Schlaftrunk, damit sie auch wirklich zur Ruhe kommt."
„Komm, Liebes", murmelt meine Zofe und legt mir einen Arm um die Schultern. Auch ihre Berührung ist mir zuwider, doch immerhin führt sie mich endlich hinüber in jenes Zimmer, das mir am ersten Tag unserer Ankunft in Sydhaven zugewiesen wurde und seitdem meine einzige Zuflucht ist.
Auch hier ist es warm, wie immer wurde der Kamin fortwährend genährt. Zielstrebig halte ich auf das reich verzierte Bett zu und werfe mich in die Kissen. Ich möchte allein sein, gänzlich allein, denn viel länger halte ich das Brennen in meinem Magen nicht mehr aus.
Und ganz sicher werde ich diesen verfluchten Schlaftrunk nicht nehmen. Mehrfach schon habe ich ihn bereitwillig geschluckt und war gar froh darüber, wie rasch sich sämtliche Sorgen verflüchtigt haben.
Doch heute sträubt sich alles in mir dagegen, meine letzte Nacht in Freiheit möchte ich mit klarem Kopf verbringen. Ein kleiner Funken an Hoffnung ist verblieben, dass mir vielleicht noch ein Ausweg in den Sinn kommt.
Als Eidrun mich sanft an der Schulter berührt, gebe ich ein schläfriges Seufzen von mir. „Ilva?", spricht sie mich leise an, doch ich rühre mich nicht, bis sie von mir ablässt und ich wenig später das Geräusch einer sich schließenden Tür vernehme.
Augenblicklich entspannt sich mein Körper, doch gleichzeitig bricht sich mein Kummer Bahn. Tränen schießen mir in die Augen, gerade noch kann ich mein Schluchzen in den weichen Decken ersticken.
So hilflos ich mich jedoch auch fühle, wandelt sich das Unwohlsein in meinem Bauch langsam, aber stetig in heiß brennenden Zorn. Viel zu lange habe ich ihn unterdrückt, doch nun ist mir dies nicht länger möglich.
Wie kann es sein, dass das Wort eines einzelnen Mannes über mein Schicksal entscheidet, was fällt dem Jarl Sydhavens ein, mit den Traditionen zu brechen? Dilja als ältester Tochter gebührt die Hand seines Sohnes und im Gegensatz zu mir hat sie diese Aussicht über alles gefreut.
Dass sie mich nun hasst, ist allein Vaters Schuld, wie nur konnte er diesem Handel zustimmen? Und auch meiner Schwester zürne ich. Sie muss wissen, wie unerträglich mir diese grässliche Situation ist und dass nicht ich sie verursacht habe.
Lange liege ich da, meine Hände in die Decken gekrallt. Heiße Wut pulsiert durch meinen Körper, längst sind meine Tränen versiegt. Tausende Gedanken schießen mir durch den Kopf, einer wirrer als der andere. Aus dem Durcheinander schält sich jedoch schließlich der eine klar hervor – ich will Rurik nicht heiraten. Ich werde ihn nicht heiraten.
Im nächsten Moment wird mir klar, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, dem zu entgehen. Ich werde noch in dieser Nacht die Burg, meine Familie, mein altes Leben verlassen müssen, was bedeutet, dass ich von da an auf mich allein gestellt sein werde.
Zweifel steigen in mir auf, gefolgt von Mutlosigkeit. Wie soll ich es schaffen, dem gut bewachten, herrschaftlichen Sitz zu entkommen? Es ist Wahnwitz, ich weiß es genau, ganz zu schweigen von dem, was danach kommt.
Was soll ich als junge, alleinstehende Frau tun, wohin soll ich mich wenden? Angestrengt grüble ich vor mich hin, nicht Willens, diese letzte Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben wieder zu verwerfen.
Dann entsinne ich mich des Traums, der mich schon seit Jahren angetrieben hat. Zur alten Sigrid in Bjerklund kann ich nicht zurück, doch sie hat mir stets erzählt, dass so manch eine Heilerin händeringend eine Nachfolgerin sucht, der sie ihr Handwerk vermitteln kann.
Die Arbeit ist zwar hoch angesehen, doch anstrengend und schlecht entlohnt. Wer aus Barmherzigkeit diese Aufgabe erwählt, vermag es kaum, den Ärmsten der Armen Lohn für die geleistete Hilfe abzuknöpfen.
Doch das war mir stets einerlei, ich schätze weder Reichtum noch Macht und bin auch mit weitaus schlichteren Lebensumständen zufrieden. Warum also nicht gen Norden ziehen, um mich dort bei einer Heilerin zu verdingen?
Je länger ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir die Idee. Dann wäre ich frei von allen Zwängen, könnte Stunden um Stunden in den Wäldern und Auen umherstreifen, auf der Suche nach all den Pflanzen, die es braucht, heilkräftige Sude, Salben und Tinkturen zu erstellen. Und damit den Menschen zu helfen, die es am dringendsten nötig haben.
Dass ich damit meine Familie verliere, kümmert mich in meiner verzweifelten Situation nicht. Selbst Dilja hat mich im Stich gelassen, ohnehin würde ich sie wohl kaum wiedersehen, sollte ich mit Rurik vermählt werden. Und das Bündnis ist mir inzwischen einerlei – was kann es schon für Vorteile bringen, auf einen Jarl angewiesen zu sein, der die Traditionen nach Belieben beugt?
Weiterhin ist es mir jedoch schleierhaft, wie ich entkommen soll. Durch die Stube wohl kaum, unsere treuen Wachen sind davor postiert und werden gewiss kein Verständnis für meinen Drang nach Ausgang haben, geschweige denn die Landsknechte des Jarls von Sydhaven.
Ein unangenehmes Kribbeln erwacht in meinem Magen – der einzige Weg hinaus in die Freiheit führt durch die Fenster. Zögernd richte ich mich auf und trete auf die mit kostbaren Glaseinsätzen versehenen Flügel zu.
So leise wie nur möglich entriegele ich die Scharniere und spähe hinaus in die Dunkelheit. Über mir funkeln die Sterne, Wind zaust mein Haar. Tief unter mir liegt der Innenhof, ein von Wegen, Hecken und Blumenbeeten durchzogenes Gärtchen.
Drei der Tore führen ins Herrenhaus, das den Platz von allen Seiten umschließt. Ein letztes hingegen, so weiß ich es, durch einen gemauerten Durchgang gen Stallungen. Es war meist gut verriegelt und nur dann bewacht, wenn die eisernen Gitter dann doch geöffnet wurden.
Als ich es vor wenigen Tagen betrachtete, fiel mir auf, dass ein schmaler Mensch wie ich sich vielleicht durch den Spalt zwängen könnte, der zwischen steinerner Decke und den letzten Querstreben besteht.
Schwer atmend starre ich in die Tiefe. Soll ich dieses Wagnis eingehen? Ich weiß, was ich tun muss, um hinab zu gelangen, denn Stoffe, ein Seil zu erstellen gibt es in meiner Kammer zur Genüge und ich bin recht geschickt und auch nicht schwach.
Was aber, wenn ich das Tor nicht überwinden kann und am nächsten Morgen im Innenhof gefunden werde? Und selbst wenn ich es schaffen sollte, bin ich noch lange nicht aus der Burganlage heraus.
Vielleicht könnte es mir gelingen, im Schutze der Dunkelheit Zuflucht in den Stallungen zu suchen. Wie es von dort aus weitergehen soll, ist mir jedoch schleierhaft. Mich auf einem der Fuhrwerke verstecken, die immer wieder die Burg verlassen? Oder die Tracht einer Bediensteten stehlen, um unerkannt davonzukommen?
So sehr ich mir auch den Kopf zerbreche, fällt mir nichts ein, das mir Garantie auf ein Gelingen meiner Flucht gewährt. Frustriert werfe ich mich zurück aufs Bett, das Gesicht in den Händen vergraben.
Nur einen Herzschlag später fahre ich zähneknirschend wieder auf. Sollen sie mich doch finden! Soll doch ein jeder wissen, dass ich zu dieser Vermählung gezwungen werde, sollen sie alle doch denken, was sie wollen! Die Zeiten, da ich klaglos pariert habe, sind ein für allemal vorbei, diesmal ist Vater zu weit gegangen.
Entschieden krame ich in meinem Gepäck, bis ich mein kleines Messer finde, das mich, mitsamt einer Auswahl an Heilkräutern, auf jede Reise begleitet. Als ich nach einer der Decken greife, zögere ich kurz, dann jedoch setzte ich die scharfe Klinge an.
Mühelos durchtrennt sie die edlen Stoffe. An Decken, Laken und Überwürfen mangelt es in meiner Stube nicht, großzügig breit schneide ich die Streifen, damit sie mein Gewicht auch tragen.
Sorge indes bereiten mir die Knoten. Mit aller Kraft zurre ich sie zusammen, wieder und wieder überprüfe ich ihre Festigkeit. Einer der vielen Lampenhalter an den Wänden ist mir dabei behilflich, Stück für Stück werfe ich das improvisierte Seil darüber und hänge mich mit vollem Gewicht daran.
Je länger ich arbeite, desto ruhiger werde ich. Kühle Gelassenheit verdrängt den letzten Rest an Wut und Kummer, selbst Furcht ob des anstehenden Wagnisses empfinde ich nicht. Letztere macht sich erst dann wieder bemerkbar, als mein Werk vollbracht, das Ende des letzten Streifens sorgsam am Lampenhalter gleich neben dem Fenster vertäut und das letzte Licht gelöscht ist.
Mit zitternden Händen schnüre ich mein Bündel, hülle mich in mein schlichtestes Kleid und den tiefblauen Reiseumhang, dann blicke ich hinaus in die Nacht. Still liegt der Innenhof da, einzig das ferne Rauschen des Meeres mischt sich mit dem Wind. Der späten Stunde zum Trotz sind einige wenige Fenster noch hell erleuchtet, durch das milchige Glas hingegen kann man nicht einmal aus einem dunklen Zimmer heraus erkennen, was draußen vor sich geht.
Einmal noch halte ich inne, doch die aufsteigenden Schuldgefühle dränge ich mit einem tiefen Atemzug zurück. Sie haben es so gewollt, mich dazu gezwungen, diesen folgenschweren Schritt zu tun.
Kurzerhand lasse ich mein Seil über die Brüstung gleiten. Ich kann nicht erkennen, ob es bis zum Boden reicht, zu finster ist es dort unten. Mein Herz schlägt hart, als ich den Sims erklimme, beide Hände um die fest verdrillten Stoffe geklammert. Ein Zögern kann ich mir nun jedoch nicht mehr erlauben.
Vorsichtig taste ich mit dem Fuß nach Vorsprüngen in der Mauer aus groben Blöcken und finde zu meiner Erleichterung sofort einen Halt. Auch der nächste Schritt gelingt, obwohl es mühsam als auch beunruhigend ist, seinen Weg völlig blind ertasten zu müssen.
Langsam nur komme ich voran, kaum gelingt es mir, meinen Atem zu zügeln, der sich vor Anspannung ebenso beschleunigt hat wie mein Herzschlag. Schweiß bricht mir aus allen Poren, während ich Schritt für Schritt ins Ungewisse hinabsteige.
Die helleren Umrisse des nächsten Fensters unter mir erkenne ich hingegen früh genug. Knapp an dessen seitlicher Kante entlang führt mein Seil, für meinen rechten Fuß gibt es hier nichts, worauf ich mich stützen könnte. Wenn ich nun abrutsche, werde ich unsanft mit den Glasscheiben kollidieren und diese vielleicht gar zerbrechen.
Immer wieder muss ich mein gesamtes Gewicht allein mit den Armen halten, derweil sich mein linker Fuß tiefer schiebt. Die Belastung lässt mich erzittern und ein Keuchen kann ich nicht mehr unterdrücken.
Als die Gefahrenstelle endlich überwunden ist, stellt sich dennoch keine Erleichterung ein – zwei Fenster sind es noch, die auf mich warten. Auch das nächste passiere ich mühsam, doch kaum stemme ich mich wieder mit beiden Füßen gegen die Steinwand, ertönt weit über mir ein Scharren.
Vor Schreck mache ich einen falschen Tritt. Ein scheußlicher Stich schießt mir durch den Leib, da ich plötzlich abrutsche. Panisch kralle ich mich in das Seil und finde abrupten Halt am nächsten Knoten.
Mein Herz hämmert, hastig suchen meine Füße nach erneutem Halt. Dann zuckt mein Blick in die Höhe und als ich, blinzelnd in der Dunkelheit, die Ursache des Geräusches erkenne, fahre ich so heftig zusammen, dass ich beinahe erneut abrutsche.
Hoch über mir, ein wenig zu meiner Linken, lässt sich eine dunkle Gestalt an der Mauer herab.
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