Kapitel 3 - Unerwartetes
„Da ist er", wispert Dilja mir aufgeregt ins Ohr. Kaum verstehe ich sie über den Lärm der Menge hinweg, doch mir ist ohnehin klar, was ihre Aufmerksamkeit erregt hat.
Begleitet von Applaus und Geschrei traben die Kämpfer ein und treiben ihre stolzen Rösser am Rande des Turniergrundes entlang. Wer von ihnen Rurik ist, kann niemand übersehen – zum einen reitet er dem Tross voraus, zum anderen trägt er über der Rüstung die Farbe Sydhavens, auch sein Pferd ist vom ewigen Blau geziert.
Allmählich kann ich es nicht mehr sehen, selbst meine eigenen Kleider vom Kornblumenblau meiner Augen sind mir allmählich zuwider. Fahnen, Banner und Uniformen, Teppiche, Polster und Zierrat, selbst die Tischdecken in den Hallen des Jarls sind dem Meer nachempfunden.
Immerhin sind die Speisen durchaus schmackhaft gewesen, doch mehr habe ich dem gestrigen, festlichen Mahl zu Ehren unsere Ankunft nicht abgewinnen können. Auch Dilja ist unzufrieden daraus hervorgegangen, kein einziges Wort hat sie bisher mit Rurik wechseln können, mehr, als ihn über die Breite der Tafel hinweg mit schmachtenden Blicken zu bedenken, ist ihr nicht vergönnt gewesen.
Dies soll sich heute ändern. Nach dem Turnier ist es angedacht, dass Rurik meine Schwester hinunter zum Hafen geleitet, um ihr die Flotte der Stadt zu präsentieren.
„Wenn ihm denn nur nichts geschieht", hat Dilja seit dem gestrigen Abend immer wieder geseufzt und ich habe mir alle Mühe gegeben, ihre Bedenken zu zerstreuen.
Inzwischen haben die Reiter ihre Runde vollendet. Dicht gedrängt stehen die Menschen vor der Absperrung und jubeln den Kämpfern zu, ich hingegen kann von meinem Platz auf der Tribüne bis hinaus aufs Meer sehen.
Und dort verweilt mein Blick, indes der erste Lanzenritt beginnt. Wer diesen Wahnwitz überlebt, interessiert mich nicht wirklich, sollen sie sich alle gegenseitig umbringen! Vielleicht erwischt es gar Rurik und Dilja wird gemeinsam mit mir heimkehren, doch sogleich bereue ich diesen Wunsch.
Meine Schwester ist so hoffnungslos verliebt, dass ich ihrem zukünftigen Gemahl dennoch alles Glück wünsche. Was jedoch nicht vonnöten scheint – schon den ersten Gegner reißt er gekonnt aus dem Sattel.
Obwohl ich noch nie ein derartiges Turnier gesehen habe, wird mir rasch klar, dass Rurik sowohl ein guter Reiter als auch im Kampfe ein Meister seiner Kunst ist. Seine Kontrahenten wirken ebenfalls bestens geschult, doch keinem gelingt es, den schlanken, hochgewachsenen Burschen zu bezwingen.
Auch die anschließenden Schwertkämpfe entscheidet er allesamt für sich. Dilja ist entzückt, mich hingegen langweilt das Spektakel schon nach kurzer Zeit. Eine weitere Demonstration der Überlegenheit Sydhavens, einzig dazu soll es dienen.
Ich glaube nicht, dass Vater sich davon einschüchtern lassen wird. Zwar schien er nach den ersten, gestrigen Verhandlungen ein wenig ermattet, doch er ist seit jeher in Sturkopf gewesen und wird seine Position gewiss standhaft vertreten.
Festliche Hornstöße reißen mich aus meinen Gedanken – das Turnier ist beendet. Unter wildem Applaus tritt Rurik unserer Tribüne entgegen, die den Herrschenden und Reichen der Stadt vorbehalten ist.
Als er den Helm abnimmt, seufzt Dilja neben mir leise auf. Ja, der Sohn des Jarls ist wahrlich hübsch anzusehen mit seinen markanten, ebenmäßigen Zügen, dennoch ist mein Misstrauen ihm gegenüber nur weiter gewachsen.
Schon gestern während des Festmahls hat er wenig Interesse an meiner Schwester gezeigt und auch nun bedenkt er seine zukünftige Gattin mit keinerlei Blick, derweil er als Sieger geehrt wird. Ohnehin wirkt er viel zu ernst, geradezu abweisend, keineswegs erfreut über die Glückwünsche seines Vaters und den aus Blumen geflochtenen Kranz, den man ihm um die Schultern legt.
Ob er wohl ebenso wenig begeistert von einer Vermählung ist, wie ich es wäre?
Rasch schiebe ich den Gedanken beiseite, denn was dies für Dilja bedeuten würde, liegt auf der Hand. Stattdessen applaudiere ich artig, bis der Jarl Sydhavens das Turnier für beendet erklärt. Die Menge zerstreut sich und auch wir streben auf die vorgefahrenen Kutschen zu, die uns zurück in die Stadt bringen.
Eine Weile muss sich meine Schwester noch gedulden und in der verbliebenen Zeit reizt sie nicht allein mich, sondern auch Mutter und Vater mit ihrer überschäumenden Vorfreude, bis letzterer schließlich ein Machtwort spricht.
Wir alle sind erleichtert, als es endlich an der Tür zu unseren Gemächern klopft und der Sohn des Jarls höchstpersönlich Dilja um ihre Begleitung bittet. Keine Spur der noch nicht lange zurückliegenden Anstrengungen ist ihm anzusehen, frisch zurechtgemacht und in feine Gewänder gehüllt reicht er meiner Schwester höflich die Hand.
Und wieder scheint mir, dass all sein galantes Gebaren nichts als Trug ist und diesmal lässt mich das ungute Gefühl nicht mehr los. Wenig später verabschiedet sich auch Vater gemeinsam mit seinen Beratern, die nächsten Verhandlungen um das Bündnis stehen an.
Mutter und die Zofen haben es sich in der Stube gemütlich gemacht, die Hausdiener servieren Gebäck, warmen Tee und auch manch stärkeres Getränk. Die Aufforderung, mich dazuzugesellen, lehne ich ab und ziehe mich auf mein Zimmer zurück.
Etwas ist seltsam an der geplanten Vermählung und dem daran geknüpften Bündnis zwischen Sydhaven und Bjerklund, ich spüre es genau. Wie gern würde ich nun mit Dilja sprechen, doch so verblendet von Liebe sie ist, verwerfe ich diesen Gedanken sogleich.
Quer über mein Bett ausgestreckt grüble ich lange vor mich hin, bis mir vor Erschöpfung die Augen zufallen. Erst, als sich kalte Hände um meinen Arm schließen, fahre ich erschrocken auf, kurz weiß ich nicht einmal mehr, wo ich gerade bin.
Dann erkenne ich Dilja, die vor meiner Bettstatt kauert und deren von Tränen gezeichnete Wangen mich auf der Stelle den letzten Resten des Schlafes entreißen. „Was ...", bringe ich gerade noch heraus, bevor sie ihren Kopf mit einem Schluchzen an meiner Schulter vergräbt.
Stumm schließe ich sie in meine Arme, dann warte ich hart klopfenden Herzens darauf, dass sie sich ein wenig beruhigt. Viel zu lange dauert es mir, mit jedem Augenblick wachsen Ungeduld und Sorge.
Doch endlich hebt Dilja den Kopf und offenbart mir ihr verweintes, von Kummer gezeichnetes Gesicht. „Er hat sich gar nicht für mich interessiert", murmelt sie heiser. „Ich glaube, er heiratet mich nur, weil es sein Vater so will."
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll – helfen wird es meiner Schwester sicher nicht, wenn ich ihr gestehe, dass ich es längst geahnt habe. Belügen möchte ich sie hingegen ebenfalls nicht, weshalb ich weiterhin schweige.
„Du hast es gewusst, oder?", wispert Dilja nur einen Herzschlag später und ihr verschleierter Blick klärt sich. „Warum hast du es mir nicht gesagt?"
Erst ist es heiße Schuld, die in meinem Magen brodelt, dann jedoch entsinne ich mich jenen Tages, da Dilja und ich Rurik zum ersten Mal gesehen haben. „Ich habe dir gesagt, dass er mir nicht ehrlich erscheint", platzt es aus mir heraus. „Und weißt du noch, wie wütend du geworden bist? Du hast mich einfach stehen lassen!"
Kurz senkt meine Schwester den Kopf. „Ja, ich erinnere mich. Aber warum hast du so schnell aufgegeben?"
Verblüfft mustere ich sie und der Anflug von Ärger in ihren hellblauen Augen ist mir unverständlich, vielmehr erweckt er den meinen. „Weil du dich so elendig in Rurik verliebt hast, dass du danach nichts anderes mehr im Kopf hattest als ihn!"
„Und von da an warst du zu sehr mit deiner Eifersucht beschäftigt?"
Diljas Worte treffen mich bis ins Mark. Natürlich hat es mich nicht kalt gelassen, dass da plötzlich jemand in ihr Leben getreten ist, der ihr mehr bedeutet als ich und für den sie mich einfach verlassen will.
Aber habe ich meine Bedenken deshalb für mich behalten? So, wie Dilja es nun ausspricht, klingt es gar, als hätte ich sie damit strafen wollen. Habe ich das? Mir schwirrt der Kopf, doch bevor ich meine Gedanken ordnen kann, klopft es an der Tür.
„Ilva, Dilja? Euer Vater wünscht euch zu sprechen!", erklingt Eidruns Stimme.
Ich weiß nicht warum, doch augenblicklich wird mir die Kehle eng und ein unangenehmes Kribbeln erwacht in meinem Magen. Aus Diljas hellblauen Augen springt mir ähnliche Unruhe entgegen, hastig wischt sie die letzten Reste der Tränen hinfort, dann greift sie nach meiner Hand.
Gemeinsam treten wir in die Wohnstube, doch so stimmungsvoll sie auch vom Licht der Abendsonne erhellt wird, reicht ein Blick in Richtung unserer Eltern aus, meine Sorgen weiter zu vertiefen.
Seite an Seite stehen sie vor dem Kamin, Vaters Gesicht puterrot und Mutters von Blässe gezeichnet. Was sie jedoch eint, ist der schmale Strich ihrer Lippen und ich weiß sogleich, dass sie beide von tiefstem Zorn erfüllt sind.
„Setzt euch", brummt Vater, nebenbei scheucht er mit herrischer Geste sämtliche Bediensteten fort. Einzig Detrik, sein oberster Berater, den ich gerade erst entdecke, rührt sich nicht. Halb verborgen lehnt er an der Wand hinter dem Kamin, die Stirn gefurcht und einen Becher in seinen Händen drehend.
Während Dilja und ich Vaters Aufforderung nachkommen, greift auch dieser zunächst nach dem Wein. Mit raschen Zügen leert er den Kelch, dann starrt er für einen Augenblick ins Leere. Nicht nur meine Ungeduld wächst, deutlich spüre ich das Zittern in Diljas Hand, die meine noch immer fest umschlingt.
Plötzlich entfährt Vater ein wütender Aufschrei, der mich zusammenzucken lässt. Unbeherrscht wirft er den Kelch von sich, quer durch die Stube. Gleich neben der Türe hinaus auf den Flur zersplittert er in unzählige Scherben, tiefrote Sprenkel überziehen die weiße Wand.
„Was bildet sich dieser Narr ein?", poltert er. „Der ist doch vom Dorsch gebissen!"
Bevor er sich jedoch in seinem Wutanfall verlieren kann, greift Mutter nach seinem Arm. „Nun reiß dich zusammen, Oldin", zischt sie ihn an. „Wir sollten zur Sache kommen! Sie müssen es wissen!"
Mein Magen verkrampft sich. Oh, ich habe es geahnt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht!
„Also gut", fährt Vater fort, eine Hand in seinen ausladenden, blonden Bart vergraben, was er nur in den seltenen Momenten tut, da er verunsichert ist. „Allein die große Mutter weiß, wie ich euch die neue Kunde schonend beibringen soll ..."
„Nun sag es schon!", geht Dilja ungewohnt vorlaut dazwischen. Ihre Stimme klingt grell, kaum kann sie die Tränen zurückhalten. „Er will mich nicht, ist es nicht so?"
Anstatt sie zu tadeln, seufzt Vater schwer. „Wenn es denn nur das wäre. Nein, Dilja, so leid es mir tut, du sollst nicht die Gemahlin Ruriks werden."
Das verzweifelte Aufschluchzen meiner Schwester trifft mich zutiefst, doch gleichzeitig wächst leises Entsetzen in mir heran, das schon bald an Panik grenzt. Wie könnte es denn noch schlimmer kommen?
Nur einen Herzschlag später ruht Vaters Blick auf mir. „Ilva, der Jarl Sydlunds fordert dich als Braut. Einzig dann wird er einem Bündnis zustimmen."
Kurz bin ich wie gelähmt, verstehe nicht, was ich soeben gehört habe. Was ich jedoch um so deutlicher spüre, ist Diljas Hand, die zuerst in der meinen erschlafft und sich dann mit einem Ruck löst.
In diesem Moment begreife ich. Mein Magen verkrampft sich, heißes Entsetzen schießt durch meinen Körper und ohne dass ich darüber nachdenke, springe ich auf.
„Ich soll Rurik heiraten?", bricht es aus mir hervor. „Niemals! Ich will nicht hier in Sydhaven bleiben! Ich will ihn nicht, hört ihr, ich will ihn nicht!"
Die letzten Worte schreie ich ungewollt hinaus, eisige Panik überschwemmt meinen Körper und lässt mich die Kontrolle verlieren. Fahrig irrt mein Blick zwischen meinen Eltern umher, darauf hoffend, dass vielleicht Mutter ein Machtwort spricht.
Doch sie schweigt, die Lippen weiterhin zusammengepresst. Ihre Augen, vom gleichen Kornblumenblau wie die meinen, betrachten mich kühl, nahezu vorwurfsvoll. Schließlich schüttelt sie entschieden den Kopf, indes Vater auf mich zutritt.
„Ilva, du weißt genau, um was es geht", spricht er eindringlich auf mich ein und streckt seine Hand nach mir aus. Ich will ihr ausweichen, bin jedoch wie versteinert, kann nichts dagegen tun, dass sich Vaters Finger hart in meine Schulter graben.
„Das Schicksal ganz Bjerklunds hängt von diesem Bündnis ab", fährt er erregt fort. „Und du wirst dich ganz den Wünschen Jarl Eriks fügen, hast du das verstanden?"
Stumm starre ich in Vaters hellblaue Augen, unfähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen. Ich habe immer gespürt, dass er anstatt Dilja und mich lieber einige Söhne in die Welt gesetzt hätte, doch wie eiskalt ich nun verschachert werde, trifft mich zutiefst.
„Hast du das verstanden?", brüllt Vater mich unerwartet an und ich kann nicht einmal zurückweichen, da seine Hand meine Schulter noch immer fest umschließt.
Von Kopf bis Fuß durchfährt mich ein Zittern, mein Kopf hingegen nickt wie von selbst. Ein Teil von mir hasst mich dafür, dass ich nicht aufbegehre, doch nach wie vor bin ich vollkommen gelähmt, sowohl körperlich als auch in meinem Denken.
„Gut", brummt Vater und entlässt mich endlich aus seinem Griff. Beinahe geben meine Beine unter mir nach, gerade noch kann ich mich an der Kante des Sessels gleich hinter mir halten. Dabei huscht mein Blick über Dilja, deren eingefrorene Miene mich den letzten Rest an Beherrschung verlieren lässt.
Tränen schießen mir in die Augen, ungestüm stürze ich meinem Zimmer entgegen. Niemand hält mich auf, zumindest diesen Augenblick für mich allein gönnen mir meine Eltern. Mit zitternden Gliedern sinke ich auf mein Bett nieder, den Blick meiner Schwester vor Augen – voller Zorn, ja gar Hass, als ob sie mir die Schuld gäbe, dass ich nun jenen Mann ehelichen soll, an den sie ihr Herz verloren hat.
Heute abend wird sie mich gewiss nicht besuchen und ich frage mich, ob ich den Mut aufbringen kann, an ihre Türe zu klopfen.
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