Kapitel 1 - Sydhaven
„Kannst du schon etwas sehen?"
„Nein", seufzt meine große Schwester, die aus dem anderen Fenster der Kutsche späht. Gerade mühen sich die Pferde eine Anhöhe hinauf, eine der letzten, bevor wir endlich Sydhaven erreichen werden, wie Vater es am Morgen noch versichert hat.
Seit vielen Tagen schon sind wir unterwegs, kaum noch ertrage ich die Enge der Kutsche. Das stetige Rumpeln und Rütteln der Räder über unebenen Grund lässt meinen Kopf schmerzen, ganz zu schweigen von den Schlaglöchern, dir mir so manchen blauen Fleck eingebracht haben.
Immerhin ist uns das Wetter gnädig gewesen, selten nur hat sich die Sonne gezeigt, obwohl es doch mitten im Sommer ist. Die wenigen Male, da wir unter Hitze und stickiger Luft zu leiden hatten, kann ich an einer Hand abzählen.
Nun jedoch ist alle Mühsal der Reise vergessen. Bald wird sich mein sehnlichster Wunsch erfüllen – schon immer habe ich davon geträumt, einmal das Meer zu erblicken. Seen und Flüsse gibt es daheim in Bjerklund viele, doch mit dem Meer, so hat man mir stets erzählt, kann sich keiner von ihnen messen.
Dilja ist ebenso aufgeregt wie ich, doch aus anderem Grund. Schließlich erfüllt sich auch ihr größter Traum – sie wird den Sohn des Jarls von Sydhaven ehelichen. Verstehen kann ich ihre Begeisterung nicht, doch meine Schwester ist so glücklich, dass ich ihr die Freude nicht verderben mag.
Ein Aufschrei Diljas reißt mich aus meinen Gedanken. „Sydhaven! Sieh nur, wir sind fast da!"
Auf der Stelle fahre ich herum und rutsche auf der gepolsterten Bank zu ihr herüber. „Wo? Rück mal ein Stück!" „Dort drüben, kannst du es sehen?" ,erwidert meine Schwester und macht mir ein wenig Platz, so dass ich meinen Kopf neben den ihren zwängen kann.
Der sich mir bietende Blick raubt mir den Atem, doch dies ist nicht den Mauern der Stadt geschuldet, die sich unten auf der Landzunge erheben, im Licht der sinkenden Sonne noch winzig klein anzusehen und dennoch weitaus größer als jede Ansiedlung, die wir auf unserer Reise passiert haben.
Nein, es ist jenes endlose Blau, das die Küste umschließt und sich weit in der Ferne mit dem Himmel vermischt. Gewaltiger als alles, was ich mir je vorgestellt habe, so dass ich mich mit einem Schlag seltsam klein und unbedeutend fühle.
Gleichzeitig fährt mir ein kummervoller Stich durchs Herz. Meine Bekanntschaft mit dem Meer wird eine flüchtige sein, Dilja hingegen den Rest ihres Lebens hier verbringen. Ich weiß, dass auch sie dieser Gedanke plagt, obwohl wir kein einziges Mal darüber gesprochen haben. Doch ich kenne sie gut genug, wie auch sie stets spürt, was mich bewegt.
Stumm ziehe ich mich vom Fenster zurück. Meine Schwester tut es mir gleich, ein breites Lächeln im Gesicht und die Wangen gerötet vor Aufregung. „Oh, ich kann es kaum erwarten", jauchzt sie und gleicht in diesem Moment mehr einem kleinen Kind denn der erwachsenen Frau, die sie mit neunzehn Wintern längst ist.
„Nun reiß dich ein wenig zusammen", mahnt Eidrun streng. Meist sitzt unsere Zofe stumm auf der Bank gegenüber, wenn sie jedoch meint, dass wir über die Stränge schlagen, lässt sie uns dies wissen. „Was soll man denn von dir denken, wenn du dich so aufführst?"
Verlegen senkt Dilja den Blick, ich hingegen verdrehe verstohlen die Augen. Schon von klein auf ist es mir lästig gewesen, den Gepflogenheiten zu folgen, derer es viel zu viele gibt, wenn man die Tochter eines Jarls ist.
Immerhin wird es nach der Hochzeit einfacher für mich werden, so hoffe ich es. Das Bündnis mit einem weitaus mächtigeren Jarl sollte unsere Heimat sowohl schützen als auch den Handel vorantreiben, so dass es sicher nicht nötig ist, mich ebenfalls zu vermählen.
Vielleicht kann ich also doch noch meinen Traum leben und mich ganz der Kräuterkunde und dem Heilen verschreiben, das einzige im Leben, was mich wirklich mit Zufriedenheit erfüllt. Wenn nur Dilja weiterhin bei mir bleiben könnte ...
Der Tadel Eidruns hat ihre Begeisterung ein wenig gedämpft, doch der Übermut in ihren Augen ist längst nicht erloschen. „Denk nur", wispert sie mir ins Ohr und schlingt ihren Arm um meine Schultern, „eine ganze Flotte an Schiffen befehligen sie in Sydhaven! Rurik wird mich sicher einmal mit hinausnehmen, meinst du nicht?"
„Das wird er", versichere ich, obwohl mein Magen in Gedanken an Diljas zukünftigen Gatten rumort. Ein hübscher Bursche ist er durchaus, zudem hat er sich recht höflich und zuvorkommend verhalten. Doch all dies hat auf mich viel zu gekünstelt gewirkt, weit entfernt von der offenen Freude meiner Schwester. Wenn er sie nur gut behandeln wird!
Meine Zweifel behalte ich jedoch wie immer für mich. Die Entscheidung ist längst getroffen und Dilja hat ihr Herz längst an Rurik verloren. Schon als er uns samt seiner Familie vor einigen Monden in Bjerklund besucht hat, ist es um sie geschehen gewesen.
„Rurik wird dir all die schönen Strände rund um Sydhaven zeigen und mit dir aufs Meer hinaussegeln", fahre ich leise fort, woraufhin sich meine Schwester mit einem glückseligen Lächeln noch enger an mich schmiegt.
Lang hält sie es an meiner Seite jedoch nicht aus, da von der Küste her ein Hornstoß weit über die Lande hallt – man hat unsere Ankunft wohl bemerkt. Wieder und wieder späht Dilja zum Fenster hinaus, selbst weitere Machtwort unserer Zofe bremsen ihren Eifer nicht, bis Eidrun schließlich aufgibt und seufzend einen letzten Ratschlag gibt.
„Wenn wir angekommen sind, wirst du dich hoffentlich deiner Manieren erinnern!"
Kaum kann ich mir ein Schmunzeln verkneifen. Niemand ist besser darin als Dilja, im Angesicht hochrangiger Gesellschaft höflich in die Knie zu gehen, ihre Hand zu reichen und ihr Gegenüber mit wohl gewählten, von einem sanften Lächeln begleiteten Worten sogleich zu verzaubern.
So ausgelassen sie gerade auch ist, wird sie die Erwartungen Eidruns, und noch viel wichtiger, die unserer Eltern, gewiss nicht enttäuschen. Je näher die Tore Sydhavens rücken, desto gefasster wirkt Dilja, nach und nach verdeckt ihre übliche Maske auch noch den letzten Funken an Übermut.
„Wie sehe ich aus?", wendet sich Dilja schließlich an Eidrun, die sich kritischen Blickes vorbeugt, um einige der hellblonden Locken zurückzustreichen. „Wunderschön wie immer, meine Liebe. Nur dein Kleid solltest du ein wenig richten."
Während die beiden damit beschäftigt sind, die weichen Stoffe, vom gleichen Hellblau wie Diljas Augen, zu glätten, spähe ich erneut aus dem Fenster. Unserer Kutsche voran rollt die meiner Eltern auf Sydhaven zu, angeführt vom Hauptmann Bjerklunds und umgeben von einer berittenen Schar der treusten Landsknechte.
Hinter uns folgen zwei weitere Kutschen, Kammerdienern als auch den besten Beratern meines Vaters vorbehalten, denen er blindlings vertraut. Den Abschluss unserer Reisegesellschaft bilden ein Fuhrwerk mit Gepäck und weitere Landsknechte, in Leder und hellgrün gefärbtes Leinen gewandet, den Blättern der vielen Birken nachempfunden, die das Bild meiner Heimat prägen.
Mittlerweile müssen die Kutscher inmitten des Stromes an Menschen, Fuhrwerken und Tieren gut achtgeben, immer wieder gerät die Fahrt ins Stocken. Weitaus belebter als um Bjerklund herum ist die Gegend, vielerlei Pfade ziehen sich zwischen Feldern, Weiden und Gehöften hindurch und tragen dazu bei, dass der Weg vor dem Tor bald vollkommen verstopft ist.
Da nützt es wenig, dass vorn auf der ersten Kutsche achtungsheischend das Banner Bjerklunds geschwenkt wird und Vaters Landsknechten derbe Worte entfahren – unsere Ankunft scheint niemanden zu kümmern.
Als jedoch ein weiterer Hornstoß ertönt, diesmal so nah, dass ich zusammenzucke, gerät die zuvor gleichgültige Menge in Bewegung. So weit wie nur möglich lehne ich mich aus dem Fenster heraus, bis sich eine knochige Hand auf meine Schulter legt und mich zurückzieht.
„Ilva! Nun gedulde dich doch ein wenig", entfährt es Eidrun, derweil sie ihren dürren Körper erst zur linken, dann zur rechten Seite streckt, um sämtliche Vorhänge zu schließen. „Seid ihr denn schaulustige Bauern oder die Töchter eines Jarls? Ihr werdet noch früh genug alles zu sehen bekommen!"
Ich spare mir sämtliche Widerworte und wechsle einen knappen Blick mit meiner Schwester, die wohl ähnlich gerne wie ich wüsste, was dort draußen vor sich geht. Leise seufzend fasst sie nach meiner Hand, während wir gespannt lauschen.
Mit einem Mal geht es schneller voran. Über den Lärm der Menschen hinweg vernehme ich barsche Befehle, manch ein erschrockener Aufschrei mischt sich darunter. Jemand scheint uns eine Schneise zu bahnen und dabei wenig rücksichtsvoll vorzugehen.
Dann beginnt die Kutsche unangenehm zu rappeln, während der dumpfe Hufschritt der Pferde in ein helles Klappern übergeht. Es muss mit Kopfsteinen bedeckter Grund sein, wie er sich auch durch die Straßen Bjerklunds zieht.
Oh, wie gern würde ich Eidruns Mahnung in den Wind schlagen, um nur einen einzigen Blick auf die Gassen Sydhavens zu werfen! Schließlich handelt es sich um eine der größten und bedeutendsten Städte im Süden Stenlands, und wenn auch das Meer mich weit mehr fasziniert, wüsste ich doch gerne, wie die Menschen hier leben.
Denn schon immer habe ich lieber die Nähe des einfachen Volkes gesucht. Vater und Mutter haben nichts davon gewusst, dass die alte Sigrid mich mit hinaus genommen hat, anstatt mir in ihrem stillen Kämmerlein die Kunst des Heilens zu lehren.
„Ich kann dir alles erzählen, was du wissen musst, aber lernen wirst du es erst, indem du mit anpackst", sind damals Sigrids erste Worte an mich gewesen. „Komm mit, wir können es gerne für uns behalten."
Nach wie vor bin ich der Alten dankbar für ihren Mut, meine Eltern zu hintergehen. Niemals hätte ich sonst erfahren, was es bedeutet, fernab der Burg ein schlichtes Leben zu führen, in dem manchmal gar die tägliche Mahlzeit auf Messers Schneide steht.
Einzig Dilja habe ich mein Geheimnis anvertraut. Nebst Sigrid weiß allein sie, dass ich, unter schützender Tracht verborgen, bis in die niedersten Viertel Bjerklunds entschwunden bin. Das Elend der einfachen Leute hat mich zutiefst mitgenommen und alles in Frage gestellt, was meine Eltern mich stets gelehrt haben.
„Wer einer ordentlichen Arbeit nachgeht, muss auch nicht hungern." So erinnere ich mich Vaters schroffer Worte, derweil ich hinaus auf den Lärm der Stadt lausche und mich ein Anflug von Bitterkeit erfüllt.
Er kann nicht ahnen, wie es ist, wenn das Schicksal zuschlägt und Krankheit, Unfall oder andere Dinge es unmöglich machen, für sich selbst und Anvertraute zu sorgen. Meine vorsichtigen Widerworte haben Vater damals nicht im geringsten berührt, stattdessen hat er mich heftig gescholten und der Unzulänglichkeit bezichtigt.
„Was weiß ein Mädchen schon davon, wie es zugeht? Sieh du nur zu, dass du lernst, wie es sich zu benehmen gilt und halte dich aus den wirklich wichtigen Dingen heraus! Hat dir etwa Sigrid diesen Unsinn in den Kopf gesetzt?"
Hastig habe ich dies verneint und seitdem nie wieder darüber gesprochen, voller Furcht, Vater könnte die unausgesprochene Drohung in die Tat umsetzen. Denn die Möglichkeit, die Kunst des Heilens zu erlernen, um jenen zu helfen, die weniger vom Schicksal begünstigt sind, habe ich nicht riskieren wollen.
Die Erinnerungen haben den letzten Rest jenes Hochgefühls, die Weiten des Meeres erblickt zu haben, vertrieben. Gesenkten Kopfes starre ich auf mein kornblumenblaues Kleid hinab, indes die Kutsche tiefer in die Stadt hineinrappelt.
Erst, als Dilja sanft meine Hand drückt, sehe ich auf. „Sei nicht traurig", wispert sie und legt ihren Kopf an meine Schulter. „Auch du wirst dein Glück noch finden, da bin ich mir sicher! Vater wird ein Einsehen haben, nun, da Frieden und Handel gesichert sind!"
Es verblüfft mich wieder einmal zutiefst, dass sie so genau weiß, was mich bewegt. Tränen treten mir in die Augen, denn nicht nur meine ältere Schwester werde ich verlieren, sondern gleichzeitig auch meine beste Freundin.
„Und wir werden uns Briefe schreiben, wie abgemacht, ja? Das ist fast so, als wären wir noch beieinander", fährt sie wispernd fort.
Ich wische die Tränen hastig beiseite und nicke. „Ja, das machen wir", murmele ich, doch ein großer Trost ist es auch diesmal nicht. Wochen wird eine jede Nachricht brauchen, bis die weite Strecke zwischen Berklund und Sydhaven überwunden ist, keineswegs vergleichbar mit einen Gespräch von Angesicht zu Angesicht und der damit verbundenen vertrauten Nähe.
Zwischen Diljas hellblauen Augen entsteht eine kleine Falte – sie hat mich auch diesmal durchschaut. Bevor sie jedoch zu weiteren freundlichen Worten ansetzen kann, verlangsamt sich die Fahrt der Kutsche.
Festliche Hornklänge künden davon, dass wir unser Ziel erreicht haben. Augenblicklich erstarren sowohl Dilja als auch ich. Hohl klingt der Pferde Tritt nun, wir müssen soeben das Burgtor passieren und es kostet mich höchste Beherrschung, den Vorhang nicht doch ein Stück beiseite zu schieben.
Meine Schwester zittert vor deutlicher Aufregung, schmerzhaft fest wird der Griff ihrer Hand um die meine. Als die Räder der Kutsche wenig später jedoch über Kies knirschen, um schließlich zum Stillstand zu kommen, bedenkt sie mich mit einem letzten, entschuldigenden Blick, dann strafft sich ihr Körper.
Ein feines Lächeln ziert die Mundwinkel, hell strahlen Diljas Augen und wer sie nicht kennt, kann unmöglich ausmachen, dass die Wärme gekünstelt ist, dass es die ihr gelehrte Maske ist, derer sie sich nach Belieben bedienen kann.
Eilige Schritte ertönen, dann öffnet sich die Tür. Mit höflich gesenktem Kopf reicht Joren erst Dilja, dann mir die Hand, um uns auf den kiesbedeckten Grund hinabzuhelfen. Während unser Kammerdiener auch Eidrun unterstützt, suche ich unwillkürlich die Nähe meiner Schwester.
Denn was ich im schwindenden Licht des Tages zu sehen bekomme, ist derart überladen von Pracht und zur Schau gestellter Macht, dass mir der Atem stockt.
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