Kapitel 6
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„Kleines, wach auf" , es ist die sanfte Stimme eines jungen Mannes.
Ich versuche die Augen zu öffnen, doch es gelingt mir nicht.
Ich spüre, wie eine warme Hand mir behutsam über den Scheitel fährt.
„Sie sagten mir, ich solle einfach mit dir sprechen, du würdest mich schon verstehen." Er lacht matt. „ Und da bin ich nun. Sitze hier nutzlos rum und rede... Könntest du mir nicht ein Zeichen geben, dass du da bist? Nur ein Fingerzucken oder eine besonders lange Atempause...Bitte, irgendwas damit ich weiss, dass es dir gut geht",fleht er verzweifelt.
Mit aller mir zur Verfügung stehender Kraft, versuche ich meine Augen zu öffnen, denn diese wunderbare Stimme... ich kannte sie.
Nicht nur flüchtig. Nein. Ich kenne sie ganz sicher.
Es ist wie ein uralter Instinkt, die sie in mir auslöst, der mich sofort wissen lässt, dass ich in Sicherheit bin.
Ich möchte Aufwachen. Ich muss Aufwachen. Für ihn. Ihm zeigen, dass ich in Ordnung bin. Doch ich bin nicht im geringsten dazu fähig auch nur meinen Atem zu kontrollieren. Diese Situation scheint hoffnungslos.
Wo bin ich überhaupt und warum bin ich hier? All diese Fragen sollten mich doch eigentlich beschäftigen, doch das tun sie nicht, nicht mal ein wenig. Mir ist alles gleichgültig, ich will nur die Kontrolle über meinen Körper zurück. Wobei sich mir die Frage stellt, ist das überhaupt mein Körper?
Nach kurzer Überlegung komme ich auf den Entschluss, dass es so sein muss. Welche Kraft sollte mich sonst an diesen Ort binden, wenn es nicht meine eigene Materie ist?
Gefangen im eigenem Körper.
In unendlicher Dunkelheit.
Ohne eine Aussicht auf Besserung.
Der schrille Ton ihres Weckers gewesen war es gewesen, der sie so rabiat aus dem Schlaf gerissen hatte. Mit einer schnellen Handbewegung schlug Jill ihn ungewollt von ihrem Nachttisch, woraufhin er verstummte.
Schlotternd setzte sie sich auf und atmete tief durch. Daran würde sie sich wohl nie gewöhnen.
Seit der Winternacht war bereits zwei Wochen vergangen, mittlerweile verbrachten sie und Taylor sehr viel Zeit miteinander. Ansonsten war fast alles beim alten. Nun ja fast. Denn Maybell verhielt sie auffällig verschlossen.
Jill und Demi hatten es zunächst als normale Trennungsreaktion abgestempelt, aber dem war nicht so. Wie besessen saß sie zu jeder Minute des Tages an ihrem Handy und schrieb mit irgendeinem merkwürdigen Typen, den sie wohl beim Ball kennengelernt hatte. Jedoch konnte sie nie die Frage beantworten, ob er auf unsere Schule ging. Bei der letzten Konfrontation hatte sie nur gesagt, dass er ja schließlich auch auf dem Ball war. Das war jedoch keine aussagekräftige Antwort fand Jill.
Aufgrund ihrer Heimlichtuerei nannten die beiden ihn mittlerweile das Phantom.
Wie dem auch sei.
Streckend erhob sie sich aus dem Bett und dehnte ihre Arme zum wachwerden. Heute wollte sie den Tag damit verbringen sich die neuen Lerninhalte anzuschauen.
Allerdings nicht aus freien Stücken. Denn auch wenn es keiner aussprach wurde die mündlichen Abfragen vor jeder Stunde sehr wohl bewertet.
Nachdem Jill gefühlt Stunden damit verbracht hatte ihre dunklen Augenringe zu kaschieren, gab sie sich schließlich mit dem Versuch, eines ordentlichen Make-ups, zufrieden.
Lustlos schlenderte sie in den Speisesaal, wo ihre Freunde auf sie warteten. Nur Taylor schlief noch.
Mit einem stummen Nicken grüßte sie die anderen und lies sich übermüdet auf den leeren Stuhl fallen.
„Ist etwas passiert? Du siehst fertig aus", wollte Jason wissen, in seine Stimme lag der Klang von Besorgnis.
„Nein, alles gut. Ich war einfach zu lange wach."
Behutsam griff sie nach ihrem Sandwich und biss ein paar mal hinein. Das letzte Mal als sie sich so gefühlt hatte war nach der Weisheitszahn Operation, damals hatte sie den Eindruck, dass die Welt zu schnell für ihr Gehirn sei.
Ein ekelhaftes Gefühl.
„Jill, kommst du jetzt mit uns oder hast du was anderes vor?", unterbrach Demi ihre Gedanken.
„Nein May, ich wollte noch lernen. Ich meine Demi, sorry."
Jill wusste, dass sie sich um sie sorgten. Zurückhaltend lächelte sie, um so die Bedenken ihrer Freunde ein Stückweit nehmen zu können. Es dauerte einen Moment bis sich alle Blicke endlich von ihr abwandten.
Nach dem Frühstück schlich sich Jill an ihren Lieblingsort. Vor ihr lag ein langer und heller Korridor, der nur selten verwendet wurde. Durch die großen Fenster schien die Wintersonne und lies so die winzigen Staubpartikel, die in der Luft schwebten, wie feinen Glitzer aussehen.
Jill wusste auch nicht warum, aber für sie wirkte dieser Ort wie ein milder Herbsttag.
Vorsichtig glitt sie in den großen braunen Ledersessel und legte ihre Notizen auf den kleinen Tisch vor ihr. Der Sessel war noch ganz warm von der Sonne und für einen flüchtigen Augenblick überkam Jill das Gefühl von Geborgenheit. Zufrieden sah sie aus dem Fenster. Eigentlich war dieser Bereich für Unbefugte strengstens verboten, doch Miriam würde sicherlich kein Problem damit haben.
Zu Beginn nahm sie sich ihre Mathenotizen vor. Wenn sie nämlich die Formeln erst mal verstanden hatte, dann würde es nur noch besser werden können.
Mit Mathe tat sie sich nämlich besonders schwer, es lag einfach außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Mit einem lautem Knall flog eine Tür am anderen Ende es Ganges auf und sofort wurde die friedliche Stille durch ein lautes Telefonat gestört.
Reflexartig sprang Jill unter den kleinen Tisch und zog die Tischdecke weiter runter. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl sich der anderen Person besser nicht zu zeigen.
Je näher die Stimme kam, desto verkrampfter wurde sie. Es war eine blöde Idee gewesen herzukommen.
„Bitte was?...Ich weiss wie knapp es wurde!... Ja, wenn ich doch sage... sie war kurz davor alles zu ruinieren!", bei dem letzten Satz wurde die Stimme energisch laut, dann holte die Person tief Luft und versuchte sich zu beruhigen.
„Ich habe alles in meiner Macht stehende getan, um es auf Ihre Weise zu tun. Jetzt tue ich das was schon lange überfällig ist!... Niemand hat etwas erfahren..."
Jill traute sich kaum zu atmen. Sie hatte das Gefühl jede Sekunde erwischt zu werden.
Wie ein Panther ging er vor dem Tisch auf und ab.
„Nein, heute Nacht ist eine Party im Wald. Alle werden dort sein... Gerade deshalb ist es perfekt... Zweifeln Sie an meinen Fähigkeiten?...Gut... Viel wird von dem Vieh nicht übrig bleiben", der Gedanke schien ihn zu amüsieren, denn er lachte kurz.
„Ich glaube das wird nicht nötig sein, denn sie werden sich selbst zerstören...Bald treffen sich die drei Scheiben! Wir sollten, nein wir dürfen uns keine Fehler erlauben....Genau den Rest besprechen wir vor Ort. Man kann nie sicher sein, denn die Wände haben Ohren... Wiedersehen."
Der Ton der Auflegetaste ertönte, das Gespräch war beendet.
Jill versuchte sich daran zu erinnern, wessen Stimme es war. Doch ihre Angst hinderte sie dabei einen klaren Gedanken fassen zu können. Schlagartig wurde ihr unerträglich heiß, sie musste da weg. Am besten an die frische Luft. Jill war völlig aufgewühlt und versuchte die dunkle Vorahnung die sich anbahnte vorerst zu verdrängen. Wollt er etwa... Nein! Daran konnte und durfte sie jetzt nicht denken.
Ihr Kopf war voller Gedanken und gleichzeitig vollkommen leer.
Für einen kurzen Augenblick schienen die Schritte sich wieder zu entfernen, sie spürte wie sich alles wieder langsam entkrampfte und sie schnappte nach Luft.
Hatte sie etwa die ganze Zeit nicht geatmet?
Tatsächlich Jill schmeckte Blut, vor lauter Angst hatte sie sich auf ihre Lippe gebissen, um nicht zu atmen. Bevor sie sich wirklich vergewissern konnte rannte sie.
Lauf. Das einzige Wort welches sie im Sinn hatte.
Jill wollte nichts damit zu haben und gleichzeitig so schnell es ging Abstand zu der Situation bekommen. Räumlich und geistig. Ohne darüber nachzudenken jagte sie aus dem Gebäude. In diesem Moment lies sie sich gänzlich von ihrer Vorahnung leiten und verschwand im Dickicht des Waldes.
Keuchend rannte Jill weiter.
Mittlerweile wusste sie nicht mehr wo sie sich befand. Wie fremdgesteuert war sie über mehrere kleine Zäune gesprungen und überquerte einen schmalen Bach. An einer Straße blieb sie schließlich stehen.
Ihre Lunge brannte und sie hatte den Geschmack von Eisen im Mund. Sie fasste sich an den Bauch, denn sie hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen. Jede Faser ihres Körpers schmerzte entsetzlich.
Was hatte sie bloß getan. War sie denn nun völlig übergeschnappt. Schockiert griff sie sich an den Kopf, immer noch keuchend von der Jagd. Nun drehte sie tatsächlich durch. Alles fing mit den Träumen an und jetzt das! Ein Telefonat brachte sie so aus der Fassung?
Wieder hatte sie aus einer Mücke einen Elefanten gemacht, doch diesmal war sie über die Stränge geschlagen. Sie musste sich endlich zusammenreißen, da diese impulsive Seite sie vermutlich noch in eine Anstalt beförderte.
Jill fuhr sich durchs Haar. Sie wusste nicht mehr weiter, so viele Vorwürfe und Fragen schwirrten orientierungslos durch ihren Kopf. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Zumindest nicht jetzt.
Verzweifelt sah sie sich um. Sie kannte die Gegend nicht, deshalb entschloss sie sich erstmal dazu der Straße, die mitten im Nirgendwo war, zu folgen. Abwesend begann sie zu summen, um so die Lautstärke ihrer Gedanken übertönen zu können. After the Rain von Nickelback. Immer und immer wieder begann sie es von Vorne. Zu groß war ihre Angst vor der Konfrontation ihrer eigenen Gedanken.
Eine ganze Weile schlenderte sie so ziellos durch die vielen Felder und Wiesen. Bis die Straße an einem Aussichtspunkt mündete.
Bald würde die Sonne untergehen. War sie etwa schon so lange unterwegs?
Ausgelaugt setzte sie sich auf eine Bank und sah in die Ferne. Die alte Holzbank stand am Rande einer Klippe, sodass Jill direkt auf eine Reihe von Bergen sah. Durch die Sonne, die nun so tief zwischen ihnen stand, sah es so aus als stünden die Gipfel in Flammen.
„The light in the tunnel is just another runaway train
The blue skies we wait on
Are gonna have to come after the rain", beendete jemand das Lied.
Ihr war garnicht aufgefallen, dass sie immer noch summte.
„Ist ein guter Song", bemerkte der Junge und zuckte mit den Achseln, bevor er sich zu ihr auf die Bank setzte.
Für einen minimalen Augenblick dachte sie, sie wäre die Protagonisten einer kitschigen Romanze.
Während der Typ in die Berge blickte, musterte sie ihn skeptisch. Er war in ihrem Alter und wirkte auf den ersten Blick sehr freundlich. Irgendwie kam er ihr auch sehr bekannt vor, doch er lies sich in ihrem Kopf nicht zuordnen. Breit grinsend sah er sie an, wobei er irgendwie an ein Emoji erinnerte.
„Stimmt", pflichtete sie ihm bei und lächelte zurückhaltend zurück.
„Ich komme jeden Abend her und sehe mir den Sonnenuntergang an. Einzigartig nicht wahr?", fragte er nett und sah fasziniert in die Ferne.
„Woher kenne ich dich?", murmelte sie nachdenklich vor sich hin und reagierte nicht auf seine Frage.
„Gar nicht! Ich bin Alec und wie heißt du?", wieder lächelte er und diesmal funkelte etwas in seinen dunkelbraunen Augen.
„Jill."
Eigentlich würde sie sich niemals mit Fremden einfach so unterhalten, doch irgendwie wirkte einfach alles an ihm so freundlich und offen. Außerdem schien ihr Kopf ihn schon längst alten Bekannten eingestuft zu haben.
„Es war wirklich schön mit dir Alec, aber ich muss jetzt langsam gehen."
Die Sonne war schon hinter den Bergen verschwunden, als Jill ich von ihm verabschiedete.
„Ist ja auch schon spät. Soll ich dich noch ins Internat begleiten? Es ist ja schon dunkel", bot er ihr an.
„Nein, schon in Ordnung", lehnte sie dankend ab.
„Sehe ich dich morgen wieder?"
„Ähm, mal schauen."
„Ich werde hier sein." Jill verdrehte lächelnd die Augen und ging.
Nun bereute sie es noch so lange dort geblieben zu sein, denn in der Dunkelheit wirkte der Wald noch bedrohlicher. Überall raschelte es und langsam beschlich sie das ungute Gefühl verfolgt zu werden. Beinahe rannte sie schon. Jedoch rief sie sich immer wieder ins Gewissen, sich zu entspannen. Warum sollte sie jemand verfolgen?
Als Jill endlich in ihrem sicherem Zimmer stand, warf sie sich auf ihr Bett, welches direkt neben der Tür stand.
Den ganzen Weg lang hatte sie sich eingeredet, dass alles in Ordnung sei. Doch tief in ihrem Inneren spürte sie, dass sie sich selbst belog. Vielleicht sollte sie lieber Demi und Maybell anrufen und sie bitten heute Zuhause zu bleiben.
Grade als sie nach ihrem Handy greifen wollte, hört sie es.
Jill hielt inne, denn dort stand jemand, direkt vor ihrer Tür.
Für einen kurzen Augenblick war sie erleichtert, dass in ihrem Zimmer kein Licht brannte. Vorsichtig lehnte sie sich gegen die Tür. Sie konnte den Atem der anderen Person ganz deutlich hören. Mit einer zitternden Hand drehte sie leise den Schlüssel im Schloss um. Scheinbar grade rechtzeitig, denn in diesem Moment ging die Türklinke langsam runter. Jemand wollte in ihr Zimmer kommen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
War es ein Tagtraum?
Plötzlich wurde etwas unter ihrer Tür hindurch geschoben. Fast wäre ihr ein Laut entwichen. Entsetzt hielt sie sich den Mund zu. Ihr Heft! Sie hatte es auf dem Beistelltisch vergessen. Was hatte es zu bedeuten?
Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken riss sie die Tür auf.
Einsam und verlassen lag der Flur da.
Wollte er sie damit warnen oder war sie nun komplett übergeschnappt?
Weder May noch Demi gingen an ihr Handy, sie mussten also schon auf der Party sein. Nun gut, dann würde sie halt auch zu dieser Feier gehen. Nur müsste sie sich vorher umziehen.
Nicht ahnend, dass nach dieser Entscheidung nichts mehr so sein würde wie es einmal war.
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