Kapitel 1
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(SICHT EINES UNBEKANNTEN, 1 WOCHE NACH DEM VORFALL)
Heute war sie wieder da.
Das Kinn in ihre Hand gelegt. Die Augen stets auf das Geschehen gerichtet. Das Ende ihres Kugelschreibers tippte im Takt auf ihre Unterlippe. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie herüber gesehen. Es war nur ein kleiner Seitenblick gewesen und dieses Lächeln. Oh, dieses Lächeln, das Herzen springen ließ.
So unschuldig und so verletzlich.
Wusste sie es? Konnte eine solch reine Seele, wie ihre, ein so düsteres Geheimnis verbergen. Um ihretwillen wollen wir es nicht hoffen.
In dieser Nacht war ein so viel geschehen. Es konnte ein Zufall gewesen sein.
Das melodische Läuten der Glocken signalisierte das Ende der Stunde. Normalerweise würden noch andere Einheiten folgen, doch dafür blieb keine Zeit. Ein kurzer verstohlener Blick durch den Raum verriet, dass alle gegangen waren. Der geeignete Augenblick, um unbemerkt zu verschwinden.
Konzentration.
Nun war ein klarer Verstand erforderlich, nur so würde es gelingen, unbemerkt zu verschwinden.
Der Blick auf die Uhr verriet, dass nicht mehr viel Zeit blieb. Dieses ätzende Doppelleben. Noch nie war es noch ermüdend gewesen. War es das am Ende überhaupt wert? Etliche Leben wurden genommen und ausradiert.
Wozu?
Sie alle waren doch durstig nach Macht und Kontrolle. Keiner besser als der andere.
Es waren jene Fragen, die zum ersten Mal gestellt wurden und Zweifel auftrieben ließ.
Draußen war es kalt. Seit zwei Tagen war der Himmel düster verhangen. Die Wolken hatte sich so zu gezogen, als sei es Nachts. Bedrohlich ertönte ein lauter Donner in der Ferne, dann erhellte ein Blitz den Horizont. Es tobte ein wahres Unwetter. Eines, bei dem man sich am liebsten, mit einem warmen Getränk, im Bett verkroch. Die frostige Luft sorgte für Gänsehaut.
Der vereinbarte Treffpunkt lag weit außerhalb der Stadt, sodass es praktisch unmöglich war ihn von sich aus zu finden. Vor allem bei dem Wetter. Es war unvermeidbar, bei diesem strömenden Regen trocken zu bleiben. Die Kleidung klebte vor Nässe. Ekelhaft. Die feuchte Kälte hatte dafür gesorgt, dass die Finger und Füße taub wurden.
Aus einem düsteren Gebüsch stieg ein altes Fabrikgebäude empor. Die vielen Fenster waren geschlossen und graugrünes Efeu bedeckte die gesamte Fassade. Eine bösartige Dunkelheit strahlte das alte Haus aus. Die Jahre lange Witterung hatte sichtliche Spuren hinterlassen. Ein passend gewählter Treffpunkt, fast schon zu Klischee erfüllend.
„Endlich sind wir nun vollständig," ertönte die dunkle Stimme eines Mannes. Charon.
Dem Klang seiner Stimme folgte ein Echo. Sie standen in einer großen Lagerhalle. Führer stapelten sich vermutlich die Paletten bis zu den Decken. Heute erfüllte den Raum nur noch eine beängstigende Leere. Von der porösen Decke hingen noch vereinzelt Kranarme.
Es hatte sich eine überschaubare Anzahl an Personen getroffen, für gewöhnlich waren sie zu fünft, doch heute blieb es bei den dreien.
„Ihr wisst, dass die Zeit läuft und ich habe von oben bereits ... Druck bekommen. Also erzählt mir etwas, das mich erfreut!", ergriff er erneut das Wort.
Ihn umhüllte eine dunkle Aura, die sich auf den Raum ausbreitete. Auf dieser Ebene war er der Strippenzieher und derjenige, der dafür sorgte, dass die graue Eminenz zufrieden war.
„Eine Gefahr wurde eliminiert, genauso wie bereits eine Falle gelegt wurde. Diesmal konnten wir taktischer vorgehen. Wir vermuten, dass sich weitere Geschöpfe dort aufhalten, die allerdings nicht von ihren Fähigkeiten wissen. Daher haben wir für einen Reset gesorgt und müssen nun abwarten, wer sich falsch verhält."
Es war fast schon zum bemitleidend zu sehen, nach wie viel Anerkennung manch einer bettelt. Dennoch schien diese Nachricht für Zufriedenheit bei dessen Empfänger zu sorgen.
„Ich habe bereits eine Vermutung, jedoch keine sicheren Erkenntnisse."
Grübelnd schritt der Anführer durch den Raum. Den Blick stets auf den Boden gerichtet. Die Geräusche, die seine Schritte erzeugten, waren nervenaufreibend. Das wusste er. Abrupt blieb er stehen.
Stille.
„Du bist sehr ruhig! Ungewöhnlich, oder?"
Er kam bedrohlich nahe. Seine blutunterlaufenen Augen durchbohrten sein Opfer.
Es war nicht einfach, wenn man plötzlich so etwas wie einen moralischen Kompass bekam. Normalerweise sah man die Katastrophe nicht, die man angerichtet hatte, doch nun. Immer wieder wurde ihnen gesagt, dass wenn sie eine Welt zerstören, sie sich nicht umdrehen sollen, denn dann würde man daran zerbrechen. Diese Angst in den Augen, noch nie war das Gefühl des Beschützens so stark gewesen. Stärker als der Hass, der sonst führte.
„Ich habe nichts zu ergänzen."
Eine Lüge.
Sie beide wussten es. Der hagere Mann kam näher, wobei seine Augen tot wurden. Jegliches Leben und die Menschlichkeit wich aus ihnen. War er denn überhaupt ein Mensch?
„Muss man dich daran erinnern, wo du herkommst!", fauchte er.
Bevor sein Gegenüber reagieren konnte, ergriff er dessen Kopf, während sich seine dünnen Finger beinahe in die Schläfen bohrten.
Ein entsetzlicher Schrei folgte der Berührung. Dieser Schmerz. Diese Erinnerungen. Unerträglich. Ein Alptraum, der sich in Endlosschleife wiederholte.
Nach dem sich der Griff löste, sank die Person zu Boden.
Keuchend.
Erschöpft.
Da war sie wieder. Diese Wut. Dieser Hass. Wie ein schwarzer Schleier verhüllten sie den Verstand.
Ein gehässiges Lächeln signalisierte Freude. Der Anführer freute sich über den gebrochenen Geist.
Eiskalte, beinahe weißen, Augen starrten ihn von unten an.
„Jetzt kannst du hoffentlich wieder klar denken. Valentin, berichte!"
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