Twenty Two ~ Grief
Kay lief weiterhin in genau eine Richtung. Genau eine Straße und mittlerweile hatte ich kapiert, dass er zu sich nach Hause lief.
Ich sah um mich. Auf der anderen Seite der Straße lag der Strand. Wellen hatte es fast keine und viele Jugendliche genossen dort ihren Abend.
Als ich realisierte, dass ich Kay verlor, machte ich etwas größere Schritte und fasste somit wieder Anschluss mit seinen schnellen Schritten.
Er war ganz ruhig. Es schien mir so, als würde er an jeder Ecke einen Teil seiner Kindheit zu sehen bekommen.
"Denkst du, es wohnen schon andere im Haus?", wagte ich es dann zu fragen, als Kay doch auf einmal etwas langsamer wurde.
"Nur, wenn sie es vertuscht haben, dass dort eine ganze Familie erschossen wurde."
Am Ende dieses Satzes angekommen, hielt auch Kay an. Er stand dort und starrte gerade aus.
Ich folgte seinem Blick und erblickte ein riesiges, luxuriöses Haus, welches aber leer und unbewohnt war.
"Ist das dein-" Kay nickte beiläufig, als er ohne mit den Wimpern zu zucken, das Gartentor aufmachte, als hätte er das jahrelang gemacht.
Na ja. Das hatte er wahrscheinlich auch.
Er musterte die Blumen, welche immer noch blühten. Ob es die selben waren wie vor 5 Jahren bezweifelte ich, aber jemand kümmerte sich definitiv um den jetzigen Garten.
Mein Freund wollte die Haustüre öffnen, als sie aber geschlossen war.
Zuerst seufzte er genervt aus, als er mich aber auf einmal hinters Haus zog.
Anfangs fixierte er bloß das oberste Fenster stoppte aber abrupt in seinen Schritten, als er sich vor zwei Kreuzen befand.
Ich schluckte und wollte mich zurückziehen. Selbst mir wollten die Tränen kommen, also konnte ich mir nicht einmal vorstellen, wie Kay sich gerade fühlte.
Aus meinem Rückzug wurde aber nichts, als Kay meine Hand packte und mich zu sich zog.
Er verlor keine Tränen. Es war mehr, als würde er keine mehr zur Verfügung haben.
Dieser junge Mann hatte schon so viele vergossen. Er wollte selbst wahrscheinlich keine mehr verlieren.
Ich stand neben ihm und schaute ebenfalls auf die zwei Kreuzer, welche vor der hinteren Glastür platziert waren.
Meine Augen schlossen sich für einen kurzen Moment, aber hastig riss ich sie wieder auf, als ich mir die Szenarien, welche Kay mir erzählt hatte, bildlich vorstellte.
Genau an dieser Stelle waren seine Eltern gestorben. Meine Augen folgten der Fassade hoch zum obersten Fenster.
Kays damaliges Zimmer. Genau aus diesem Fenster hatte er zusehen müssen, wie Lorenz seine Eltern ermordet hatte.
Im Augenwinkel sah ich, wie Kay unregelmäßig atmete und ich gab leichten Druck auf seine Hand.
"Es ist okay." Ich schlang meinen freien Arm um seinen Körper und kuschelte mich leicht an ihn.
"Ich weiß", kam es luftig von ihm und ohne meine Hand loszulassen, lief er geradewegs auf die Fassade zu.
Ich konnte meinen Blick aber nicht von den Kreuzen abwenden und brach mir fast meinen Hals.
Erst, als Kay meine Hand losließ und mit Anlauf die Fassade hochsprang, drehte ich mich wieder zu ihm.
Mit bloßer Kraft zog er sich hoch und schob oben sein Fenster auf. Ich wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis er mir unten aufmachen würde und darum drehte ich mich um und blickte zum Strand.
Hier war es eigentlich so schön und friedlich. Ich konnte gar nicht glauben, was sich in diesem Garten abgespielt hatte.
Zu meiner Überraschung relativ schnell ging die Hintertür auf und Kay sah mich abwartend an.
Ich joggte zu ihm ins Haus und ließ mich von ihm führen. Erstmals fühlte ich mich komplett gelähmt.
Dieses Haus war wunderschön. Wie gerne ich es gesehen hätte, als es noch nicht voller Spinnennetze und Vogelnester war.
Die Decke war etwas höher als bei normalen Häusern. Die Fenster waren riesig und die Möbel, die noch hier standen, schienen viele Goldakzente gehabt zu haben.
Aber mit der Zeit war wohl alles verblasst.
Alles, außer die Erinnerungen und Geschehnisse.
"Hier war das Wohnzimmer. In dieser Ecke hatte Toby seine Krippe gehabt."
Kay hielt wieder meine Hand und zeigte mit der anderen an eine Ecke. Gleich nebenan ging eine Treppe hoch. An dieser gingen wir aber vorbei.
"Das war die Küche, was man ziemlich gut erkennen kann und dieser Raum hier, war das Büro meines Vaters. Er war ein stinknormaler Geschäftsleiter. Ich frage mich heute noch, was Lorenz dazu veranlasst hat meine Familie zu töten. Ich denke immer wieder darüber nach, dass mein Vater vielleicht in einem dreckigen Geschäft verwickelt hätte sein können, aber das würde keinen Sinn ergeben."
Ich blieb still und ließ Kay erzählen. Ihm war gut anzusehen, dass es ihm guttat über seine Familie zu erzählen.
Er tat es sonst nämlich nie. Es war ein Tabu-Thema, was ich auch immer akzeptiert hatte.
Mit großen Schritten folgte ich ihm die Treppen hoch und oben waren nur noch drei Türen.
"Das hier war Tobys Zimmer." Wir betraten das kleine, aber süße Zimmer und ich schluckte meine Tränen herunter.
Eine kleine Krippe stand in der Ecke und nebenan war ein niedlicher Schrank mit kleinen blauen Elefanten drauf zu sehen.
Ich wollte alles etwas näher betrachten, stolperte aber über etwas. Verwirrt schaute ich zu Boden und erblickte ein Babyfone.
Kay hob es auf und stellte es auf das kleine Nachttischchen. "Und das habe ich wohl zu Boden gerissen, als ich Toby holen war, um zu flüchten."
Es fielen keine weiteren Worte und leise gingen wir in das gegenüberliegende Zimmer. "Und das war mein Zimmer."
Der Schrank war offen und ein Kleiderbügel lag am Boden. Dies schien Kay an etwas zu erinnern, denn er wandte sich schnell wieder davon ab.
Ohne zu zögern, drehte er sich zu seinem alten Bett und was uns darauf ins Sichtfeld fiel, schockierte uns beide.
Es war ein Korb.
Am Rand des Korbes hingen Kays und Tobys Namen. Drinnen lagen Rosen, kleine weiße Engel und Kerzen.
Mein Freund schluckte, als er in den Korb hineingriff und Briefe herausnahm.
Ich konnte es nicht mehr zurückhalten und Tränen flossen meine Wangen herunter.
Als Kay einen Brief öffnete, fielen Bilder heraus und ich musste mich etwas abwenden, da mich das extrem aufwühlte.
Kays Freunde haben ihm Briefe geschrieben. Ihm und auch Toby. Sie haben Bilder dazugelegt und gefleht, dass es ihnen gutgeht.
Auch wenn mir das etwas zu viel wurde, riss ich mich am Riemen und stellte mich neben meinen Freund, denn diesem ging es gerade viel schlechter, als mir.
Er las die Worte seiner Freunde. Er las, wie sie beteten, dass er noch lebte. Er las, wie sie ihn vermissten und um ihn und seinen Bruder trauerten.
Er ließ sich von Schuldgefühlen niederreißen und schlussendlich tropften doch mehrere Tränen auf die Briefe, die er schweigend las.
"Ich hätte mich melden sollen", flüsterte der Karamellschopf und rieb sich die Tränen von seinen Wangen.
"Sie haben getrauert. Sie denken, ich bin tot." Schluchzend schlang ich meine Arme um Kay und kuschelte mich wieder an ihn.
"Du hattest andere Sorgen. Du musst dir jetzt nicht die Schuld geben." Kay antwortete mir nicht. Er nahm bloß weitere Bilder hervor und schniefte einmal.
Auch ich musterte die Bilder und erkennen tat ich einen jungen Kay, der mit seinen Freunden unten am Strand war.
Alle lachten, alle waren zufrieden. Keiner hatte daran gedacht, wie gemein das Leben sein konnte.
Nicht einmal Kay, der sich von einem Kumpel packen ließ und ehrlich lachte.
Es blieb weiterhin still, bis Kay entschlossen die Bilder einpackte und in seiner Hosentasche verstaute.
"Lass gehen." Ich konnte ihm ansehen, dass er seine Gefühle langsam gar nicht mehr unter Kontrolle hatte und genau deswegen gehen wollte.
"Lass an den Strand gehen", meinte er und zog mich hinter sich her.
Die Türe war von innen einfach zu öffnen. Jedenfalls für Kay. Ich hatte keine Ahnung, wie er das anstellte, aber er konnte die Tür ganz locker aufknacken.
Gemeinsam gingen wir über die Straße, um dann vor dem Sand zu stoppen.
Ich schielte zu Kay hoch und hatte Angst den falschen Knopf zu tätigen. Ich wollte ihn nicht noch mehr aufwühlen.
Genau darum ging ich vor und ließ ihm Zeit mit seinen Gefühlen umzugehen.
Mit seinem Verlust und seinem Schmerz.
Keine Ahnung warum, aber ich habe geheult, als ich dieses Kapitel geschrieben habe.
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