Weiß wie Lotus II
Apio wartete, bis er sicher war, dass Hua Li nicht zurückkehren würde, ehe er die Decke zurückschlug und aufstehen wollte. Doch er stockte.
Zum ersten Mal sah er die Spuren der Verletzungen, die der Sturz hinterlassen hatte. Unzählige Blutergüsse übersäten seinen Körper und ein Verband, der bereits leicht rötlich gefärbt war, umwickelte seine Brust.
Seine Robe hatte man – Apio wollte gar nicht wissen, wer dafür verantwortlich war – entkleidet und außer einer dünnen weißen Stoffhose trug er nichts mehr. Er fröstelte und kroch zurück unter die Decke. Sein Blick wanderte auf der Suche nach seiner Kleidung durch das Zimmer, konnte sie jedoch nirgends entdecken.
Keine Chance, dass er so versuchte zu fliehen. Wer würde ihn schon aufnehmen, wenn er halbnackt vor der Tür auftauchte und etwas davon faselte, dass ein Dämon ihn entführt hatte? Jeder würde ihn sofort von dem Grundstück jagen oder gar Schlimmeres ... ihn auf der Stelle umbringen.
Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Was sollte er nur tun? Riskieren oder nicht riskieren, war die Frage und die Antwort hatte er schnell gefunden: Hier wollte er auf keinen Fall bleiben.
Er kroch unter der Decke hervor, schob die Beine von der Matratze und stellte sich auf den Boden. Das Holz kühlte seine Fußsohlen und ließ ihn kurz erschauern. Doch, ehe er sich erheben konnte, schoss Schmerz durch seinen Oberkörper und er sackte zusammen.
Der Sturz von dem Berg zeigte deutliche Spuren, aber er versuchte ein zweites Mal, sich zu erheben. Spannung legte sich auf die kaum zusammengewachsenen Wunden und drohte, sie aufzureißen und jede bisherige Heilung zunichte zu machen.
Mit einer Hand griff er nach dem Bettpfosten und zog sich auf die Füße. Doch seine Beine konnten das Gewicht nicht halten. Die Knie knickten ein. Ihm entfuhr ein leiser Schrei. Seine Hände suchten Halt, fanden ihn aber nicht und Apio stürzte.
Er schlug mit den Knien zuerst auf, versuchte sich mit den Armen zu halten, doch auch diese gaben nach, und sein Kopf donnerte gegen den Boden.
Ein tonloses Wimmern verließ seinen Mund und er blieb liegen. Sollte man ihn doch so finden und erfahren, dass er einen Fluchtversuch unternommen hatte. Sollte man doch sehen, dass er in seinem Zustand nicht entkommen konnte.
Das dachte er zumindest so lange, bis ein leises Knarren aus Richtung der Tür ertönte und sich Schritte näherten.
Apio betete nur, dass es nicht Hua Li war. Er zog sich an dem Pfeiler des Bettes hoch und stützte den Oberkörper auf die Matratze, um den Ankömmling zu sehen. Und zu seiner Überraschung hatte sich das Schicksal entschieden, einmal auf seiner Seite zu sein. Nicht Hua Li war eingetreten, sondern Xiong Mao.
Der Junge kam zu ihm gehastet. „Geht es Euch gut?", fragte er. Er legte einen Arm um Apio und half ihm zurück auf das Bett.
„Ja", brummte Apio und legte sich wieder unter die Decke. So fror er zumindest nicht mehr. „Ich muss wohl aus dem Bett gefallen sein", flüsterte er. Eine schlechtere Erklärung hätte ihm nicht einfallen können und er hoffte nur, dass Xiong Mao genauso naiv war, wie er aussah.
„Soll ich dann hier bleiben, falls das nochmal passiert?", fragte der Junge und setzte sich zu ihm. „Ihr solltet Euch nicht noch einmal so verletzen."
Apio schüttelte vehement mit dem Kopf. „Nein, nein, bloß nicht", rief er. Schmerz zuckte durch seinen Nacken. Er hielt in der Bewegung inne und sackte mit einem leisen „Aua" in sich zusammen.
„Oje." Xiong Mao tätschelte ihm den Kopf, wie man es bei einem Kind tun würde. „Soll ich nach den Heilern schicken?"
„Nein", murmelte Apio in das Kissen. Hier würde ihm nur jeder die Kehle aufschlitzen wollen. Selbst Hua Li hatte ihn nur gerettet, weil er auf Hilfe hoffte.
„Aber seht doch", sagte Xiong Mao und deutete auf Apios Oberkörper und den Verband, der sich langsam rötlich färbte. „Ich glaube, die Wunde ist wieder aufgerissen."
Apio hob den Kopf und blickte an sich herab. Aber weder Panik noch Furcht griff nach seinem Herzen. Nur leichte Übelkeit stieg bei dem Anblick des Blutes in ihm auf.
„Oder ich sage Hua-jun Bescheid, dass er sich um Euch kümmern soll", überlegte Xiong Mao weiter. „Die Grundlagen der Heilung beherrscht er auch."
Apios Kopf schoss nach oben. „Nein", sagte er. „Auf keinen Fall." Noch eine Begegnung mit Hua Li vertrug er heute nicht. Da nahm er lieber in Kauf, dass er verblutete oder von den anderen Dämonen zerrissen wurde.
„Aber es muss doch versorgt werden", sagte Xiong Mao. Ein trotziger Klang hatte sich unter die Stimme gelegt und ließ ihn wie ein Kind wirken, das sich ein Spielzeug gewünscht, es aber nicht bekommen hatte und deshalb sämtlichen Puppen der anderen Kinder die Köpfe abriss.
„Du kannst es doch übernehmen", schlug Apio vor. Eher eine instinktive Reaktion als eine durchdachte Antwort und einen Augenblick später schalt er sich innerlich für diesen Vorschlag.
Xiong Mao sah ihn mit geweiteten Augen an. „I-ich?", fragte er. „Aber ich besitze doch keine Kenntnisse in diesem Bereich."
„Dann gib mir Verbandszeug und ich übernehme es selbst."
Doch auch davon war der Junge wenig überzeugt. „Seid Ihr sicher?", fragte er. „Für Euch ist es doch bestimmt schwierig, es allein zu übernehmen. Außerdem seid Ihr doch ein Gast. Dann ... dann mache ich es lieber." Den letzten Satz sprach er mit mehr Entschlossenheit, als Apio ihm jemals zugetraut hätte.
„Ich muss nur kurz Verbandszeug holen", sagte Xiong Mao. Er stand auf und verließ den Raum.
Apio seufzte und lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes. Ihm wäre es lieber gewesen, hätte man es ihn allein machen lassen. Wie schwer konnte es schon sein? Er hätte doch einfach nur einen Verband wechseln müssen.
Irgendwann, vor vielen vielen Jahren, hatte er schließlich mal einen Erste-Hilfe-Kurs besucht. Alles davon konnte er doch gar nicht vergessen haben.
Und zugleich wusste er: Doch, er hatte alles vergessen. Vermutlich könnte er nicht einmal mehr vernünftig eine Herz-Druck-Massage anwenden.
Die Tür öffnete sich wieder und Xiong Mao kehrte zurück. In den Händen hielt er ein kleines Köfferchen, das er sogleich auf dem Bett ablegte, und setzte sich zu ihm.
„Darf ich ...?", begann er und streckte die Hand nach der Decke aus, die Apio vor seinem Oberkörper hielt, damit sie ihn wärmte.
Apio machte „Hmpf" und ließ die Decke sinken. Ein kalter Luftzug blies durch den Raum und augenblicklich stellten sich die Haare an seinem Körper auf. Der Verband war mittlerweile mit Blut getränkt und eigentlich wollte er gar nicht wissen, wie die Verletzung darunter aussah. Schon jetzt wurde ihm wieder übel und er wandte den Blick ab und sah zu Xiong Mao.
Der Junge schluckte, öffnete das Köfferchen und holte eine Schere und frischen Verband hervor. Seine Ohren liefen rot an und diese Röte breitete sich einige Wimpernschläge später auch auf seinen Wangen aus.
Apio hielt ein Augenrollen zurück. Jetzt war es diesem Kind auch noch unangenehm, in seiner Nähe zu sein. Wohin sollte das nur führen?
Xiong Maos Hände zitterten und Apio befürchtete, die Schere könnte ihm jeden Augenblick aus den Fingern gleiten und bei seinem Glück würde sie ihn dabei schwerer verletzen als der Sturz. Es würde nur zu gut zu den Todesarten seiner Figur passen.
„Lass mich das vielleicht doch lieber machen", sagte Apio. Er lehnte sich vor und versuchte dem Jungen die Schere aus den Händen zu reißen, aber Xiong Mao sprang auf die Füße und wich ihm aus.
„Ich schaffe das schon", sagte er.
Aber ich will keine Klinge im Bauch stecken haben. Apio knirschte mit den Zähnen, bereute die Entscheidung aber sofort, denn ein Stechen zog ihm durch den Kiefer.
Und auch dem Jungen war es nicht entgangen. „Das klang, als hätte es weh getan", kommentierte er.
„Hat es nicht", brummte Apio und schnaubte. Diese ganze Situation zehrte an seinen Nerven. Wenn er nicht Acht gab, dann würde er noch aus seiner Rolle fallen.
Seine Mundwinkel zuckten kurz. Das System war doch nicht länger da, um ihn zu kontrollieren und zurecht zu weisen. Dann könnte er doch auch ein bisschen out of character sein. Sich hier und da nicht ganz so katzbucklig aufführen, die ein oder andere ausfallende Äußerung tätigen. Wer wollte ihn schon hindern?
Xiong Mao setzte sich wieder zu ihm und riss ihn damit aus den Gedanken. Instinktiv wich Apio zurück.
„Darf ich mich dann jetzt um Eure Verletzung kümmern", fragte der Junge. „Oder soll ich doch lieber dem jungen Herrn Bescheid geben?"
„Dem jungen Herrn", hakte Apio nach. „Meinst du Hua –"
Xiong Mao wedelte panisch mit den Händen, um ihn zu hindern den Namen auszusprechen, doch das „– Li?" rutschte Apio trotzdem über die Lippen.
Die Tür wurde so schwungvoll aufgestoßen, dass sie mit dem Knauf gegen die Wand stieß.
Apio zuckte zusammen, Xiong Mao sprang auf die Beine.
„Wer hat mich gerufen?", fragte die Gestalt in Rot und trat ein. Hua Li richtete seinen Blick erst auf Apio, der halbentkleidet nun die Decke hochzog und sich darunter versteckte, und dann auf Xiong Mao, dessen Wangen nur noch weiter erröteten.
„Niemand", sagte der Junge schnell. „Nur ein Versehen, nichts Weltbewegendes."
„So?" Hua Li verschränkte die Arme vor der Brust, ehe er ein weiteres Mal zwischen den beiden hin und her blickte. „Nichts Weltbewegendes?", wiederholte er.
Die Stimme ließ Apio das Blut in den Adern gefrieren und er zog die Decke bis zum Kinn hoch. Die Art wie der Dämon ihn betrachtete, konnte er nicht anders als raubtierhaft beschreiben. Blutgier mit einem Fünkchen Faszination, ähnlich einer Schlange, die eine Maus musterte, beobachtete, welche Fluchtwege die Beute suchte und letztlich die Realisation in den Knopfaugen sah, wenn sie erkannte, dass ihr Tod unausweichlich war.
Apio sank noch weiter in sich zusammen und Hua Li unterbrach den Blickkontakt, um zu dem Jungen zu schauen.
„Was ist hier los?", fragte er.
„Nichts", sagte Xiong Mao. „Nichts –"
„Nichts Weltbewegendes?" unterbrach sein Gegenüber ihn.
Der Junge nickte, aber Hua Li ließ sich nicht beirren. Mit einer Kopfbewegung schickte er ihn vor die Tür.
Xiong Mao ließ die Schere, die er bis jetzt in den Händen gehalten hatte, in den Koffer fallen, machte eine eilige Verbeugung in Apios und dann in Hua Lis Richtung, ehe er aus dem Raum hastete.
Wie es schien, mochte niemand länger als notwendig in der Anwesenheit des Dämons bleiben. Nicht einmal andere Dämonen.
Die Tür fiel hinter Xiong Mao ins Schloss und Apio war mit Hua Li allein.
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