Herz aus Gold II
Ein Raunen ging durch die Menge. Die Männer brummten, die Frauen sogen erschrocken Luft ein und Apio stand in der Mitte, blickte sich um und fragte sich, weswegen er eine solche Behandlung verdient hatte.
„Liu Shijia, also", ergriff Hai Tun das Wort. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das Apio gern als freundlich eingeschätzt hätte, doch die Augen des obersten Kultivators verdunkelten sich, sodass er wusste: Seinen Namen hätte er niemals verraten sollen.
„Und ich bringe Kunde aus Bai Tian", wiederholte Apio und versuchte die Aufmerksamkeit auf das eigentliche Thema zu lenken. „Es gab einen Angriff, bei dem die Sekte ausgelöscht wurde. Meines Wissens bin ich der Einzige, der überlebte."
„Du?" Der Spott in diesem einen Wort ließ Apio zusammenzucken.
„Ja", sagte er schnell. „Und es ist sehr dringlich, dass der Angreifer – oder mehrere, ich weiß es nicht; ich sah nur einen – aufgehalten werden. Er kam mir in keiner Weise bekannt vor, aber er ist stark. Nicht einmal unsere besten Kämpfer kamen gegen ihn an."
„Sicherlich nur Dämonen", sagte Hai Tun und wischte Apios Worte mit einer Handbewegung fort. „Kein Wunder, dass sie Bai Tian Schwierigkeiten bereitet haben. Deine Sekte schnitt schließlich stets erbärmlich bei Nachtjagden und jeder Art von Wettbewerben ab. Shulang hat noch nie irgendetwas Gutes hervorgebracht."
Apio biss die Zähne zusammen. So hatte er den obersten Kultivator nicht in Erinnerung. Was war nur aus der Vernunft und dem Empfinden für Gerechtigkeit geworden?"
„Zhangmen", ergriff er von neuem das Wort. „Es waren keine Dämonen."
„Sicher, sicher." Hai Tun schnaubte belustigt und wedelte mit der Hand. „Auf dein Wort werde ich mich gewiss nicht verlassen, Liu Shijia."
„Ich spreche die Wahrheit", sagte Apio. Leise Schärfe schlich sich in seinen Ton und sorgte für ein erneutes Raunen. Er öffnete den Mund, wollte noch etwas ergänzen, aber Hai Tun brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
„Du scheinst mir ungehalten", sagte er. „Vielleicht wäre es besser, wenn du dich für heute ausruhst und morgen, wenn du deinen Ton zügeln kannst, erneut mit mir sprichst."
Apio trat einen Schritt auf ihn zu. „Zhangmen, ich –" Hai Tun hob eine Hand und er brach ab.
„Da du dir die Mühe gemacht hast, hier aufzutauchen, werde ich dir die Großzügigkeit erweisen und dich an meinen Gedanken teilhaben lassen." Hai Tuns Mundwinkel zuckten. „Es gibt einen Grund, weshalb ich es ablehne, mit dir zu sprechen, Liu Shijia. Ich denke, dass du lügst."
Apio schluckte. Das konnte nicht gut ausgehen.
„Sieh dich nur mal an. Du wirkst nicht, als wärst du soeben dem Tode entronnen. Entweder Bai Tian wurde also gar nicht angegriffen und du denkst dir diese Geschichte nur aus – welche Gründe auch immer du dafür haben solltest. Oder aber du sprichst die Wahrheit und die Sekte wurde ausgelöscht. Da frage ich mich aber, weshalb gerade du überlebt hast. Du, von allen."
Er stieß ein höhnisches Lachen aus. „Du kannst nicht kämpfen, bist der mieseste Kultivator, den ich je gesehen habe. Aber da du hier vor uns stehst und das auch noch in einer Robe, die nicht deiner oder irgendeiner Sekte angehört, sondern – lass mich spekulieren – einem Dämon?"
Apio schluckte, stand stocksteif da und machte auch keine Anstalten, die Frage zu beantworten.
Doch Hai Tun war dies Antwort genug. „Dachte ich es mir doch. Meine Vermutung: Du hast dich zuvor mit den Dämonen zusammengeschlossen, damit sie dich verschonen. Vielleicht hast du sie sogar eingelassen und den Angriff erst angezettelt. Das hat der arme Shulang nun davon, dich trotz deiner ehemaligen Verbindungen zu den Dämonen aufgenommen zu haben. Du bist und bleibst eine Schlange, Liu Shijia."
Apio presste die Lippen zusammen und schwieg. Er hatte sich nie mit der Vergangenheit seiner Figur auseinandergesetzt. Es war nie notwendig gewesen, doch Hai Tun nun reden zu hören, erweckte in ihm den Wunsch, nachzuforschen.
Doch hier würde er nicht weiterkommen. Der oberste Kultivator hörte ihm nicht zu, wollte ihm gar nicht zuhören.
Einige Sekunden herrschte Schweigen, ehe Apio langsam die Hände vor sich zusammenführte und sich verbeugte.
„Vielen Dank, dass Ihr mich angehört habt und verzeiht mir die Störung", sagte er, richtete sich auf und drehte sich auf dem Absatz um. Ehe er aber einen Schritt in Richtung des Ausganges gehen konnte, flog die Tür auf. Roter Stoff flatterte durch sein Sichtfeld und bevor er ganz realisieren konnte, wer eingetreten war, hatte dieser Jemand schon einen Arm auf seine Schulter gelegt und schob ihn zurück in den Raum.
Ein entsetztes Keuchen ging durch die Menge, als der Neuankömmling ins Licht trat. Hai Tun sprang auf die Füße. Eine tiefe Furche war zwischen seinen Brauen entstanden. „Hua Li." Den Namen spuckte er dem Dämon fast entgegen.
Apio atmete erleichtert auf. Der oberste Kultivator sprach also nicht nur seinen Namen mit derart viel Verachtung aus.
„Hai Tun", sagte Hua Li zur Begrüßung. Ein weiteres Mal sogen die Kultivatoren scharf Luft ein und Hai Tun schob seine Brauen noch dichter zusammen.
„Was habt Ihr hier zu schaffen?", rief er dem Dämon zu. „Wer hat Euch überhaupt eingelassen?"
„Mich muss niemand hineinbitten, damit ich eintreten kann", antwortete Hua Li und seine Mundwinkel kräuselten sich zu einem fuchsähnlichen Lächeln. Er drückte Apio an sich heran und dieser, der die Situation noch nicht gänzlich verarbeitet hatte, ließ es zu. Die Hand strich an seiner Schulter entlang und für einen kurzen Augenblick fiel die Anspannung von ihm ab. Er wollte nur kurz die Augen schließen, vergessen was Hai Tun ihm an den Kopf geworfen hatte. Doch er konnte nicht ausblenden, wo er war, wer ihm zusah und in wessen Armen er sich befand. Und so versteifte er sich unter der Berührung und wich von Hua Li zurück, doch der Dämon hielt ihn fest, sodass er nicht viel Platz zwischen die beiden Körper bringen konnte.
„Um was spielt Ihr?", fragte Hua Li und deutete auf das Go-Brett, das vor dem obersten Kultivator stand.
Hai Tun ließ sich zurück auf seinen Platz fallen. „Um Frauen", sagte er und legte einen Arm um die Brünette, die ihm zuvor eine Weintraube in den Mund geschoben hatte. „Aber nennt mir gern, was Ihr als Einsatz von mir wünscht und wir spielen drum."
Hua Lis Mundwinkel zuckten. „Ich will einen Platz an Eurer Tafel", sagte er und deutete auf einen der leeren Sitze. „Dort zum Beispiel würde ich doch blendend aussehen. Dann will ich ein Zimmer für die Nacht. Und drittens – denn drei war schon immer meine Lieblingszahl –" Er machte eine Pause, ließ seinen Blick zu jedem einzelnen Kultivator schweifen, bis er letztlich auf Apio deutete und sagte: „Ich will ihn."
Apio erstarrte. Er sah zu Hua Li auf, fragte ihn mit seinem Blick: Was zur Hölle denkst du dir dabei? Aber der Dämon beachtete sein stummes Flehen nicht.
Kurz herrschte Stille im Raum, dann brach Hai Tun in schallendes Gelächter aus. „Sicher, sicher", sagte er und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das lässt sich arrangieren. Setzt Euch doch. Und du, Liu-Shixiong, setze du dich doch auch." Er deutete vor sich auf die beiden Plätze am Go-Brett.
Apios Nackenhaare stellten sich auf. Einen Moment zuvor hatte der oberste Kultivator ihn noch mit Verachtung angesprochen und nun nannte er ihn einen Bruder. Er witterte nichts Gutes, doch, ehe er sich Gedanken machen konnte, zog Hua Li ihn schon mit sich zu Hai Tun.
„Und wenn ich gewinne", sagte der oberste Kultivator. „Dann verschwindet Ihr aus meinem Reich und kehrt nicht noch einmal zurück, aber er –" Er deutete auf Apio. „– bleibt hier."
Apio sank in sich zusammen. Hua Li setzte sich gegenüber dem Gastgeber. Widerwillig ließ er die Hand von Apios Schulter sinken, sodass dieser sich an eine der beiden unbesetzten Seiten bewegen konnte. Er sah von Hua Li zu Hai Tun und zurück zu Hua Li.
Und er saß in der Mitte. Als Spieleinsatz. Für wen sollte er nur sein?
Den Dämon, der ihm von Anfang an schon suspekt war, der in den seltsamsten Situationen auftauchte und von dem er nicht wusste, ob er ihm überhaupt trauen konnte.
Oder der oberste Kultivator, der ihm sämtliche Hilfe verwehrte und ihn am liebsten tot sehen wollte.
Die Wahl zwischen zwei Übeln.
Yay.
Die Brünette an Hai Tuns Seite setzte sich zu Apio. „Keine Sorge, Hai-Zhangmen ist sehr zärtlich", flüsterte sie ihm ins Ohr. „Bei ihm ..." Sie deutete auf Hua Li. „... wäre ich mir nicht so sicher. Er sieht aus, als würde er es wild mögen."
Hitze schoss Apio in die Wangen. „Wie?", fragte er.
Die Brünette zuckte mit den Schultern. „Schau ihn dir doch nur mal an." Sie legte das Kinn auf seine Schulter, beim Sprechen streiften ihre Lippen sein Ohr. „Wie er seine Robe träg. So viele Knöpfe geöffnet, dass ich mir nicht vorstellen kann, er würde nicht angestarrt werden wollen. Dann sein Auftreten, so selbstsicher, als würde die ganze Welt ihm gehören. So ungesittet. Ich denke nicht, dass er überhaupt weiß, wie man sich zivilisiert verhält. Wie er Hai-Zhangmen die Stirn geboten hat. Wirklich ein faszinierender Mann."
Apio konnte nicht anders, als zu Hua Li zu blicken. War die Robe wirklich so weit geöffnet? Vielleicht ein oder zwei Knöpfe – Konnte man es schon unsittlich nennen?
Den Blick hatte er zwar auf Hai Tun gerichtet, aber Apio konnte sich nicht vorstellen, dass er nicht hörte, was die Brünette sprach. Sie saßen schließlich am selben Tisch.
Hua Lis Lächeln wurde eine Spur breiter und damit wusste Apio sicher: Der Dämon hörte alles mit an.
„Liu-Shixiong", riss Hai Tun ihn aus seinen Gedanken. „Da du der Spieleinsatz bist, darfst du entscheiden, wer beginnt."
Apio schluckte. Die Brünette legte ihre Arme um seinen Hals und flüsterte ihm ins Ohr: „An dir liegt es, Shixiong. Wen möchtest du lieber haben?"
Apio wedelte mit seinen Händen und schob sie von sich. „Niemanden", sagte er. „Meine Güte." Er räusperte sich, faltete die Hände in seinem Schoß zusammen und legte wieder eine ernste Miene auf.
„Hua Li ist der Gast", sagte er. „Er sollte anfangen dürfen."
Hua Lis Mundwinkel zuckten. Die Brünette rückte wieder an Apio heran, sprach: „Wild magst du es also. Hätte ich auf den ersten Blick nicht von dir erwartet."
Apio holte tief Luft. Er verschränkte seine Arme vor der Brust, biss die Zähne zusammen und ertrug stumm.
„Sehr höflich von dir, Liu-Shixiong", sagte Hai Tun und schob dem Dämon die Schüssel mit den schwarzen Steinen zu. „Ihr dürft anfangen."
Hua Li setzte den ersten Stein auf das Feld.
„Oh und seine Hände", raunte die Brünette Apio ins Ohr. „Was er damit wohl alles anstellen kann? Ich denke, du hast die richtige Wahl getroffen. Hai Tun hätte sich sicherlich gut um dich gekümmert, aber Hua Li ..." Sie beendete den Satz nicht und summte nur wohlig in sein Ohr.
Apio hob den Blick von seinen Händen und ließ ihn zu Hua Li schweifen. Aber er schüttelte den Kopf, bevor die Bilder, die die Frau ihm einflüsterte, in seinen Gedanken Gestalt bekamen, und richtete seine Aufmerksamkeit lieber auf das Spielbrett.
Er hatte nie gelernt, wie ein Go-Spiel ablief. Er sah nur schwarze und weiße Steine, die nach und nach das Spielfeld füllten, während die Konkubine ihm weiterhin Dinge ins Ohr flüsterte, die er am liebsten nie gehört hätte. Von schlaflosen Nächten, die Hua Li ihm bereiten würde. Von dessen Vorlieben, dessen Wünschen, sogar, von der Art, wie er saß.
Nicht im Schneidersitz wie jeder andere Anwesende. Ein Bein war angezogen und darauf hatte er den Ellenbogen gestützt. Ab und an neigte er den Kopf in die eine, dann in die andere Richtung, überlegte, welchen Zug er als nächstes machte.
Ehe Apio sich versah, endete das Spiel schon, aus Gründen, die er nicht verstand. Als alle anderen gespannt die Luft anhielten und warteten, bis die Punkte ausgezählt wurden, konnte er nur stumm auf die Szenerie schauen.
Beide Optionen waren gleich schlecht und die Worte der Konkubine ließen ihn zweifeln, ob er Hua Li den ersten Zug hätte geben sollen.
Hai Tun ergriff das Wort. „Ein gutes Spiel", sagte er. „Und Ihr habt den Sieg verdient. Nehmt Euren Preis und nehmt an meiner Tafel Platz."
Bei der Bezeichnung ‚Preis' zog sich alles in Apio zusammen, aber er brachte seinen Unmut nicht zur Geltung.
„Viel Spaß", meinte die Brünette noch, ehe sie ihn losließ und sich in Hai Tuns Arme begab.
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