Herz aus Gold I
Der Karren kam zum Stehen. Apio erwachte, aber er legte nur einen Arm über seinen Kopf, wollte nicht mit irgendetwas behelligt werden.
„Darf ich mitreisen?", hörte er eine Stimme und auf der Stelle war er hellwach. Er schlug die Augen auf und saß kerzengerade.
Die Gestalt hingegen, die nun neben ihm Platz nahm, behielt eine entspannte Haltung, schenkte ihm ein Lächeln und meinte: „Schön, dich wiederzusehen, Xiaoge."
„Hi", antwortete Apio und erwiderte das Lächeln eher aus einem Funken Überlebensinstinkt als aus Freude.
„Du warst auf einmal verschwunden", sagte Hua Li. Ein Bein zog er an, um seinen Ellenbogen darauf zu stützen. Das andere ließ er über den Rand der Kutsche baumeln.
„Ich ..." Wie sollte er nur erklären, dass er keinen Augenblick länger bei dem Dämon hatte bleiben wollen, ohne ihn zu erzürnen? „Ich musste weg", brachte er hervor.
„Aha", machte Hua Li nur und sah nach vorne. „Die Geister haben dich nicht zu sehr belästigt? Sie können von Zeit zu Zeit anstrengend sein. Besonders, wenn sie Feste veranstalten wollen."
„Es ging", murmelte Apio, schauerte aber bei der Erinnerung an die Skelettfrau.
„Das freut mich", sagte Hua Li und lächelte ihm zu.
Apio hingegen wandte seinen Blick ab und zog den Kopf ein. Die gute Laune des Dämons konnte doch nur ein schlechtes Omen sein.
„Dann bist du nach Shoudu unterwegs?", fragte Hua Li.
Apio nickte nur stumm.
„Zu dem obersten Kultivator?"
„Genau", sagte Apio.
„Hältst du das für eine gute Idee?", fragte Hua Li.
Apio zog seinen Kopf weiter ein, als wäre er eine Schildkröte, die sich in ihrem Panzer versteckte. „Es ist das Einzige, das mir übrig bleibt. Der Angriff auf Bai Tian muss gemeldet werden, damit Hai Tun Ermittlungen in die Wege leiten kann. Ich allein werde da nichts ausrichten können und Gerechtigkeit würde es nie geben."
Hai Tun war ein gerechter, anständiger Mann. Er wurde gemeinschaftlich als Anführer über alle Sekten gewählt, um ihre Interessen durchzusetzen. Und das tat er auch. Das Bündnis hatte schon viele Jahre für Frieden gesorgt und nur die Dämonen hatten sich ihm widersetzt und störten die Ruhe.
„Allein hast du aber doch schon viel erreicht", riss Hua Li ihn aus seinen Gedanken. „Immerhin bist du aus Jiaoji entkommen. Das kann nicht jeder von sich behaupten."
Apio streckte den Kopf wieder aus seinem Schildkrötenpanzer hinaus. „Das klang wie eine Drohung", sagte er.
„War es nicht", erwiderte Hua Li. „Nur eine Feststellung." Das Lächeln behielt er auf den Lippen und die Härchen an Apios Armen stellten sich trotz des warmen Sommertages auf.
Was für ein gruseliger Men-... Dämon.
In der Ferne erhoben sich Mauern, hoch wie Berge, aber darüber ragten die Türme des Palastes, in dem Hai Tun lebte. Das Gold der Dächer schimmerte im Sonnenlicht, die Marmorwände strahlten in hellstem Weiß.
„Ich schätze, ich muss dich jetzt allein lassen", sagte Hua Li und sprang von dem Karren. Er winkte Apio zum Abschied und rief dem Bauern ein „Vielen Dank" zu, ehe er sich abwandte und in die Richtung zurückging, aus der sie gekommen waren.
Apio sah ihm noch kurz hinterher, schüttelte dann aber den Kopf und wandte sich ab. Sicherlich hatte Hua Li nur zu tun. Er war schließlich das Oberhaupt über Jiaoji. Wie viel Freizeit konnte er da schon haben?
Apio sah in Richtung der Stadt. Oder konnte Hua Li vielleicht Shoudu gar nicht betreten? Ein Dämon inmitten von Kultivatoren. Ein Anblick, den niemand zu Gesicht bekommen wollte.
Der Bauer hielt vor den Toren an und ließ Apio absteigen. Apio bedankte sich und betrat die Stadt. Menschen wimmelten durch die Straßen. Einige verließen Shoudu, andere strömten hinein. Einige verschwanden in Gasthäuser, andere traten hinaus. Von weitem glichen sie Ameisen, winzig kleine Geschöpfe, die in Gemeinschaft lebten und einander halfen.
Apio folgte der Hauptstraße, die goldenen Dächer der Türme die ganze Zeit über im Blick, und fand schnell die Treppe, die zu dem Palast führte. Er seufzte leise und stieg sie hinauf.
Warum mussten es nur immer Treppen sein?
Erst in dieser Welt hatte er erkannt, wie sehr er Fahrstühle schätzte, obwohl er jedes Mal, wenn er in einen gestiegen war, immer die leise Angst hatte, stecken zu bleiben oder hinabzustürzen.
Er kam vor einem hohen Tor an, denn der Palast war ebenfalls mit einer Mauer versehen. Eine Mauer in Gold, in dem das Licht der Sonne gebrochen wurde und direkt in Apios Augen leuchtete.
In diesem hohen Tor war eine kleine Tür eingebaut. Apio legte seine Hand an die Klinke und drückte sie hinunter.
Verschlossen.
Er hob die Hand und klopfte gegen das weiß gefärbte Holz. Einige Augenblicke geschah nichts, dann ertönte ein Geräusch aus dem Inneren und ein kleines Fensterchen in der Tür wurde aufgeschoben. Dahinter kam ein Paar dunkler Augen zum Vorschein. „Wir nehmen keine Bettler auf", sagte eine raue Stimme.
„Ich bin kein Bettler", sagte Apio schnell, ehe der Wachmann das Fensterchen schließen konnte.
„Ihr seht aus wie einer", sagte er.
Apio sah an sich hinab. Der Staub, der ursprünglich auf dem Ochsenkarren gelegen hatte, klebte an seiner Robe. Er klopfte den Stoff aus und sagte: „Ich stamme aus Bai Tian und habe wichtige Dinge mit Hai-Zhangmen zu besprechen. Sehr wichtige Dinge, die keinen Aufschub dulden."
Die dunklen Augen musterten ihn argwöhnisch. „Der oberste Kultivator möchte nicht gestört werden. Ich schlage vor, dass Ihr über Nacht in der Stadt bleibt und morgen hierher zurückkehrt."
Das Fensterchen schloss sich schon wieder, aber Apios Hand schnellte hervor, wollte die einzige Hoffnung auf Zugang in den Palast offenhalten.
Aber die Reaktion des Wachmannes war zu langsam. Ehe er in der Bewegung innehalten konnte, waren Apios Finger bereits eingeklemmt.
Schmerz schoss durch seine Hand bis in den Ellenbogen und er zog sie zurück, sobald er konnte. Innerlich ohrfeigte er sich, weshalb er nur so impulsiv gehandelt hatte. Er bewegte die Finger, spürte, wie das Blut in ihnen pulsierte. Aber jeden von ihnen konnte er rühren. Kein Knochen war gebrochen.
„Die Kunde aus Bai Tian reichte noch nicht bis hierher", sagte Apio und sah dem erschütterten Wachmann in die Augen. „Es gab einen Angriff und ich muss mit Hai-Zhangmen über diese Angelegenheit sprechen. Wer auch immer es war, wird sich nicht zufrieden geben und vermutlich wird es bald weitere Schlachten geben. Dem muss Einhalt geboten werden."
Der Wachmann beäugte ihn erneut und meinte: „In Ordnung." Das Fenster schloss sich. Ein Rädchen ratterte, Schlösser klickten und die Tür öffnete sich.
„Zhangmen befindet sich in seinem Tempel", sagte der Wachmann und warf seinem Kollegen, der ebenfalls das Tor bewachte, einen Blick zu. „Du, begleite ihn."
Der Angesprochene nickte und setzte sich in Bewegung.
„Vielen Dank", sagte Apio und deutete eine Verbeugung an.
„Ich kann Euch allerdings nicht zusichern, dass Zhangmen in der Verfassung ist, Euren Worten Gehör zu schenken. Wie gesagt, er ist –" Er suchte nach einem passenden Wort. „– beschäftigt."
Beschäftigt, also. Soso. Apio zog es vor, sich keine Gedanken darüber zu machen, wie dieses ‚beschäftigt' aussah. Sicherlich konnte es gar nicht so schlimm sein, wie es sich anhörte und sicherlich malte er sich etwas ganz anderes aus, als es in Wahrheit war.
Der Wachmann führte ihn einen gepflasterten Weg entlang, an dem links und rechts Springbrunnen aus Marmor und Gold errichtet waren und Blumen in verschiedensten Farben sprossen. Sie gingen einige weitere Treppen hinauf, bis vor die geschlossenen Türen des Tempels. Von drinnen drangen schon Stimmen nach außen. Lautes Lachen und Grölen.
Apio schluckte. Nun konnte er nicht fliehen. Seine Knie zitterten und auch nachdem er einmal tief Luft holte, drohten seine Beine, einzuknicken.
Der Wachmann schob die Tür auf und linste hinein. Sofort brachen die Stimmen ab, doch Apio konnte noch keinen Blick auf das Innere werfen. Der Wachmann stand ihm im Weg.
„Zhangmen, verzeiht die Störung", sagte er. „Dieser junge Herr hat eine dringende Angelegenheit mit Euch zu besprechen." Er trat einen Schritt zur Seite, um einerseits den Anwesenden einen Blick auf Apio zu gewähren und andererseits Apio einen Blick auf das Innere.
Ihm schoss Blut und Hitze in die Wangen und seine Augen weiteten sich. An mehreren Tischen saßen Männer in verschiedenfarbigen Roben. Jede Farbe für eine andere Sekte und an jedem Kragen prunkte ein goldener Lotus, der die Zugehörigkeit zu dem Bündnis symbolisierte, das sie mit dem obersten Kultivator und untereinander geschlossen hatten.
Sie saßen links und rechts von der breiten Halle. Vor jedem stand ein Tisch mit Schüsseln und Tassen.
Doch das war es nicht, das Apio erröten ließ. Nein, es waren die Frauen, die die meisten Männer in ihren Armen hielten. Leicht bekleidete Frauen. Leichter bekleidet, als es in irgendeinem Rahmen angemessen war.
Gegenüber der Tür und leicht erhöht saß Hai Tun. Die Robe in Gold gefärbt und Blumen in weiß zogen sich durch den Stoff. Die dunklen Haare waren ordentlich in einem Zopf zusammengebunden, doch die Röte auf seiner Nase verriet, dass hier schon einiger Alkohol geflossen war. Das Kinn in die Hand gestützt, ließ er sich von einer Dame – von der Apio seinen Blick abwenden musste, damit er nicht noch roter anlief – eine Traube in den Mund stecken.
Vor ihm stand ein Brett mit schwarzen und weißen Steinchen. Go. Ein Spiel, dessen Regeln Apio nie verstanden hatte.
Hai Tun hielt einen Spielstein schon in der Hand, um ihn auf dem Feld zu platzieren, aber er stockte und blickte auf den Ankömmling.
Und nicht nur er sah zu ihm, nein, alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Apio beschlich das leise Gefühl, dass er besser auf den folgenden Tag gewartet hätte.
Doch nun gab es kein Zurück mehr. Er holte tief Luft und trat bis etwa zur Mitte des Raumes, ehe er die Hände vor dem Oberkörper zusammenbrachte und sich verbeugte. „Zhangmen," begann er. „Mein Name ist Apio und ich bringe Kunde aus Bai Tian."
„Bai Tian?", hakte Hai Tun nach, hörbar genervt von dieser Unterbrechung. „Wie sagtest du, ist dein Name?"
„Api—" Apio stockte. Natürlich kannte der oberste Kultivator diesen Namen nicht. Niemand außerhalb seiner Heimat sprach ihn mit ‚Apio' an. In der Kultivierungswelt trug er seinen Hofnamen. Vor anderen Kultivatoren war er bekannt als:
„Liu Shijia."
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