Aller Tage Abend I
Apio schoss beim ersten Glockenschlag hoch. Er brauchte nur wenige Augenblicke, um sich zurechtzufinden und ins Gedächtnis zu rufen, wo er sich befand. Am vorherigen Tag war das Gespräch mit Xuan Wu gewesen und er war immer noch in ihrem Gebiet. Im Halbdunklen scannte er den Raum ab.
War die Gefahr hier?
Im Raum regte sich nichts. Nur die Äste der Bäume schwangen vor dem Fenster leicht hin und her.
Ein Körper bewegte sich neben Apio, rieb sich die Augen und sah sich ebenfalls um, während Apio sich bereits aufrichtete und in seine Robe schlüpfte.
„Wir werden angegriffen", sagte er. Seine Stimme war ruhiger, als er sich selbst zugetraut hätte. Denn die Wahrheit war: Es überraschte ihn nicht. Nachdem sich Xuan Wu offen gegen Hai Tun gestellt hatte, war es unausweichlich, dass der oberste Kultivator so reagieren würde. Nur warum so früh? Hatte er so lange bei Shulang verbracht, um zu genesen?
Als hätten diese Worte alle Müdigkeit aus Hua Lis Knochen vertrieben, sprang er ebenfalls auf und kleidete sich ein.
„Hai Tun?", fragte er und befestigte Hong-er an seinem Gürtel.
„Mit Sicherheit", sagte Apio und griff nach Qiufeng. Noch einmal sah er sich in der Hütte um – er wollte nichts Wichtiges vergessen – und trat gemeinsam mit Hua Li ins Freie.
Die Morgendämmerung zog sich wie ein rötlich-violetter Schleier am nächtlichen Himmel entlang und spendete ausreichend Licht, um sich halbwegs gut zurechtfinden zu können. Die Glocken schallten hier noch lauter durch die Nacht. Stimmen riefen in einiger Entfernung Befehle. Schritte waren zu hören.
Apio und Hua Li folgten dem Weg und fanden sich schnell auf dem Hauptplatz wieder. Die Schülerinnen Shui Shans hatten sich versammelt. Allesamt waren sie aus ihren Betten geworfen worden. Einigen sah man es an – ihre Haare waren zerzaust, die Kleidung nur hastig übergeworfen, aber auf jeglichen Schmuck und jede Zierde wurde verzichtet. Andere wirkten professionell und unerschütterlich wie immer.
Zu Letzteren gehörte Xuan Wu, die auf einer leichten Erhöhung stand und zu ihren Leuten sprach. Begleitet war sie von Shulang, der einige Schritte hinter ihr stand.
Leise gesellten sich Apio und Hua Li zu ihm. Shulang warf ihnen nur einen Blick zu und stieß ein Schnauben aus. Ehe Apio auch nur den Mund öffnen und ihn bitten konnte, ihm ein wenig spirituelle Energie zu leihen – da in der Nacht wieder, auf mysteriöse Art und Weise, dämonisches Qi in seinen Körper gelangt war und sein eigenes Qi in Unruhe gebracht hatte –, schlug Shulang ihm gegen die Schulter.
Und mit dieser einfachen – und selbstverständlich sehr vorsichtigen und liebevollen Berührung, die sicherlich auch keinen blauen Fleck hinterließ – war alle dämonische Energie verschwunden.
„Danke", murmelte Apio leise. Shulang aber erwiderte nichts.
Apio räusperte sich und entschied, nicht darüber zu sprechen, da Shulang es auch nicht kommentierte. Stattdessen fragte er: „Was ist los?" Hai Tun vor der Sekte. Das war seine Vermutung.
„Ich weiß nichts Genaues", sagte Shulang. „Die Barriere am Waldrand wurde durchbrochen und was oder wer auch immer es war, bewegt sich nun auf uns zu."
„Hai Tun?", fragte Apio.
„Das ist auch meine Vermutung", sagte Shulang. „Sicher können wir uns aber nicht sein." Er machte eine kurze Pause, in der er Apio beäugte. „Wollen wir es auskundschaften? Wir zwei fallen nicht so sehr auf wie ein ganzes Heer."
„Wir drei", berichtigte Apio ihn.
„Bitte?"
„Wir sind zu dritt."
„Zu dritt?"
Apio deutete mit dem Kopf auf Hua Li.
Shulang musterte den Dämon nur kurz und sah dann zurück zu Apio. Ihm war anzusehen, dass er überlegte, ob er einen bissigen Kommentar geben oder zur Abwechslung mal Taktgefühl besitzen und schweigen sollte.
Er entschied sich für Ersteres. „Ich hätte nicht gedacht, dass er dich nun überall hin begleiten muss und du keine zwei Schritte ohne ihn gehen kannst, Shidi."
Apio wollte sich davon nicht provoziert fühlen. Er wollte es wirklich nicht. Er wollte es am liebsten einfach abschütteln und nicht darauf reagieren.
Doch sein Blick wanderte von allein zu seinen Fußspitzen und ein kleiner Funke Trotz entzündete sich in seinem Herzen. Nicht genug, dass er Shulang die Stirn hätte bieten können, doch ausreichend, dass es nicht spurlos an ihm vorbei zog und er einwilligte.
„In Ordnung", murmelte er. Dann würde er allein mit Shulang losziehen. Ohne Hua Li ...
Er hielt ein Seufzen zurück und wandte sich dann an den Dämonen. „Ich bin so schnell zurück, wie ich kann."
Shulang wartete nicht, bis Hua Li antwortete. Stattdessen packte er Apio am Kragen und schenkte Xuan Wu ein knappes Nicken, ehe er sich auf den Weg machte und seinen Shidi gekonnt hinter sich her schleifte.
In wenigen Augenblicken hatten sie die Menschenmenge – und den einen Dämon – hinter sich gelassen und waren in dem Wald angekommen. Dem Herbstwald.
Apio schauderte.
Die Bäume, deren Blätterkleid in rot und gelb eingefärbt war, rasten an ihnen vorbei. Der kalte Wind hielt kaum mit ihnen mit.
Erst nach einigen Minuten blieb Shulang stehen ... und Apio mit ihm. Eine andere Wahl blieb ihm nicht, denn Shulang hielt ihn weiterhin am Kragen fest.
Sie hatten auf einer Anhöhe angehalten, die über den Wald ragte. In der Ferne flackerte Licht wie von tausenden Fackeln. Stimmen schallten durch den Morgenhimmel und schwere Schritte ließen die Erde erzittern.
„Hat Hai Tun das nötig?", fragte Apio. Er tippte vorsichtig auf Shulangs Hand, in der Hoffnung, dass er seinen Kragen loslassen würde.
Und tatsächlich half es. Als hätte er sich verbrannt, zog Shulang seine Hand zurück und betrachtete sie angewidert.
„Sorry", murmelte Apio.
Shulang schnaubte und wischte sich die Hand an seiner Robe ab. Weiter kommentierte er es aber nicht und sein Blick schweifte gen Horizont zu dem Meer aus Fackelschein.
„Hai Tun will auffallen", sagte er. „Das ist der einzige Grund, weshalb er so auftreten würde."
„Und was schlägst du vor?", fragte Apio. Shulang hatte ihn sicherlich nicht nur hierher geschleift, damit sie die Truppen aus der Ferne betrachten konnten.
„Wir gehen näher an sie heran und wenn es uns gelingt, dann halten wir sie auf, bevor sie den Kern erreichen."
...
Was?
Was will er tun?
Aber anstatt nachzufragen, ob er es richtig verstanden hatte und Shulang nun endgültig dem Wahnsinn verfallen war, brachte er nur ein vollkommen eloquentes „Huh?" hervor.
„Du hast mich richtig verstanden, Shidi", sagte Shulang.
Und damit wusste Apio: Er lag mit seiner Vermutung richtig. Shulang war schon immer arrogant und kein angenehmer Zeitgenosse gewesen. Und nun war er auch noch wahnsinnig geworden. Absolut größenwahnsinnig.
„Und ... und das hältst du für eine gute Idee?", fragte Apio.
„Nein, aber früher oder später würden wir ohnehin auf sie treffen. Es gibt keinen Grund, es weiter hinauszuzögern."
Aber wir sind zu zweit! ZU ZWEIT!! Was soll dieses Himmelfahrtskommando?
Und außerdem: War es nicht Shulang gewesen, der ihm gesagt hatte, er sollte Qiufeng unter keinen Umständen zum Töten nutzen. Wie sollte er denn ein ganzes Heer aufhalten, wenn er nicht töten durfte?
„Das ist ..." keine gute Idee, hatte er sagen wollen, aber Shulang packte ihn am Arm und zog ihn wieder hinter sich her. Sie stiegen die Anhöhe hinab und verschwanden im Wald.
Je näher sie Hai Tuns Truppe kamen, desto lauter wurden die Stimmen und Schritte.
„Shixiong", flüsterte Apio, aber Shulang brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sie waren zwar noch so weit entfernt, dass ein normaler Mensch sie wohl nicht hören würde, doch die Angreifer waren keine normalen Menschen. Zumindest nicht ausschließlich. Unter ihnen befanden sich Kultivatoren.
Die leise Ahnung beschlich Apio, dass Shulang wusste, was für eine schlechte Idee sein Unterfangen war. Weswegen er jedoch trotzdem aufbrach, war ihm ein Rätsel. Dass all die Schicksalsschläge der letzten Tage – angefangen bei dem Angriff auf Bai Tian und Makiros Tod – ihn so sehr zugrunde gerichtet hatten, dass er nun sein Leben wegwerfen würde ... das passte nicht zu ihm. Und vor allem würde er dann doch nicht seinen Shidi mit in die Sache hineinziehen.
„Ich will nicht sterben", flüsterte Apio weiter und ließ sich diesmal von Shulangs Handbewegung nicht verunsichern. „Und ich kann nicht kämpfen. Ich ... ich ..."
„Sei still", zischte Shulang ihm zu. „Du wirst nicht sterben und du musst auch nicht kämpfen. Nicht, solange ich bei dir bin."
Hatte Hua Li nicht Ähnliches gesagt? Solange ich in deiner Nähe bin, wird Ying Diao dir nichts antun. Und nun waren sie doch getrennt worden.
Von einem Moment zum nächsten schnürte sich Apios Kehle zu. Seine Knie wurden weich und er krallte sich in Shulangs Robe fest.
Wie ein kalter Sturm traf ihn eine schreckliche Vorahnung. Eine Vorahnung, die sich so real anfühlte, als wüsste er, dass es unausweichlich geschehen würde.
Der Herbst war angebrochen und er würde sterben.
Hier und heute.
Was das System für ihn als Schicksal ausgewählt hatte, dem konnte er nicht entfliehen.
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