Thank you, Jack!
Lange blieben wir so sitzen. Blieben einfach eng umschlungen auf meinem Bett und sagten nichts. Es war angenehm. Wir konnten uns ohne Worte verstehen. Ich war Jack einfach nur dankbar. Dafür, dass er mich verstand, dass er mich nicht abstieß. Er war so wie seine Familie: Ein wunderbarer Mensch. Solche Leute gab und gibt es nicht oft, sie tauchen nur hin und wieder auf. "Wesley." Ich öffnete die nun wieder trockenen Augen und hielt ihn eine Armeslänge von mir entfernt, dass ich ihm ins Gesicht sehen konnte. "Jack." Ein paar Sekunden sah er mich wieder einfach nur an, dann wurden seine Augen wieder nass und er drückte mich wieder an sich. Man hörte seine Stimme in dem vielen Schluchzen kaum. "Wesley - es tut mir so leid!", er war verdammt traurig - wegen mir. Ich wusste nicht, was ich getan hatte. Beruhigend strich ich ihm mit der Hand über seinen bebenden Rücken und er atmete tief durch. "Jack - was tut dir leid?", vorsichtig fuhr ich mit meinen Fingern durch seine Haare - er seufzte. "Du - du musstest so viel durchmachen, hast so viel gelitten und bist erst sieben Jahre alt. Ich - es tut mir so leid!" Ich wollte nicht, dass er litt. Es sollte nicht so sein. Nicht wegen mir. Wegen meinem Leben, des Alleinseinis und dem Hungern - es waren meine Probleme, die auf mir lasten sollten, nicht auf Jack oder irgendjemandem aus dieser Familie. Ich würde niemals dazugehören. Zu Jamie, zu Jack, zu den Mädchen und den wunderbarsten Eltern, die es jemals gab. Meine Mutter war für mich immer der wunderbarste Mensch gewesen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, so eine Mutter wie die von Jack zu haben. So glücklich waren wir nie. Sie war auch deshalb gestorben - wegen Mangel an Essen, Trinken, Kleidung und vor Allem an der Ablehnung der Touristen. Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber es frisst dich von innen auf. Macht dich wahnsinnig. Man braucht diese andere Liebe von Menschen, die Anerkennung. Es ist eine merkwürdige Art der Liebe, ich weiß, aber es ist so. Das Mobben ist nicht mal annähernd so schlimm, wie wenn man die Abstoßung von Fremden Menschen kennt. Man braucht das irgendwie, und ich habe keine Ahnung, warum. Aber es ist so. Das weiß ich. Denn die Folge von Ablehnung ist, dass dich niemand mehr beachtet, dich auf der Straße liegenlässt und einfach weitergeht. Sie wissen zwar, dass dieser Mensch Hilfe braucht, doch ihnen ist das zu viel Arbeit und sie schämen sich dafür, diesem Menschen geholfen zu haben. So ist das Leben. Die Realität. Die man leider nicht ändern kann und noch nie konnte.
Jack weinte immer noch. Er sollte aufhören. Er hat diesen Schmerz nicht verdient, den ich spürte. "Jack - schht! Ganz ruhig, nicht weinen!" Es war merkwürdig, jemanden zu trösten, den man erst einen Tag kannte - weniger als einen Tag. Wenn dieser Jemand auch noch zehn Jahre älter war als du und eine ganz andere Sichtweise vom Leben hatte, war es etwas besonderes, denjenigen zu trösten und ihm das Gefühl geben zu können, dass man ihm wirkich half. Meine Augen waren wieder geschlossen, Jack atmete langsam wieder ruhig und normal. "Wesley -", ich wollte nicht, dass er weitersprach, doch er schien es zu ignorieren. Seine braunen Augen fesselten mich - ließen mich nicht mehr los. Sie zogen mich in seinen Bann, dessen Wirkung mich in dieses Braun hineinzog. Wie ein riesiger Wirbelsturm, aus dem man nie mehr herauskam. Die Wimpern um diese Augen waren wunderschön - auch neben der Tatsache, dass sie nass vom Weinen waren. Ich liebte sie. Sie glänzten. Waren nicht matt oder leblos, sondern hatten Leben in ihnen. Und genau das war an ihnen so besonders: dass sie nicht nur eine Funktion des Körpers waren, sondern jemanden einfangen konnten. Jemanden völlig von ihnen überzeugen zu können. "Wesley, ich weiß, dass du nicht willst, dass ich das jetzt sage. Ich tue es trotzdem. Weil ich weiß, dass es das Richtige ist. Und auch wenn du denkst, dass das, was ich jetzt gleich sagen werde, nicht stimmt, so stimmt es doch. Ich verstehe dich. Verstehe deine Ängste, Sorgen, Sehensucht, das Gefühl, alleine zu sein - all das habe ich auch schon gespürt. Weißt du, ein Mensch, egal woher er kommt, verdient es, ein schönes Leben zu haben, glücklich zu sein. Liebe zu bekommen und lachen zu können. All das brauch ein Mensch - er kann ohne diese Dinge nicht leben. Sonst stirbt er ohne jegliche Liebe an der Abneigung der Touristen und reichen Leute. Weißt du, ich hatte diese Gefühle auch schon erlebt. Eines Tages sah ich ein Mädchen, es war ungefähr genauso alt wie ich und wunderschön. Ich habe sie angesprochen, und nach einiger Zeit sind wir zusammengezogen. In die Wohung ihrer Eltern - wir waren damals fünfzehn. Ich hatte ein wunderschönes Jahr, in dem ich die ganze Zeit Freude empfand und an nichts anderes als dieses Mädchen denken konnte. Doch dann kam der Tag, der alles zerstörte. Ich kam von der Schule nach Hause und wollte wie gewohnt ins Schlafzimmer gehen, um mich umzuziehen. Dann habe ich sie gesehen. Sie und meinen ehemaligen besten Freund. Ich dachte das zumindest immer. Anscheinend habe ich mich gewaltig in ihm getäuscht - und vor allem in ihr. Immer dachte ich, dass wir uns lieben - doch sie war einseitig. Sie liebte mich nicht, nutzte mich nur aus. Ich bin dann sofort hinausgerannt, es war so, als ob mir mein Herz weggenommen worden wäre. Denn sie hat es mit sich genommen, hat es ausgezehrt. In der Zeit unseres Zusammenlebens war es so stark und voller Liebe gewesen - aber nicht unabhängig. Das war schließlich der Grund, warum ich meine Sachen gepackt und weggegangen bin. Damals, mit vier Jahren, habe ich auch meine Eltern verloren - genau wie du. Ich war nie darüber hinweggekommen, und bin es jetzt immer noch nicht. Ich denke, das Gefühl, einen Teil seines Herzens nicht mehr zu haben, wird bleiben. Bis an mein Lebensende. Und es wird auch nicht heilen oder eine dicke Haut über der Wunde schließen. Ich hatte kein Zuhause. Keine Unterkunft, in der ich schlafen konnte. Du weißt nicht, was ich für einen Schmerz gefühlt habe - ich war nur noch eine leere Hülle. Keine Spur von Leben war in meinem Körper. Ich war wie ein Geist - niemand beachtete mich. Eine Zeit lang ging es mir einigermaßen gut, bis ich mich an einem Metall schnitt. Ich war damals sechzehn Jahre alt geworden und hatte immer noch auf der Straße gelebt. Hatte geraubt, geplündert, gelogen - es schmerzt mich, das zu sagen, aber ich hätte sonst nicht überlebt. Warum ich nicht gestorben bin? Mein Selbsterhaltungstrieb hatte sich langsam wieder aufgebaut, ich spürte aber keine Freude, Liebe oder Geborgenheit - ich bekam die Abneigung der Touristen und Stadtmenschen zu spüren. Das Gefühl, nicht anerkannt zu werden. Nicht hier sein zu dürfen. Ein paar Tage ging es mir ganz normal, doch dann bekam ich Fieber. Ich konnte nichts tun, also habe ich mein Leben weitergelebt. Es wurde immer schlimmer, ich hatte furchtbare Schmerzen, das Fieber stieg immer mehr - ich wurde schwach. So schwach, ich konnte nicht mehr aufstehen. Unter einer Brücke zwischen zwei Tonnen habe ich mich geschleppt und wartete auf meinen Tod. Er kam nicht. Obwohl ich Blutvergiftung hatte, wollte mich das Schicksal nicht von dem Schmerz und des Lebens erlösen. Ich glaube, ich lag zwei Tage zwischen den Mülltonnen. Zwischendurch hatte ich immer mal wieder das Bewusstsein verloren, ich hatte mein Leben schon fast aufgebraucht. Ich habe noch bemerkt, wie ein Auto vorbeigefahren ist und angehalten hat. Eine Frau redete mit mir, doch ich konnte nicht antoworten. Ich war schon fast am Tod angelangt und freute mich darüber, endlich sterben zu können. Denn mein Leben war vorbei; seitdem ich sie im Bett erwischt hatte. Nein, eigentlich, seit dem Tod meiner Eltern. Sie waren das Wichtigste in meinem Leben gewesen, ohne sie wäre ich nie so ein glücklicher Mensch gewesen, wie ich es damals war. Nun, ich wurde dann in das Auto getragen und in ein Krankenhaus gebracht. Dort war ich dann mehrere Wochen, ich wurde wieder gesund. Die Familie, die mich gerettet hatte, wollte mich adoptieren. Anfangs wehrte ich mich genauso wie du gegen diese Hilfe. Langsam lebte ich mich jedoch ein und erkannte, was für tolle und wunderbare Menschen sie eigentlich waren. Ich bekam jeden Tag Essen und ein Bett, Wärme und Liebe. Aber was mir am Wichtigsten war: sie haben mich akzeptiert. Sie scheuten nicht vor Straßenkindern, vor Kindern, die nichts hatten. Sie sind jetzt so etwas wie eine Familie für mich, für die es sich zu kämpfen lohnt. Ich erzähle dir das, weil ich dir damit sagen will, dass du keine Angst haben musst. Dass du ein Teil dieser Familie werden kannst, obwohl du denktst, dass du eigentlich nicht dazugehörst. Glaub mir, selbst jetzt denke ich mir manchmal, ob ich nicht immer noch ein Außenseiter bin - ein Nichts. Aber mein Verstand sagt mir, dass ich ohne diese Menschen nicht überlebt hätte und gestorben wäre. Nie hätte ich dieses Leben leben dürfen, das ich jetzt habe. Und nie hätte ich die Liebe bekommen, die ich von meinen Eltern bekam. Auch wenn du nicht so denkst, bist du schon jetzt ein Teil dieser Familie und verdienst es, das zu bekommen, was ein Mensch braucht. Du sollst wissen, dass du wie ein Burder für mich bist - es stimmt ja auch. Wir sind beide von der Straße gekommen, haben beide unsere Eltern und Schwester verloren und wurden beide gerettet. Durch die selben Menschen. Durch die selbe Familie. Haben beide das Leben eines Obdachlosen erlebt, haben beide die selben Sorgen, Ängste und Rückschläge erlitten. Deshalb sollst du wissen, dass du hier anerkannt wirst, dass du nichts zu befürchten hast. Du gehörst einfach zu uns, Wesley." Seine Stimme brach am Ende des letzten Satzes. Ich war sprachlos. Mir standen Tränen in den Augen. Jetzt begannen sie, zu fließen. Immer mehr. Immer mehr. Ich konnte es nicht glauben - hatte er mir wirklich gerade seine Geschichte erzählt? War er wirklich auch ein Straßenkind? Ich glaubte ihm auf jeden Fall - er verstand mich. Ein Gefühl der Liebe ging von ihm aus und ließ mein Herz erwärmen. Ich liebte ihn jetzt schon wie einen großen Bruder. Einen besonderen, anderen Bruder, der einen aufbauen konnte, wenn man traurig war. Der einen fröhlich machen konnte, wenn man einen schlechten Tag hatte. Der einem Liebe gab. Der einen verstand. So war er. Und ich liebte ihn dafür. Eine Weile herrschte nur Stille, ich wusste keine Worte für diese wundervollen Sätze von Jack. "Jack, ich - ich weiß nicht, was ich sagen soll. Danke. Danke, dass du mich verstehst und versuchtst, mich glücklich zu machen. Dass du mir deine Geschichte erzählt hast - und genauso denkst, wie ich. Danke!" Mittlerweile schluchzte ich wirklich. Vor Dankbarkeit und Liebe zu diesem Menschen. Er nahm mich mit verzerrtem Lächeln in den Arm und vergrub sein Gesicht an meiner Schulter. Ich konnte mich an ihm ausweinen, ohne, dass er irgendetwas sagte. Er akzeptierte mich. Liebte mich. Wollte, dass ich in sein Leben trat und ein Teil seiner Familie werde. Ich hatte mich entschieden: Ja, ich wollte. Ich wollte in diese Familie, egal, ob ich ein Straßenkind war oder nicht. Ich wollte. Ein einziges Wort beschrieb meine Gefühle für diesen Jungen: "Danke."
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