KAPITEL 9: Freunde
Freya wusste, dass es nicht gerade fair von ihr gewesen war, ihn so zu überfallen und dann einfach stehen zu lassen. Es war offensichtlich, dass er unter dem, was passiert war, litt. Und so sehr Egoismus gegen ihr Naturell ging, wenn die vier Jahre mit ihrem Ex-Freund sie etwas gelernt hatten, dann, dass man, wenn man anderen helfen wollte, zuerst für sich selbst sorgen musste.
Ihre Unterhaltung mit James hatte eines klar gemacht: Ihre anfängliche Angst war unbegründet gewesen. Zu sagen, dass er ein guter Mensch war, ging vielleicht zu weit, aber er war längst nicht mehr der gefährliche Killer, für den sie ihn kurzzeitig gehalten hatte. Wenn sie sich das Bild von ihm am Fenster vor ihr inneres Auge holte, sah sie viel mehr ihren Großvater; einen alten Mann, der von den Dämonen seiner Vergangenheit verfolgt wurde.
Sie wusste, dass sie sich nicht auf eine Beziehung mit jemandem wie ihn einlassen konnte. Nicht, nachdem die psychischen Belastungen ihres Ex-Freundes sie selbst beinahe zerstört hatten. Aber ihn wegen etwas komplett auszuschließen, für das er selbst wahrscheinlich nur wenig konnte, schien auch nicht richtig. Mit diesem Gedanken ging sie zu Bett— und erwachte am anderen Morgen mit einem Entschluss.
Freyas Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Flur durchquerte. Nicht aus Angst, dass ihr der Winter Soldier öffnen würde. Er existierte nicht mehr. James Barnes hingegen, war real. Und sie war nicht gerade nett zu ihm gewesen, bei ihren letzten zwei Aufeinandertreffen. Sie hatte einiges gut zu machen. Hoffentlich mochte er Schokolade.
Sie drückte die Klingel mit ihrem Ellbogen. Die Tür öffnete sich beinahe sofort. Er trug dieselben Hosen wie am Vortag, nur das Tanktop hatte er gegen ein T-Shirt getauscht. An seinen Haaren konnte Freya erkennen, dass er duschen gewesen war. Ein gutes Zeichen, Selbstfürsorge begann schließlich mit den einfachen Dingen.
Sein Blick fiel auf die zwei großen Tassen heißer Schokolade, komplett mit Marshmallows, Sahne und einem guten Schuss Rum und er zog eine Augenbraue hoch. «Was soll das?»
«Halb Friedensangebot, halb Entschuldigung. Ich war nicht gerade fair dir gegenüber.»
Er trat einen Schritt zurück und gab den Weg in seine Wohnung frei. Freya folgte der Einladung ohne zu zögern. Sie durchquerte den Raum und stellte die zwei Tassen auf dem Couchtisch ab. Dann setzte sie sich auf das Sofa, schön an das rechte äußere Ende, damit offensichtlich war, dass er sich zu ihr setzten durfte. Und das tat er etwas zögerlich auch.
«Das ist aber nicht für Minderjährige», kommentierte James das Getränk, nach seinem ersten Schluck. Etwas Sahne war an seinen Stoppeln hängengeblieben. Wenn sich seine Muskeln nicht so stark unter dem dünnen Stoff abgezeichnet hätten als er die Tasse wieder auf den Couchtisch stellte, hätte man den Anblick schon beinahe als 'süß' bezeichnen können
«Bist du ja auch nicht. Das erinnert mich, wie alt bist du eigentlich?»
«Beinahe 101. Ich bin 1917 geboren.»
Freya lachte leicht und nahm noch einen Schluck von ihrer Schokolade. «Dann tut dir etwas Rum bestimmt nicht mehr weh.»
James Mundwinkel zogen sich ebenfalls leicht hoch, doch es wirkte immer noch sehr verhalten. Verständlich, nach dem wie sie sich bei ihrem letzten Besuch verhalten hatte.
«Du kannst dich entspannen. Ich werde dir keine Vorwürfe mehr machen.»
«Einfach so?», wiederholte er ihre Worte vom Vortag.
«Ich wäre dankbar gewesen, wenn du mich nicht angelogen hättest. Aber ich kann auch verstehen, dass es einfachere Wege gibt ein Gespräch zu beginnen als mit einem kurzen Abriss deines Lebenslaufs.» Sie legte ihm vorsichtig die Hand auf den rechten Unterarm. «Ich wäre nur froh gewesen, du hättest vor Weihnachten den Mut gefunden ehrlich zu sein.»
Freya sah zu ihm hinüber, doch James senkte seinen Blick auf ihre Hand hinunter.
«Schau, ich bin bereit dazu weiter mit dir befreundet zu sein, wenn du das auch willst. Freundschaft, nichts mehr. Mein Ex war bei SWAT. Er hatte mit starken Depressionen und PTBS zu kämpfen und die ständige Angst ihn zu verlieren oder eines Tages nach Hause zu kommen und ihn—» Ihre Stimme brach und sie musste einmal tief durchatmen, bevor sie weitersprechen konnte. «Ich kann das Ganze nicht noch einmal durchmachen. Ich hoffe, du kannst das verstehen.»
Sie suchte seinen Blick und als sie die blauen Augen endlich fand, nickte er leicht. «Danke.»
«Nichts zu danken. Ich bin ziemlich sicher, dass ich damit angeben kann, mit dir befreundet zu sein.» Seine Augen weiteten sich und Freya konnte sich ein Lachen über den darin liegenden Schock nicht verkneifen. «Kleiner Scherz. Keine Sorge, dein Geheimnis ist gut aufgehoben bei mir.»
Nun begann auch er leicht zu lachen. Das Eis schien gebrochen.
***
Die zwei Tassen, die Freya mitgebracht hatte, standen leer nebeneinander auf dem Couchtisch, als sie plötzlich nach seinem Metallarm fragte. «Darf ich mal anfassen?»
Etwas verwirrt zog Bucky eine Augenbraue hoch, legte seine linke Hand dann jedoch in ihre. Freya hob sie sofort etwas hoch und bückte sich interessiert darüber.
«Komisch. Ich hätte gedacht, dass sie kälter ist.»
«Das Metall ist ziemlich gut wärmeleitend», erklärte er. «Die Titanprothese, die ich davor hatte, war da einiges unangenehmer.»
Freya versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlen musste, wenn man jedes Mal kaltes Metall abbekam, wenn man sich kratzte oder übers Gesicht fuhr.
«Was ist das für ein Metall?»
«Vibranium.» Er ballte seine Hand einmal zur Faust und ließ sie dann wieder locker. Ihre Finger strichen vorsichtig über die glänzenden Gelenke.
«Wie hält das alles zusammen? Ich kann keinerlei Schrauben erkennen.»
«Frag mich nicht, ich hab's nicht erfunden.»
«Warte, duschen! Sag mir nicht, dass du jedes Mal eine Mülltüte darüber ziehen musst.»
Bucky lachte. «Ist glücklicherweise Wasserfest. Aber Mülltüte? Wie kommst du da rauf?»
«Ich habe mir in der fünften Klasse den Arm gebrochen. Und weil der Gips nicht nass werden durfte und all unsere Plastiktüten zu klein waren, hat meine Mutter mir einfach eine Mülltüte drübergezogen», erklärte Freya und ließ ihre Augen nun seinen Arm hochwandern. Sie blieb still, offenbar waren alle Fragen geklärt. Zumindest bis sein Magen ziemlich lautstark knurrte.
«Hunger?»
«Scheint so.»
«Gut, dann rüber zu mir, bevor du noch auf den schrecklichen Gedanken kommst, dass Essen aus der Plastikverpackung akzeptabel ist.»
«Praktisch.»
«Was?»
«Ich hätte eher 'praktisch' gesagt.»
Freya verdrehte ihre Augen. «Das ist auch nur ein schöner Ausdruck für 'ich bin zu faul'.»
Bucky lachte, folgte ihr dann jedoch ohne weitere Wiederrede über den Flur.
Es war das Erste von zahlreichen Malen, an denen er bei Freya Essen durfte. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie seine Angewohnheit Fertiggerichte zu essen zutiefst verurteilte. Und sie gab sich alle Mühe, das zu ändern. Da es ihr mit der Zeit jedoch zu mühsam wurde, sich immer abzusprechen und formell zu verabreden, begann Freya irgendwann einen Kochtopf hinter ihr Wohnzimmerfenster zu stellen, wenn er zum Abendessen willkommen war. Bucky antwortete jeweils in dem er die kleine Lampe an seinem Fenster brennen ließ, wenn er dabei war.
Die gemeinsamen Abende waren jedes Mal ein kleiner Lichtblick für ihn, denn in der Residenz wurde die Luft mit jedem Tag stickiger. Die Untersuchungen dauerten an, Sam Wilson und er wurden immer noch von sämtlichen Missionen ausgeschlossen und es wurden gefühlt im Wochentakt neue Maßnahmen verhängt— obwohl seit der Aktion an Silvester nichts mehr passiert war.
Steve litt darunter. Bucky bekam seinen ganzen aufgebauten Frust während einiger ihrer Trainingsstunden gut zu spüren. Dennoch sprachen sie nicht darüber, auch einige der Maßnahmen die irgendwann Mitte Januar eingeführt worden waren.
Einzig die Therapiestunden liefen einigermaßen gut. Sie zogen sich immer noch endlos hin und Dr. Raynors Fragen wurden nicht weniger. Doch seit er sich Freyas Bitte zu Herzen genommen hatte und ab und zu auch ehrlich auf diese antwortete, war die Stimmung zwischen ihm und der Therapeutin weniger angespannt. Zumindest meistens.
«James, das ist nun schon das fünfte Mal, dass du auf deine Uhr siehst. Hast du noch etwas Besseres vor?», beschwerte sich Dr. Raynor genervt in seiner letzten Session im Februar.
Das hatte er tatsächlich. In einer Eventhalle in der Nähe ihres Wohnhauses öffnete heute ein Internationales Street Food-Festival. Freya hatte ihn gebeten mitzukommen, weil 'zwei Mägen mehr testen können als einer'. Vor allem, wenn einer davon von Supersoldatenserum angetrieben war.
«Herrgott, dann verschwinde», riss sie ihn aus seinen Gedanken. «Aber das nächste Mal erwarte ich ein paar mehr Antworten.»
Er lächelte leicht. «Danke Doc.» Dann schnappte er sich seine Baseballkappe von dem kleinen Glastisch neben der Couch und zog sich diese tief ins Gesicht, bevor er das Gebäude verließ.
***
«Ach, hättest du doch was gesagt. Ich wäre liebend gerne auch mitgekommen, aber jetzt hat Tim den Termin mit unserer Hochzeitsplanerin—»
«Schon okay, Anne», unterbrach Freya ihre Freundin. «Wir gehen ein anderes Mal gemeinsam hin. Das Festival läuft schließlich noch bis Mitte nächsten Monat»
«Klar. Es tut mir nur leid, dass du jetzt ganz allein hinmusst.»
Nicht ganz, doch das behielt Freya für sich. Selbstverständlich hatte Anne sie nach ihrer Rückkehr nach James gefragt. Sie hatte versucht möglich taktisch vorzugehen, doch schlussendlich war ihr die Frage dann einfach rausgeplatzt.
Er ist weg, ich will nicht darüber reden, hatte sie ihr geantwortet. Es war bloß eine halbe Lüge, denn Anne hatte nach dem Winter Soldier gefragt. Und den gab es ja auch tatsächlich nicht mehr.
James dagegen, kam ihr eine halbe Stunde durch die Menschenmenge entgegen. Er war nicht schwierig auszumachen, mit seiner dunkelblauen Baseballmütze und dem roten Schal, den sie ihm geschenkt hatte, um seinen Kleiderschrank farblich etwas aufzufrischen. Als er sie erreichte, fiel ihr auf, dass er zudem die Brille von Weihnachten trug.
«Weißt du, als Kind fand ich die ganze Clark Kent Sache immer unglaublich dämlich. Als ob eine Brille ausreichen sollte, damit dich plötzlich niemand mehr erkennt. Aber ich glaube ich war zu voreilig, es macht schon einen Unterschied», begrüßte sie ihn und hängte sich sofort bei ihm ein.
Er lachte. «Dir auch einen guten Mittag.»
«Wie war die Therapie?»
«Lang. Wie sieht die Lage hier aus?»
Freya zog eine Broschüre hervor, reichte sie ihm und deutete dann auf die Seite mit dem Lageplan. «Ich verlasse mich auf deine taktische Erfahrung, um uns optimal an allen Ständen vorbeizubringen. Ich habe sie schon mit H und N versehen, abhängig davon, ob wir uns einen Hauptgang oder einen Nachtisch gönnen werden.»
«Ich nehme an, du willst zuerst alle H's abklappern, bevor wir zum Nachttisch übergehen?»
«Selbstverständlich. Kriegst du das hin?»
Er steckte den Plan weg. «Wir werden's gleich herausfinden.»
«Na dann, auf geht's.»
Selbstverständlich konnte er es. Zielsicher und ohne ein zweites Mal auf den Plan zu schauen, navigierte James sie durch das Festival, so dass Freya sich auf das Essen und reichlich Fotos konzentrieren konnte. Doch was sie noch mehr überraschte, war, dass er mit vielen den Händlern in ihren Landessprachen kommunizieren konnte.
«Du kannst English, Deutsch, Russisch und Spanisch?», fragte sie ungläubig, als sie sich mit einem Pappteller voller Churros an einen der vielen Stehtische stellten, die überall aufgebaut waren.
«Und Romanisch, Japanisch, Spanisch und Xhosa.»
«Wahnsinn. Was zur Hölle ist Xhosa?»
«Eine afrikanische Sprache die unter anderen in Wakanda gesprochen wird.»
Freya schüttelte ihren Kopf und nahm noch einen Bissen von dem frittierten Gebäck. «Was ist mit Französisch?»
«Genug, um eine Unterhaltung zu führen. Wieso?»
«Ich hatte fünf Jahre Französisch in der Schule. Ich hatte Hoffnung etwas gefunden zu haben, was ich kann, du aber nicht. Aber es scheint unmöglich zu sein.»
«Es gibt eine Menge Dinge, die du kannst und ich nicht.»
Freya hielt ihm einen Churro hin. «Nenn mir eines.»
«Kochen», erwiderte er und biss von dem Gebäck ab. «Schreiben, Small Talk.»
«Small Talk? Ernsthaft?»
«Ist nützlicher als du denkst, gestern im Supermarkt wollte eine ältere Frau—»
Er wurde von dem Händler am Piroschki-Stand hinter ihnen unterbrochen. «Семнадцать! Siebzehn!» Jemand drängte sich mit einem Zettel an ihnen vorbei, um sein Essen zu holen. Dann war die Aufregung auch schon vorbei.
«Was war gestern?», hakte sie nach, doch James schien wie versteinert. Seine Augen waren starr auf den Food Truck gerichtet und wenn sie sich nicht täuschte, hob und senkte sich seine Brust in unregelmäßigen Abständen. Vorsichtig legte sie ihre Hand über seine. «James?»
Ruckartig kam wieder leben in seinen Körper und er drehte sich zu ihr zurück. «Tut mir leid.»
«Alles gut. Was ist los?»
«Nichts.»
«Nichts sieht anders aus.» Sie zog ihre Hand zurück und verschränkte die Arme. Er zögerte einen Moment, dann rückte er jedoch doch noch mit der Sprache heraus.
«Erinnerst du dich noch an die Codewörter von denen ich dir erzählt hatte? Семнадцать war eines davon.»
«Ich dachte, sie funktionieren nicht länger?»
«Tun sie auch nicht. Die Erinnerungen sind trotzdem da.»
Freya erkannte den Ausdruck in seinen Augen sofort. Bei ihm hatte sie ihn erst ein paar wenige Male beobachten können. Doch ihr Ex-Freund war beinahe jeden Abend damit ins Bett und am Morgen damit aufgestanden. Weit weg, in einer anderen Welt. Einer dunklen Welt voller Schmerz und bösen Geistern.
«Hey, Augen hier her!», erwiderte sie schnell. «Was auch immer du gerade denkst, es ist falsch.»
Er sah verwirrt auf, nickte dann jedoch langsam. Ablenkung war gefragt. Und deshalb hakte sich Freya auch sofort wieder bei ihm ein und zog ihn vom Tisch weg. «Komm, Zeit mich mit deinen Französisch-Kenntnissen zu beeindrucken. Mir ist nach Crêpes.»
Der Rest des Nachmittags verlief ohne weitere Zwischenfälle. Dennoch geisterte das Ereignis immer noch in Freyas Kopf herum, als sie sich auf den Rückweg befanden. Gerade in den letzten Wochen, hatte sie sich mehrmals dabei ertappt, wie sie ihre Entscheidung hinterfragte. War sie zu voreilig gewesen, als sie sagte, dass sie bloß Freunde sein konnten?
James war ihr gegenüber in den vergangenen zwei Monaten immer sehr charismatisch und schon beinahe locker gewesen. Doch dieser Moment hatte ihr wieder schmerzlich bewusst gemacht, dass er trotz allem immer noch eine enorme Menge an Ballast mit sich herumschleppte. Und sie bezweifelte, dass sie stark genug war, um diesen mitzutragen.
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