KAPITEL 8: Fragen und Antworten
Freya konnte kein Auge zu tun. Sie hatte stundenlang sämtliche Artikel gelesen und Beiträge geschaut, die sie online zum Winter Soldier finden konnte. Das Ganze hatte ihr bloss schreckliche Kopfschmerzen beschert. Sie hatte zwei Bilder im Kopf, die einfach nicht zusammenpassten.
Einerseits war da James, ihr Nachbar; irgendwie mysteriös und manchmal sogar etwas schräg, aber immer höflich, nett. Er hatte ihr mit der Wäsche geholfen, ihren Tannenbaum getragen, an ihrem Tisch gesessen und zum ersten Mal Gumbo gekostet. Keine Sekunde lang hatte sie sich bei ihm nicht sicher gefühlt. Das war der James, den sie am Vorabend geküsst hatte. Der Mensch, in den sie sich gerade Hals über Kopf verliebte.
Und auf der anderen Seite war da der Winter Soldier. Ein Superkiller der dutzende Menschen getötet hatte. Ein feindlicher Soldat ohne Gewissen, Gefühle und Reue. Ein Mörder, Betrüger, Lügner, älter als ihre Großeltern. James und er konnten nicht dieselbe Person sein.
Doch da war die Sache mit seiner Prothese. Noch vor wenigen Tagen hatte sie diese als Wunder der Technik bestaunt. Nun glich sie einem Todesurteil. Selbst wenn sich die äußerliche Ähnlichkeit erklären ließe, der kybernetische Arm war nicht zu leugnen. Er war es, alle Fakten deuteten darauf hin. Und trotzdem konnte sie es kaum nicht glauben. Wie konnte dieser Mensch, der von den Medien zeitweise als gefährlichster Mann der Welt dargestellt wurde, in ihrer Küche sitzen und in aller Ruhe Kekse verzieren?
Kompartimentierung, ging es ihr durch den Kopf. Die Tagebücher ihres Großvaters hatten davon gesprochen. Eine Technik, die es ihm erlaubt hatte unter dem Tag in die dunkelsten Abgründe der Menschheit zu schauen und trotzdem am Abend als liebevoller Vater nach Hause zurückzukehren. War es das, was James getan hatte? Den Tag durch skrupelloser Killer, am Abend der nette Nachbar von nebenan? Freyas Magen drehte sich um und sie schaffte es gerade noch rechtzeitig ins Bad.
Als sie sich etwas später wieder zurück ins Schlafzimmer traute, sah sie Licht auf der anderen Seite des Innenhofes. Er war zu Hause. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Die Antworten auf all ihre Fragen waren in greifbarer Nähe. Doch genauso war ihr potenzieller Tod. Freya fehlte der Mut herauszufinden, welches von beiden es sein würde. Ohne weiter darüber nachzudenken, buchte sie ein Ticket für den nächsten Flug nach New Orleans.
Nach einer unruhigen und von Albträumen geplagten Nacht, kroch Freya am nächsten Morgen in aller früh aus ihrem Bett. Eigentlich hatte sie nachsehen wollen, ob der Redaktor sich schon zurückgemeldet hatte. Doch ihr fehlte die Kraft ihren Laptop auch nur aufzuklappen. So packte sie das Nötigste zusammen, um rechtzeitig zum Flughafen zu kommen, als es plötzlich an der Tür klingelte.
Freyas Brust schnürte sich zu, ihre Finger begannen zu zittern. Ist das eine Panikattacke? Nein, noch hatte sie sich im Griff. Wenn er wirklich der Winter Soldier ist, wird die Tür ihn nicht aufhalten. Wenn sie öffnete, würde sie wenigstens noch ein paar Antworten herausholen können, bevor... Daran wollte sie gar nicht erst denken.
James hatte ein leichtes Lächeln auf den Lippen als sie die Tür öffnete. Noch vor zwei Tagen, hätte Freya dies innerlich Sprünge machen lassen. Nun war es nur ein weiterer Trick, eine neue Lüge. Ihre Wut wuchs und nun, da sie ihm gegenüberstand, kam auch ihr Mut auf einen Schlag zurück. Die erhofften Antworten schienen plötzlich bedeutungslos.
«Lügner!», warf sie ihm an den Kopf.
Seine Gesichtszüge entglitten ihm und er wich einen Schritt zurück. Einen Sekundenbruchteil lang war sein Ausdruck komplett leer. Doch dann flutete die Erkenntnis seine Züge. «Freya...»
Er streckte eine Hand nach ihr aus.
«Fass mich nicht an! Ich will nichts hören. Du hast mich angelogen! Du hättest es mir sagen müssen. Ich habe das Recht zu wissen, wenn der Mensch, in den ich mich gerade verliebe, ein Massenmörder ist!»
«Freya bitte, lass mich erklären.»
«Nein. Geh weg. Bleib weg! Ich will dich nie mehr sehen.» Sie schlug die Tür zu. Mit wenigen schnellen Schritten hatte sie ihre Wohnung durchquert und die Reisetasche geschultert. Sie hatte nicht mal mehr drei Stunden. Es würde enorm knapp werden. Aber sie hielt es keine Sekunde länger hier aus.
***
Bucky riss beinahe seine Tür aus den Angeln, als er in seine Wohnung zurückkehrte. Lügner, hallte es in seinem Kopf wider. Er war schon viel schlimmeres genannt worden. Doch aus ihrem Mund tat es besonders weh. Für einen kurzen Moment hatte er alles gehabt. Und nun alles wieder verloren. Sein Neuanfang war in greifbarer Nähe gewesen, nur um dann direkt in seinen Händen zu explodieren. Genau wie die Lampe auf der Kommode im Flur, die gegen die Wand auf der anderen Seite der Wohnung flog.
Er hatte die Kommode bereits mit beiden Händen umfasst, als sein Verstand für einen Moment die Oberhand gewann. Er musste hier raus. Ansonsten würde nicht nur seine Wohnung, sondern auch das ganze Haus leiden.
Zum zweiten Mal in kürzester Zeit, legte er die Strecke zur Residenz zurück. Dieses Mal im Sprint. 49 Minuten, neue Bestzeit. Keine Chance für die zerreißenden Gedanken, sich einen Weg zurück in seinen Kopf zu bahnen. Doch das änderte sich schnell, als er den Schießstand erreichte.
Er hatte bereits fünf Magazine durch das Sturmgewehr gelassen, als Steve auf den Platz stürmte. «Bucky?!»
Seine Waffe war leer, er hatte keinen Schuss mehr zur Hand. Warf er halt die Waffe gegen die Zielscheibe.
Steve hatte seine Arme gepackt und auf den Rücken gedreht, bevor sie am anderen Ende der Halle auf dem Boden aufschlug. «Buck? Bist du da?»
Er denkt, der Winter Soldier sei zurück. Besser wäre es. Ihm wären die Worte einer Zivilistin egal. Bucky riss seine Arme frei und wich zwei Schritte zurück, nickte jedoch leicht.
«Was ist los? Sprich mit mir Bucky.»
Er schüttelte den Kopf. «Ich will nicht drüber reden. Ich will einfach—»
«Wut rauslassen?» Steve wartete seine Antwort nicht ab. Er zog ihn mit in die Trainingshalle zum Boxring. «Dann lass raus.»
Das ließ Bucky sich nicht zwei Mal sagen.
Er hatte sämtliches Gefühl für Zeit verloren, als sein Körper schließlich nachgab und er im Ring auf die Knie sank. Steve folgte kurz darauf, auch er schien komplett ausgepowert. Und dennoch waren Buckys Gedanken kein bisschen ruhiger. Sie hämmerten gegen seinen Schädel, rasend, wild, unbändig. Er sehnte sich nach Ruhe. Doch der Wirbelwind, der seinen Kopf in den vergangenen Wochen immer mal wieder leergefegt hatte, war aus seinem Leben—und vielleicht sogar aus der Stadt—verschwunden.
Ein lautes Knallen ließ ihn hochschrecken. Die Eingangstür war mit voller Wucht zugestoßen worden. Und vor dem Ring stand eine furchteinflößende braunhaarige Frau mit verschränkten Armen.
«Raus, alle raus hier! James, Therapiestunde, jetzt sofort!»
Bucky war gar nicht aufgefallen, dass Sam, Tony, Vision und Wanda sich irgendwann in den Trainingsraum geschlichen hatten. Er sah nur noch ihre Rücken, als sie den Raum verließen, dicht gefolgt von Steve, der ihm noch einen letzten Blick zuwarf.
«Du hast unsere Session verpasst», warf Dr. Raynor ihm vor und er seufzte. Jemand der in seinem Gehirn herum stocherte war das Letzte, was er gerade brauchte.
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich vor dem Ring hin, während Bucky sich langsam aufrappelte. «Gut, dann fangen wir doch mal damit an, wieso ich einen Anruf erhalte, dass mein Patient, der einfach mal so AWOL gegangen ist, hier in der Residenz staatliches Eigentum zerstört. Was ist los?»
«Ni—»
Sie schnitt ihm das Wort ab, bevor er überhaupt aussprechen konnte. «Die Wahrheit.»
Bucky seufzte und vergrub den Kopf in seinen Händen. «Offenbar hat die Deprogrammierung wirklich funktioniert. Die Triggerwörter funktionieren nicht mehr.»
«Du bist frei. Ist das nicht, was du wolltest?»
«Frei das zu tun, was die da oben von mir verlangen.»
«Frei, deinem Land zu dienen.»
Er lachte herzlos auf.
Dr. Raynor zog eine Augenbraue hoch. «Wenn nicht das hier, was willst du dann?»
«Ruhe. Ich— Ich dachte, ich hätte die Chance auf etwas Normalität... Und dann—» Er brach ab.
«Und dann?»
«Hab ich's versaut. Große Überraschung.»
«Was lässt dich glauben, dass die Chance verloren ist?»
Sie ist weg.
«James?»
Sie hasst mich.
«Ich weiß es einfach, okay!»
Sie sah von ihrem Notizblock auf und legte den Stift nieder. «Das hier hat nichts mit den Triggerwörtern zu tun.»
Bucky regte sich nicht.
«Erzähl mir von dieser Normalität, die du dir wünschst.»
Mit der Therapeutin zu reden, half nicht wirklich seinen Kopf zur Ruhe kommen zu lassen. Aber immerhin war die Wut verflogen, als sie ihn endlich in Ruhe ließ.
Natasha wartete in der Umkleide auf ihn. «Es gibt eine neue Mission. Können wir auf dich zählen?»
«Wo ist Steve?»
«Vertraulich. Mach dich bereit Soldat, irgendetwas sagt mir, dass es einen Kampf geben wird.» Natürlich. Es gab immer einen neuen Kampf.
Die Mission klang simpel: Suchen und Extrahieren. Und trotzdem entpuppte sie sich als kompletter Reinfall. Mehrere Kisten mit Sprengstoff und Langstreckenraketen waren von einer S.H.I.E.L.D.-Basis in Ohio verschwunden. Sie spürten die Diebe in einem Warenhaus auf. Doch trotz verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, eingeschränkter Kommunikation und keinerlei Überwachung vom Hauptsitz aus, wussten die Diebe genau, dass sie kamen. Es waren Redwings neuen Sprengstoffsensoren zu verdanken, dass sie der Lagerhalle entkommen konnten, bevor diese in die Luft flog. Neujahrsfeuerwerk der anderen Art.
Erneut fand Bucky sich auf der empfangenden Seite von Furys Wutausbruch wieder. Wenigstens war er dieses Mal nicht allein.
«Drei Missionen, drei Mal sind geheime Informationen nach Außen gelangt. Und was haben diese drei Missionen gemeinsam? Nichts. Außer euch beiden!»
Sam verschränkte seine Arme. Doch Buckys Interesse galt dem Anzugträger, der bisher still am Fenster gestanden hatte. Nun trat er zu Fury an den Schreibtisch heran. «Der Sicherheitsrat ist besorgt... Sie werden beide unter Hausarrest gestellt, bis wir Klarheit haben.»
Er war ein groß-gewachsener grauhaariger Mann mit einem auffälligen Schnauzer. Bucky erkannte ihn. Als sie ihn vor einem halben Jahr aus dem Eis geholt hatten, war er auch dabei gewesen. Nur an seinen Namen konnte Bucky sich nicht mehr erinnern. Wahrscheinlich waren sie gar nie vorgestellt worden. Aber auch ohne dieses Wissen, war es deutlich, dass er gerade die Entscheidungsgewalt hatte.
«Sir», begann Sam, doch Fury winkte ab bevor er weiter protestieren konnte. «Ihr verlasst dieses Gebäude erst wieder, wenn jedes letzte Gramm Sprengstoff zurück in unserem Besitz ist. Keine Diskussion.»
Im ersten Moment war Bucky schon beinahe dankbar dafür gewesen, nicht zurück in die Wohnung zu müssen. In das Haus, wo alles an Freya erinnerte. Doch nach 48 Stunden in der Zelle, die sie ein 'Zimmer' nannten, waren seine Gedanken wieder so laut, dass er sich am liebsten den Schädel gespalten hätte, um sie endlich rauszulassen. Doch sämtliche scharfen Gegenstände waren natürlich auf wundersame Weise aus dem Raum verschwunden, bevor er ihn betreten hatte. Und so blieb nur das, was ihm durch die letzten zwei Jahre geholfen hatte: Aussperren. Sämtliche Gedanken und Emotionen abblocken. Auf ein einziges Ziel fokussieren. Ein einziges Wort. Weihnachten.
***
Zu Hause und von ihrer Familie umgeben zu sein, half Freya den initialen Schock zu verkraften. Aber das Chaos, welches James in ihrem Kopf und Herz angerichtet hatte, ließ sich nicht so schnell auflösen. Ihrer Mutter entging natürlich auch nicht, dass etwas auf ihr Gemüt drückte. Schon am zweiten Abend stand sie nach dem Abendessen in der Tür zu ihrem Zimmer und sah sie besorgt an. «Liebes?»
Freya sah von ihrem Platz auf dem Bett auf. «Ja?»
«Irgendetwas bedrückt dich, ich spüre das. Möchtest du darüber reden?»
Sie schüttelte den Kopf. Dann platzte es dennoch aus ihr heraus. «Ich habe jemanden kennengelernt.»
Ihre Mutter kam zu ihr hinüber und nahm sie sanft in den Arm. «Und es hat nicht funktioniert?»
«Nein... Ich weiß nicht.» Nach und nach erzählte sie ihrer Mutter die ganze Geschichte. All ihre Bedenken und Ängste. Und ihre Mutter hörte einfach zu, hielt sie fest. Tröstete sie. Es tat gut.
«Ach meine Kleine», flüsterte sie, als Freya nichts Weiteres zu sagen hatte. «Erinnerst du dich noch an die ganze O'Riley Geschichte?»
Freya nickte leicht. Es war die erste Geschichte gewesen, die sie für ihr Studium verfolgt hatte. Es war ein ziemlich großer Prozess im Bundesstaat Louisiana gewesen. Ein Angestellter einer Nahrungsmittelfabrik hatte Lebensmittel mit Gift versetzt. 23 Leute waren mit schweren Vergiftungen ins Krankenhaus eingeliefert worden, eine Person starb. Der Angestellte, Neil O'Riley, erhängte sich ein paar Tage später in seiner Zelle im Gefängnis. All ihre Studienkolleginnen hatten Zeugen, Opfer und Richter interviewt. Nur sie hatte an die Tür von O'Rileys Witwe geklopft.
«Dein Vater und ich hatten keinerlei Verständnis dafür, dass du mit der Witwe eines solchen Mannes sprechen wolltest. Doch du hast darauf bestanden, dass du nicht dieselbe Geschichte erzählen wolltest, wie all die anderen. Du wolltest den Personen, die nie zuvor eine Chance bekommen hatten, eine Stimme geben. Denkst du nicht, dass in dieser ganzen Geschichte, die du mir gerade erzählt hast, eine Stimme fehlt?»
Freya dachte für einen Moment nach. Die Medien hatten eine klare Position und diese war eindeutig gegen ihn gerichtet. Einzige Ausnahme dazu waren die Artikel, die seinen langjährigen Freund Steve Rogers oder einige andere Mitglieder der Avengers interviewten. Doch von ihm selbst, hatte sie noch kein einziges Wort gelesen oder gehört. Zumindest nicht zu der ganzen Sache.
«James.»
Ihre Mutter lächelte. «Das ist mein Mädchen. Wenn jemand die Wahrheit herausfinden und verkraften kann, dann du.»
«Danke Mama.»
«Ach, wofür sind Mütter da?»
Noch am Silvesterabend warf Freya sich in die Arbeit. Wenn sie James die richtigen Fragen stellen wollte, musste sie zuerst wissen, welche längst beantwortet waren. Doch die Berichte widersprachen sich weitgehend und es war nicht immer einfach Fakt von Fiktion zu unterscheiden. Die ältesten Artikel, die sie gefunden hatten, sprachen von Sergeant James B. Barnes, einem Scharfschützen, Kriegsgefangenen und Helden, der für sein Vaterland sein Leben niederlegte. Neuere Berichte bezeichneten ihn als Verrückten, Gefährdung für die Zivilbevölkerung, Nazi-Kampfaschine und Terrorbomber. Die Aktuellsten dagegen berichteten vom Avengers-Prozess, seiner 10-monatigen Haft und einer «einzigartigen Möglichkeit für die Verteidigung unseres Landes».
Einem war sich Freya jedoch sicher, als sie schließlich im Flugzeug zurück nach New York saß: Der Sergeant James Barnes, der in 1943 für sein Land in den Krieg zog, war ein guter Mann gewesen. Der Winter Soldier dagegen war definitiv kein guter Mensch. Sie mochte sich nicht vorstellen, welche schrecklichen Umstände einem Menschen widerfahren mussten, um diesen kalten Albtraum zu erschaffen. Den Spekulationen darüber, schenkte sie allerdings wenig Aufmerksamkeit. Das war eine Geschichte, die sie nur von ihm persönlich oder gar nicht erst hören wollte. Eine Frage dazu stand auf ihrer Liste. Allerdings relativ weit unten. Die Wichtigste dagegen, hatte sie fett gedruckt. Was für eine Art Mensch ist James Barnes heute?
Diese Frage, konnte ihr nur eine Person beantworten. Und ihr Herz schlug Freya bis zum Hals, als sie an seiner Tür klingelte.
***
Bucky hatte keine Kraft gehabt irgendetwas zu tun, seit er zurück in seiner Wohnung war. Die Untersuchungen liefen weiter, doch er vertraute nicht darauf, dass S.H.I.E.L.D. etwas finden würden. Nicht eine Organisation, in der Hydra für Jahrzehnte zu neuer Stärke herangewachsen war, ohne dass es jemand bemerkte.
Er hatte aufgehört die Stunden zu zählen, in denen er benommen auf seinem Schlafplatz am Boden des Wohnzimmers gelegen und Löcher in die Decke gestarrt hatte, während im Hintergrund der Fernseher lief. Sogar Steve ließ ihn dieses Mal in Ruhe. Oder vielleicht hatten ihm die Anzugträger oder Direktor Fury auch einfach sämtlichen Kontakt verboten. So oder so war es ihm recht. Einen Aufmunterungsversuch konnte er gerade echt nicht—
Als ob seine Gedanken es heraufbeschwört hatten, klingelte es in diesem Moment an der Tür. Erst wollte er sich gar nicht die Mühe machen, aufzustehen. Doch als dann von draußen eine vertraute Stimme unerwartet seinen Namen rief, war er innerhalb eines Sekundenbruchteils auf den Beinen.
«James, lass mich rein! Ich weiß, dass du da bist.»
Zum zweiten Mal in kurzer Zeit riss er beinahe seine Tür aus den Angeln. Tatsächlich, da stand sie. Inklusive müder Augen, roten Haaren und Schultertasche. Sein Wirbelwind war zurückgekehrt und er schien weniger wütend zu wehen als bei ihrem letzten Aufeinandertreffen. Ein gutes Zeichen?
Bucky ließ sie eintreten und durchquerte dann schnell das Wohnzimmer, um ein Fenster zu öffnen. Nach fünf Tagen Abwesenheit und nicht ganz 24 Stunden seit seiner Rückkehr, roch es in der Wohnung nicht wirklich gut.
Freyas Augen ruhten für einen Moment auf seiner Prothese, die unter seinem Tanktop komplett sichtbar war. Dann sah sie ihn jedoch direkt an. «Ich habe dich gegoogelt. Und ich habe Fragen.»
Er nickte leicht. Unsicher, was er zu erwarten hatte.
Freya reichte das offenbar aus, denn sie ging an ihm vorbei zum Sofa und breitete sowohl ihren Laptop als auch einen Notizblock auf dem Couchtisch aus. Das Ganze kam ihm ziemlich schräg vor, doch Bucky wusste auch, dass der Grat zwischen 'Ich will dich nie mehr sehen' und 'Ich kann weiterhin im selben Haus leben' momentan gefährlich schmal war. Und so zog er sich einfach still einen Stuhl heran und setzte sich in gutem Abstand zu ihr hin. Er wollte sie ja nicht gleich wieder mit unangebrachter Nähe vertreiben.
«Ich habe eine Menge gelesen. Berichte von einem Kriegshelden, einer kopflosen Tötungsmaschine, einem Wahnsinnigen und einem Opfer seiner Umstände. Was daran stimmt oder nicht, ist für mich erst einmal irrelevant. Was ich allerdings wissen will—muss— ist, was du heute für ein Mensch bist. Wer bist du? Sollte ich mich gerade um mein Leben fürchten oder auf eine nette Kaffeerunde einstellen?» Ihr Kugelschreiber klickte und sie sah ihn erwartungsvoll an. Doch Bucky hatte keine Ahnung, was er auf diese Frage antworten sollte.
«I-ich weiß es nicht», gab er zu und strich sich mit einer Hand die wilden Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Das versuche ich gerade selbst immer noch herauszufinden.» Er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass das nicht gut genug war.
«Tötest du immer noch Menschen?»
«Nur, wenn sie mich zuerst zu töten versuchen.»
«Und das kommt vor?»
Er seufzte. «Öfters als mir lieb ist.»
Sie kritzelte etwas auf ihren Block. Die Furche zwischen ihren Brauen deutete darauf hin, dass dies die falsche Antwort gewesen war. Sie erinnerte ihn gerade ziemlich stark an Dr. Raynor. Ein Umstand, der ihm missfiel.
«Ist ja nicht so als ob ich eine Wahl hätte», versuchte er sich zu erklären.
Das Kratzen des Stiftes verstummte.
«Es war entweder weiterkämpfen oder in einer Zelle versauern. Und ich konnte einfach nicht länger eingesperrt sein. Es hat mich wahnsinnig gemacht.»
«Dann hat der Winter Soldier also einfach das Lager gewechselt? Macht es noch lange nicht in Ordnung.»
«Den Winter Soldier gibt's nicht mehr.»
Das ließ sie endlich von ihrem Notizbuch aufsehen. «Einfach so?»
«Es gab... Codewörter. Zehn Begriffe, die ihn—mich—aktiviert haben. Sie funktionieren nicht mehr.»
«70 Jahre kein Problem und dann einfach von heute auf morgen funktionieren sie nicht mehr? Und das glaubst du?»
«Ich weiß es. Wir haben es getestet.»
«Getestet?»
Bucky erhob sich von seinem Stuhl. Er konnte nicht länger ruhig sitzen. «Vor einer Woche. Steve hat die Worte vorgelesen... Es ist nichts passiert.»
«Wie kann das sein?»
Gute Frage. «Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern. Alles was ich weiß, ist, dass ich in Wakanda war und sie einen Weg gefunden haben, den Einfluss der... Organisation zu entfernen.»
«Der Winter Soldier ist also weg. Und was bleibt dann übrig?»
Er sah aus dem Fenster. Seine Augen folgten einer einzelnen Schneeflocke auf ihrem Weg nach unten in den Innenhof. «Eine Menge Erinnerungen.»
Der Holzboden knarrte und dann schob sich plötzlich ihre rote Mähne in sein Sichtfeld. Bucky sah zu ihr hinunter. Die grünen Augen waren nicht länger wütend, sondern eher mitleidig. Beinahe verständnisvoll. «Bekommst du Hilfe?»
«Gerichtlich verordnete Therapie, einmal die Woche.»
«Und wie läuft es?»
Er zuckte mit den Schultern. «Keine Ahnung. Sie stellt mir eine Menge Fragen.»
«Und beantwortest du diese?»
«Manchmal.» Er wandte seinen Blick wieder ab und machte einen Schritt zurück.
«Dann solltest du vielleicht damit anfangen.» Freya drehte sich von ihm weg und begann ihre Sachen einzupacken.
Wohin gehst du?, wollte er fragen. Doch die Angst vor der Antwort schnürte ihm den Hals zu. So stand ereinfach wortlos daneben und schaute zu, wie sie ihre Tasche schulterte und ohne weitere Umschweife aus seiner Wohnung verschwand.
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