KAPITEL 17: Erkenntnis
«Freya?»
Ungehalten schossen ihr die Tränen in die Augen. Doch zum ersten Mal seit über sechs Jahren nicht, weil sie glaubte, dass die unglaubliche Trauer und Einsamkeit sie erdrücken würde. «D-du erinnerst dich?»
Mit Schrecken beobachtete sie, wie er zu taumeln begann. Sofort umfasste sie mit beiden Händen seinen Arm, um ihn zu stützen. Doch bevor sie sich versah, spürte sie seinen anderen Arm um sich und wurde gegen seine Brust gedrückt. Er roch immer noch gleich, nach seinem Sandelholzshampoo, Schweiß und dem Leder, dass er trug.
Sie schluchzte.
Er vergrub sein Gesicht in ihren nassen Haaren.
Sie war sich nicht sicher, ob die Tropfen in ihrem Nacken Regen oder Tränen waren. Doch das war auch egal, denn alles was zählte, war das, was er immer wieder leise vor sich hin flüsterte.
«Es tut mir so leid, dass ich dich vergessen habe.»
Sie wollte ihn nie wieder loslassen. Doch die Realität war, dass sie immer noch im Eingangsbereich der Schutzunterkunft waren und sich links und rechts von ihnen ständig Menschen ins Trockene drängten. Daher drückte sie schließlich schweren Herzens mit der Hand leicht gegen seine Brust und er ließ sie los. Zumindest beinahe, seine rechte Hand umfasste ihre Finger und machte nicht den Eindruck, als ob sie diese bald wieder loslassen würde.
Vorsichtig zog sie ihn daran etwas zur Seite, zu der Wand. «Woran erinnerst du dich?»
Seine Augen sprangen wild hin und her, als ob er gerade ganz irgendwo anders war. «Ich hab' dir den Christbaumanhänger geschenkt.»
«Als du mich abgeholt hast, um an das Weihnachtsessen zu gehen. Erinnerst du dich?»
Er nickte leicht. «Mr. T.?»
«Ich habe meinem Christbaum einen Namen gegeben. Du fandest es lächerlich.»
«Wieso ein Nudelholz?», fragte er dann und Freyas Herz blieb für einen Moment stehen.
«Du weißt es nicht mehr?»
Sein Gesicht verhärtete sich. Er schüttelte den Kopf.
«Wir hatten zusammen Plätzchen gebacken. Pfefferkuchenmänner. Wir haben sie mit buntem Zuckerguss verziert. Du hast bestimmt die Hälfte zerbrochen.»
«Wir haben Churros gegessen.»
«Nicht an diesem Abend. Dass war etwas später, am Food Festival», erklärte Freya. «Du hast mit fast all den Verkäufern in ihren Landessprachen gesprochen. Mindestens drei der jüngeren Damen wollten dir danach ihre Handynummern geben.»
Seine Augen beruhigten sich etwas und fixierten sich auf ihr. «Ich hab' sie nicht genommen.»
«Nein, du hast sie sehr höflich abgelehnt.»
«Weil ich— weil ich Gefühle für dich hatte.»
Freya lächelte und drückte sanft seine Hand. «Ja, hattest du. Obwohl wir zu der Zeit versuchten, einfach Freunde zu sein.»
«Was ist dann passiert?»
«Ich hab' meinen Job verloren, war betrunken und bin bei dir eingezogen.»
Er nickte zögerlich. «Du hast darauf bestanden, dass ich eine Campingmatte kaufe.»
«Daran erinnerst du dich?»
«Und daran, dass du an meiner Seite sein wolltest.»
Freya biss sich auf die Unterlippe. Sie erinnerte sich nur zu gut daran. Ein Versprechen, dass sie gebrochen hatte. «Es tut mir leid, James. Wenn's nur um mich gegangen wäre, wäre ich geblieben. Aber ich musste auch an Finn denken.»
«Finn... Ist er...?»
«Ja. Er ist dein Sohn.»
Wieder begann James leicht zu schwanken. Dieses Mal konnte er sich aber and er Wand festhalten. «I-ich habe einen— Er hat mich gefragt, ob ich sein Papa sei...»
Freya konnte ihm ansehen, dass er mit den Tränen kämpfte und legte ihre Arme einfach wortlos wieder um seine Taille.
«Ich habe 'Nein' gesagt.»
«Du hast es nicht gewusst James, mach dir keine Vorwürfe.»
«Ich—» Er verstummte plötzlich und hielt sich einen Finger gegen das Ohr. Freya wollte schon nachfragen, als sie darunter einen kleinen schwarzen Knopf erkannte.
«Der Deich ist gebrochen», sagte er. «Sie werden alle Hilfe brauchen, die sie bekommen können.»
Sie nickte leicht. «Pass auf dich auf.»
«Werde ich. Ich habe ja schließlich eine Menge, dass hier auf mich wartet.» Er drückte ihre Hand noch einmal sanft, ehe er sie losließ und in der Menge verschwand. Freya ließ sich erschöpft gegen die Wand sinken. Die letzte Stunde war einfach zu viel gewesen. Aber ihr Herz hatte sich schon seit langem nicht mehr so leicht angefühlt.
Sie fand Finn und ihre Mutter in der Nähe des Buffets, an der einige Helfer heiße Getränke verteilten. Finns Kopf war auf die Tischplatte gebettet und er schlief tief und fest.
«Heiße Schokolade mit Sahne. Funktioniert immer.» Ihre Mutter lächelte und schob ihr die Tasse zu, die sie in ihren Händen gehalten hatte.
Freya nahm einen Schluck, stellte sie dann aber schnell wieder ab. «Ich hoffe, Finn hat die ohne Rum bekommen.»
«Natürlich, dafür mit Marshmallows.»
Sie drückte ihm einen Kuss auf den Kopf. «Kein Wunder, schläft er.»
«Das vorhin, das war...»
«James. Ich glaube er erinnert sich. Zumindest an einen Teil.»
«Wo ist er jetzt?»
«Beim Deich. Sie brauchten seine Hilfe.»
«Kommt er zurück?»
«Ich hoffe es...» Sie schmunzelte leicht. «Finn hat gewusst, dass der Sturm uns seinen Vater zurückbringen will. Ich habe keine Ahnung wie, aber er hat es gewusst.»
Freyas Handy begann zu vibrieren.
«Anne», erklärte sie schnell und ging dann ein paar Schritte vom Tisch weg. «Hi?»
«Freya! Ich habe gerade in den Nachrichten gesehen, was bei euch los ist. Geht's euch gut?»
«Ja, danke. Wir sind sicher, Finn und ich. Meine Mutter ist auch hier.»
Sie konnte hören, wie ihre mittlerweile engste Freundin am anderen Ende der Leitung aufatmete. Anne war ihr nachgereist, nachdem Freya Hals über Kopf aus New York verschwand. Sie hatte ihr schließlich die Wahrheit erzählt. Die ganze Wahrheit. Und Anne hatte einfach zugehört.
«Egal was kommt, ich bin für dich da, wenn du mich brauchst», hatte sie am Ende gesagt. Freya hatte gelächelt und ihre Hand genommen. «Dieses Kind wird eine Patentante brauchen. Und ich könnte mir niemanden Besseres dafür vorstellen.»
«Oh Gott, danke. Ich hab' mir schreckliche Sorgen um euch gemacht... Ähm, ich weiß jetzt nicht, wie ich das sagen soll, aber ich habe noch etwas anderes gelesen...»
«Ich weiß», unterbrach Freya sie. «James ist hier. Wir haben gesprochen.»
«Was?! Ihr habt—? Er erinnert sich?»
«Zu früh, um in Jubel auszubrechen, Anne. Aber ja, er scheint sich zumindest an einen Teil zu erinnern.»
«Erzähl mir alles.»
***
«Wie ist die Lage?» Bucky rannte erneut durch die verlassenen Straßen, dieses Mal jedoch von der Tatsache angetrieben, dass er nicht einfach irgendwelchen Menschen helfen konnte. Jetzt ging es darum, Freya zu beschützen. Seinen Sohn zu beschützen.
«Triff mich am unteren Deich», sagte Sam durch über ihre Kommunikation. «Der Obere ist durchgebrochen, doch noch hält der Zweite. Der Druck nimmt aber rapide zu, wenn wir nicht schnell einen Weg finden, das Wasser wegzuleiten, werden mehrere Stadtteile gleich meterweise unter Wasser stehen.»
«Auf dem Weg.»
«Zwei Minuten», kam nun auch Steves Stimme durch den Ohrstöpsel.
«Ich hab' das Problem am Abfluss gefunden», meldete sich Tony. «Der Fluss hat einen halben Wald mitgenommen. Die Äste verstopfen die Abflusskanäle.»
«Cap, Bucky, ihr seid am nächsten dran. Wir treffen euch am Fluss, sobald wir können. Natasha out.»
Bucky beschleunigte nochmals. Er konnte das Rauschen des Wassers schon hören. Er und Steve trafen beinahe gleichzeitig ein. Tony hatte untertrieben, das Wasser wurde am östlichen Abfluss des nicht nur von Ästen, sondern von ausgewachsenen Bäumen zurückgehalten.
Er zögerte keinen Moment und sprang an der Seite des Dammes hoch. Seine Metallhand grub sich in den Beton. Er rutschte ein paar Handbreiten nach unten, doch dann saß der Griff. Mit der Rechten griff er sich den nächsten Baum und begann daran zu reißen.
«Buck, Vorsicht. Wenn die Bäume nachgeben, reißt dich das Wasser mit», rief Steve von unten. Sein Schild flog an Buckys Kopf vorbei und schlug eine Kerbe in das Holz, bevor es abprallte. Seine Warnung hätte ihm nicht gleichgültiger sein können. Er hatte das Supersoldatenserum. Finn und Freya nur ein paar Meter Beton.
Der Baum gab nach und sprang aus der Lücke. Doch ein nächster Stamm nahm sofort seinen Platz ein. Es fühlte sich aussichtslos ein. Und trotzdem konnte er nicht aufgeben. Zu viel stand auf dem Spiel.
Mit einem Zischen flog etwas über seinen Kopf. Bucky glaubte erst, es wäre wieder Steves Schild gewesen. Doch das bläuliche Licht und die irritierende Stimme in seinem Ohr, kündeten jemand anderen an.
«Aus dem Weg Cyborg, Red Wing und ich übernehmen das.»
Bucky warf einen Blick zu Sam hinüber, dann stieß er sich von der Wand ab und kam neben Steve auf dem Gras auf.
«Ihr solltet vielleicht etwas Abstand halten», warnte Sam dann noch. Sie setzten sich in Bewegung.
Bucky konnte aus dem Augenwinkel sehen, wie sich drei Raketen aus der kleinen roten Drohne lösten und in dem Wirrwarr aus Blättern und Ästen verschwanden. Einen bangen Moment lang passierte nichts. Dann gab es eine Explosion und einen ohrenbetäubenden Knall, als das Wasser durch die Barrikade brach und sich mit lautem Tosen in das Flussbeet ergoss. Und es kam mit rasender Geschwindigkeit näher.
«Renn!» Steve hechtete voraus und Bucky folgte ihm dicht auf den Fersen. Der Boden gab unter ihren übermenschlich starken Schritten nach. Schlussendlich rettete sie ein beherzter Sprung auf das nächste Haus.
«Das war knapp», lachte Steve keuchend.
«Zu knapp.»
«Wir haben's geschafft. Das ist alles was zählt. Gute Arbeit Sam!»
Bucky nahm seinen Ohrstöpsel raus und atmete einmal tief durch. Auch Steve zog seinen Helm vom Kopf und packte sei Schild weg.
«Hast du den Jungen zu Freya zurückbringen können?»
«Ja... Ich— Warte mal, woher weißt du wie sie heißt?» Bucky sah zu seinem Freund hinüber. Sein geschocktes Gesicht sprach Bände.
«Du hast von ihr gewusst?»
«Wir sind Freunde Buck. Du magst vielleicht etwas zurückhaltender sein als früher, aber so etwas würdest du nie ewig vor mir verheimlichen.»
«Wieso hast du mir nichts gesagt?»
«Du hast dir nur schon wegen Sam riesige Vorwürfe gemacht. Ich wusste nicht, ob du's verkraften könntest. Außerdem ging es ja nicht länger nur um dich und sie, sondern auch um—»
«Du wusstest von Finn?!» Buckys linke Hand schloss sich um Steves Hals und er zog diesen näher zu sich. «Du wusstest, dass ich einen Sohn habe, und hast ihn mir sechs Jahre lang verheimlicht?!»
Steve wehrte sich nicht. Und die Tatsache, dass er es nicht tat, war in Buckys Augen ein unumstößliches Schuldeingeständnis. «Du verdammter Dreckskerl!» Ohne zu zögern, schleuderte er ihn vom Dach und direkt in das nächste Auto. «Wie kannst du nach all dem noch behaupten, dass wir Freunde sind?»
«Wir wollten dich schützen.»
«Wir?!» Bucky sprang vom Haus nach unten und verpasste Steve bei der Landung direkt einen Schlag ins Kinn. «Wer hat sonst noch davon gewusst?!»
«Natasha und Sam.» Er fing seine Faust ab. «Ich verstehe, dass du sauer bist Bucky. Aber das nächste Mal schlage ich zurück.»
«Versuchs.» Bucky drückte seine Faust zur Seite und somit Steves Arm aus dem Weg. Er hatte gerade mit seiner Rechten ausgeholt, als sich plötzlich ein Seil darum wand und er nach hinten gerissen wurde.
«Mann, bist du wahnsinnig?!» Sam kam wenige Meter von ihnen auf dem Boden auf.
Bucky befreite seine Hand aus dem Stahlseil und warf das Nächste was er zu greifen bekam, nach ihm. Ein Stück Gartenzaun.
«Du willst uns nicht beide bekämpfen, Bucky.» Steve hatte seine Hände hochgenommen, doch sein Schild hing nun wieder an seinem rechten Arm.
«Du hast keine Ahnung, was ich gerade alles will.» Bucky hatte das Gefühl, dass die unbändige Wut in seinem Bauch ihn von innen heraus verbrennen würde. Sie hatten ihn verraten, hintergangen, angelogen. Die seltenen Träume, die ihm jedes Mal ein kleines Stück Frieden brachten, waren nie Träume gewesen. Nur Fantasien, die sein Kopf aus den wenigen Fragmenten von d er Zeit mit Freya, an die er sich erinnerte, bildete. Er hätte das alles haben können. Er hätte sie haben können. Er hätte seinen Sohn aufwachsen sehen können. Er hatte sechs Jahre lang eine Familie, von der er keine Erinnerungen hatte.
Die blinde Wut trieb ihn an, als er sich wieder auf Steve stürzte. Ein hässliches Quietschen durchschnitt die Nacht, als er seine Metallhand mit dem Schild abwehrte. Doch Buckys Rechte folgte sogleich, tauchte unter dem Schild hindurch und traf den Captain voll in den Magen. Steve wurde zurückgeworfen, flog gegen die Hauswand des nächsten Gebäudes.
Auch Bucky flog kurz darauf durch die Luft. Sam hatte sich mit voller Wucht gegen ihn geworfen und die Schubkraft seiner Flügel erlaubte ihm sogar, den Supersoldaten gegen das nächste Auto zu werfen. Doch Bucky war schnell wieder auf den Füssen. Und dieses Mal bekam er einen Flügel zu fassen. Er stemmte sich gegen Sam und begann daran zu reißen.
«Barnes, hör auf oder ich blas dir den Kopf weg!» Er hielt inne. Von irgendwo hinter sich, konnte er das leise Summen von Tonys Anzug hören. Und aus dem Augenwinkel war das leuchtende Ding, das ihm schon einmal den Arm weggeschmort hatte, direkt auf ihn gerichtet. «Ich sag's nicht nochmal. Gib auf.»
Bucky sah zu Steve hinüber. Sein sonst makelloses Gesicht war ziemlich geschwollen. Er hielt sich die Seite. Er hasste ihn. Und trotzdem, war es immer noch Steve. Er hatte ihn als Winter Soldier nicht töten können. Und auch jetzt würde er es nicht übers Herz bringen. Außerdem hatte er ja nun auch an Finn zu denken.
So ließ er Sam los und nahm die Hände hoch.
Auch Tony nahm seine Hand wieder runter. «Was zur Hölle ist in euch gefahren?»
Bucky wollte mit all dem nichts mehr zu tun haben. «Frag ihn. Und richte Fury aus, dass ich kündige.» Mit diesen Worten drehte er sich ab und schob das Auto, welches ihm den Weg zurück zur Schutzunterkunft versperrte, aus dem weg.
«Barnes! Du kannst nicht einfach so gehen. Dieser Arm ist Staatseigentum.»
«Ach ja?» Er drehte sich zurück. Seine rechte Hand fand ohne Probleme die Stelle, an der Shuri für den Notfall einen versteckten Knopf vorgesehen hatte. Ohne zu zögern, schlug er mit voller Kraft dagegen. Der Vibranium-Arm fiel mit einem blechernen Knall zu Boden. Bucky hob ihn auf und warf Tony die Prothese vor die Füße.
«Stellt ihn in ein Museum, wenn's euch glücklichmacht. Ich will nichts mehr damit zu haben.»
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