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Kapitel 12
Wie von ganz weit weg nehme ich wahr, dass Ben verstummt ist. Und dass vermutlich jeder darauf wartet, dass ich etwas sage.
,, Ich habe Bauchschmerzen." Der Satz kommt mir so leicht von den Lippen, als hätte ich ihn einstudiert. Vermutlich, weil es stimmt. Frau Huller sieht mich entsetzt an und schlägt sich die Hand vor den Mund. Ob sie das spielt oder erst meint, kann ich nicht sagen. Das kann man bei dieser Frau nie. Meine Mitschüler sehen mich stirnrunzelnd an, manche schnauben abschätzig.
Ich will, dass alle gut von mir denken und das wir eine Eins bekommen. Dass mich die Lehrerin gehen lässt.
Die Gesichter in der Klasse werden plötzlich mitleidig und das ist mein Signal. Auf der Stelle schnappe ich mir meinen Rucksack und eile aus dem Raum, während Ben sich setzt und Frau Huller den Unterricht wieder aufnimmt.
Als die Tür geschlossen ist, atme ich einmal lang aus. Eigentlich liebe ich es, in den Gängen zu sein, wenn alle anderen Klassen Unterricht haben. Es ist so ruhig und man hört nur seine eigenen Schritte. Doch nicht heute.
Ich beginne, ungewöhnlich zügig durch die Flure zu gehen, als ich hinter mir eine Stimme höre.
,, Maya!" Für eine Sekunde überlege ich, ob ich anhalten soll.
Mein Atem geht ungewöhnlich schnell, wie als wäre ich lange Zeit gelaufen. Ich gehe schneller, ohne mich umzudrehen. Doch die Schritte, die nicht von mir kommen, verstummen nicht und hallen auf unheimliche Art und Weise von den Wänden wieder. Langsam beginne ich zu joggen. Dann zu sprinten. ,, Maya!" Er ist mir näher, als ich dachte. Ich ignoriere das Seitenstechen und laufe schneller. Ich will hier weg.
Aber dann ist da plötzlich die schwere Tür, die aus der Schule führt. Und in ebendiesem Moment, als ich sie aufreißen möchte, spüre ich eine Hand an meiner Schulter. Ich wirbele herum und sehe Bens Gesicht vor mir, nah an meinem. Sein Atem ist heiß vom Laufen und ich rieche ihn ungewöhnlich stark. Lakritz. Er riecht nach Lakritz. Entschlossen mache ich einen Schritt zurück. Bens Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Verwirrung, Enttäuschung und Sorge. ,, Was soll das?", fragt er.
,, Du solltest zurück ins Klassenzimmer gehen." Zum Glück hört sich meine Stimme fest und selbstsicher an. Selbstsicherer als ich mich fühle.
,, Maya!" Er ist wütend. Gut so.
Wenn ich etwas kann, dann ist es streiten. ,, Hör zu, Ben. Ich weiß nicht, was das soll. Das alles. Alles an dir ist merkwürdig! Deine Familie, deine Katze, selbst das, was du sagst, ist seltsam! Ich mache dir keine Vorwürfe. Aber wir gehören nicht zusammen."
Ben hat mich die ganze Zeit, in der ich gesprochen habe, aufmerksam angesehen, doch nun faucht er mich an: ,, Schön. Wenn du es so willst. Das ist weder mein Problem, noch meine Schuld. Wenn du mit meiner Familie nicht klarkommst, dann mach doch, was du willst. Ich habe mir das nicht ausgesucht!"
,, Nicht ausgesucht?" Wütend funkele ich ihn an. ,, Du kannst nichts dafür, dass du mit ihnen verwand bist! Mit Josh. Aber du sitzt immer nur daneben! Egal, was passiert! Du bist feige!" Ich weiß nicht, was dieses Wort für ihn bedeutet. Aber ich weiß, dass er es hasst.
Bens Gesichtsausdruck verändert sich im Bruchteil von einer Sekunde. Von unheimlicher Wut zu Entsetzen. Abscheu.
,, Du kannst so hässlich sein, Maya", flüstert er. Ganz leise. Aber es tut mehr weh, als hätte er es geschriehen. Er wendet sich um und geht. ,, Du weißt doch nicht einmal, was Stärke überhaupt bedeutet." Aber das sagt er so leise, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich es mir nicht eingebildet habe.
Mein Vater arbeitet noch einige Stunden, weshalb ich auch nach einem Besuch in der Schwimmhalle, noch nicht zuhause sein muss. Aber wenn er ankommt, sollte ich auch dort sein. So kann ich der Frage ausweichen, warum ich mich mit so grauenvollen Bauchschmerzen in der Stadt herumtreibe, ohne ihn zu manipulieren.
Und für einen winzigen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, ein Eis zu essen. Doch beinahe im selben Augenblick verwerfe ich die Idee auch schon wieder. Erst streite ich mich mit Ben, dann schwimme ich und dann esse ich ein Eis - dieses Mal allein. Welch Ironie.
Doch trotzdem habe ich Hunger und beschließe so, einen Döner zu essen. Der Laden liegt etwas außerhalb und von außen ist er über und über mit Graffiti bedeckt. Scheinbar von den Leuten besprüht, die das noch nicht so lange machen; die Schriftzüge sind nicht wirklich künstlerisch. Von innen ist es jedoch gemütlich. Es gibt nicht viele Tische und Stühle. Normalerweise ist das ziemlich ätzend, es kommen häufig Schüler nach dem Unterricht hierher und man muss ewig anstehen, und dann bekommt man meistens sowieso keinen Platz.
Doch so nicht heute. Nur ein Tisch ist besetzt, an dem sich ein Pärchen leise unterhält, und nur ein älterer Herr steht vor mir an.
Nachdem ich meine Bestellung aufgegeben, und einen vegetarischen Döner bekommen habe, setze ich mich an einen winzigen Tisch und beginne zu essen. Es ist ungewohnt ruhig, man hört nur, wie sich die Stange dreht, auf der das Fleisch aufgespießt ist, die Unterhaltung des Pärchens, und aus einem Radio summt ein mir unbekannter Sänger ein noch unbekannteres Lied. Ein andernmal hätte ich es hier vielleicht schön gefunden, doch heute fühle ich mich nur noch mies. Ich fühle mich schrecklich fies. Ich wusste, dass ich Ben so verletzten kann, dass ihm das weh tut. Und trotzdem habe ich es gesagt. Nein, gerade deshalb habe ich es gesagt. Resigniert stopfe ich den Döner in mich hinein. Ich kann wohl nicht mit Menschen umgehen, die nicht das machen, was ich von ihnen verlange. Das ist erbärmlich.
Ein Kichern holt mich zurück aus meinen Gedanken. Die junge Frau vom Nachbartisch prustet in ihr Wasserglas. Es ist Lisa. Neben ihr sitzt Rick, der ebenfalls verhalten lacht. Na toll. Hoffentlich hat er mich nicht erkannt. Nichts wie weg hier.
Ich weiß, dieses Kapitel ist nicht so spannend geworden, aber bevor das große Geheimnis gelüftet wird, passiert eben nicht so viel.
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