Kapitel 3
Als sie die Doppelhaushälfte endlich sah, brannten ihre Augen, und das Gleiche galt für ihre Kehle. Dieses Mal jedoch vor lauter Freude und weil sie so unsagbar erleichtert war. Er würde da sein, seine Arme um sie schlingen und sie festhalten. Vielleicht würde er auch weinen, und sie würde ihm versichern, dass nun alles in Ordnung sei. Sie würden einander einfach nur festhalten. Und dann würde er etwas für sie kochen und sie die ganze Zeit über glücklich und voller Liebe ansehen.
Sie konnte diesen Traum abrufen, weil sie ihn schon so viele Male geträumt hatte. Fast jedem Tag hatte sie ihn wie einen Film in ihrem Kopf abgespielt, oft mit leichten Abweichungen, aber im Wesentlichen war es immer gleich abgelaufen.
Der Fahrer hielt mitten auf der Straße an. In ihrem Kopfkino hatte es nie ein Taxi gegeben, weshalb sie etwas unschlüssig war, was sie als Nächstes tun sollte. Sie stieg aus dem Wagen und überlegte, dem Taxifahrer vorzuschlagen, ihr eine Rechnung zu schicken, aber er fuhr bereits mit quietschenden Reifen davon. Kaum war er verschwunden, hatte sie ihn auch schon vergessen.
Sie stand mitten auf der Straße und ließ das Haus auf sich wirken, dessen dunkler Umriss sich inmitten einer Reihe von anderen Häusern vor ihr abzeichnete.
Zuhause.
Es war seltsam, den vertrauten Fußweg und die vertrauten Treppenstufen hinaufzugehen. An der Tür angekommen, griff sie zuerst nach dem Türknauf, überlegte es sich dann aber anders und klopfte. Als die Tür sich öffnete, beleuchteten Kerzenflammen die Gesichter eines Mannes und einer Frau.
Jetzt erinnerte sie sich auch wieder an seinen Namen.
Marc.
Sie wartete darauf, dass er sie wiedererkennen und die Szene sich auf genau die Art und Weise abspielen würde, wie sie sich immer in ihrem Kopf abgespielt hatte. Aber Marc sagte überhaupt nichts. Er stand einfach nur da und sah sie fragend an.
»Ich bin's«, sagte sie schließlich, so als ob das alles erklären würde. Und eigentlich hätte es auch alles erklären sollen.
Im Freien klang ihre Stimme sogar noch fremder. Als ob ihre Worte in der kalten Luft einfach davontreiben könnten. Genauso musste sich ein Außerirdischer fühlen, wenn er zum ersten Mam auf die Erde kam.
Marc starrte sie gefühlte Minuten lang an. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Nacheinander spiegelte es mehrere Emotionen wider und mündete schließlich in Schock.
Befangen berührte sie eine lange Strähne ihres nassen Haars und fragte sich zum ersten Mal seit Monaten, wie sie wohl gerade aussah.
»Hannah?« Seine Stimme klang ungläubig.
Hannah war der Name, mit dem die Menschen sie früher gerufen hatten. Sie hatte es selbst ganz vergessen. Wie dumm. So etwas einfach zu vergessen.
Ihr Name hing in der Luft und brachte ein Flüstern der Tage mit sich, an die sie sich in den letzten drei Jahren verzweifelt geklammert hatte. Tage, die ihr die Kraft gegeben hatten weiterzumachen. Tage voller Sonnenlicht und Cafés und gemeinsamen Milchkaffees am Sonntagmorgen nach zerwühlter Bettwäsche und langem Liebemachen.
»Ich bin wieder zu Hause«, sagte sie, wie um etwas zu erklären, das eigentlich gar keiner Erklärung bedürfen sollte. Sie war weg gewesen, und jetzt war sie wieder zurück.
Er warf einen flüchtigen Blick auf die Frau, die neben ihm stand.
Über Wochen und Monate hinweg hatte sie gelernt, den Mann in dem Keller wie ein offenes Buch zu lesen. Da seine Stippvisiten die einzige Abwechslung in ihrem Leben gewesen waren, fiel es ihr irgendwann leicht, Signale von jedem Wimpernschlag, jedem Atemzug, jedem Drehen seines Kopfes aufzunehmen. Und jetzt, genau in diesem Augenblick, las sie den Mann, der vor ihr stand. Nicht nur seinen Gesichtsausdruck, sondern noch mehr - etwas, das tief in seinem Inneren lag. Und sie begriff, dass der Film, den sie so lange in ihrem Kopf wieder und wieder abgespielt hatte, nicht wahr werden würde.
Die beiden sind zusammen.
Diese Frau schlief vermutlich in Hannahs Bett und trug vielleicht sogar ihre Kleidung.
»Du hast ja nicht lange gebraucht, um eine Neue zu finden.« Genau das sagte Hannah. Wenn sie auf das hier vorbereitet gewesen wäre, dann hätte sie sich vielleicht etwas Besseres einfallen lassen.
Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und zwang schließlich die Worte förmlich heraus. »Es waren drei Jahre...«
Sie schloss die Augen und reiste in Gedanken zurück in ihr Verlies. Sie hatte gedacht, dass sie vielleicht Monate dort gewesen wäre, aber doch nicht Jahre. Er log. Er hatte eine neue Freundin, deshalb versuchte er jetzt seinen Treuebruch zu vertuschen. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. Die Bewegung war abgehackt, das Wort klang zittrig. Am liebsten hätte sie die Augen vor der Welt verschlossen, aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass er recht hatte und sie sich irrte.
Seine Augen glänzten traurig im Kerzenlicht. Tränen.
»Doch.«
Er war immer ein guter Mann gewesen, ein einfühlsamer Mann. »Wie lange hast du auf mich gewartet?«
Sie sah, dass er sich schämte. Er schien einem Zusammenbruch nahe zu sein. Sie wollte das nicht sehen.
»Ein Jahr«, antwortete er schließlich.
Weil sie nicht mehr mit seiner Traurigkeit umgehen konnte, suchte sie nach Worten, um ihn zu trösten. »Das ist okay.« Dann fügte sie hinzu: »Ich will sowieso nie wieder von einem Mann angefasst werden.«
Die Bedeutung hinter ihren Worten, erschütterte ihn noch mehr. »Es tut mir so unsagbar leid, Hannah.«
Nun sah sie noch etwas mehr als nur Traurigkeit in seinen Augen. Der Mann, der sie einst voller Liebe angesehen hatte, betrachtete sie nun mitleidig und angeekelt.
Mit dem Mitleid wäre sie vielleicht noch fertig geworden, aber nicht mit dem Ekel.
»Ich habe heute Nacht einen Menschen getötet«, sagte sie. »Ich habe jemanden umgebracht, um zu dir zurückkehren zu können.« Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und rannte davon.
Ihr ehemaliger Freund mit dem Namen, an den sie sich eben erst erinnert hatte, rief etwas hinter ihr her, aber sie lief einfach weiter. Zurück in die Dunkelheit. Und Gott mochte ihr beistehen, aber für ein paar kurze Augenblicke dachte sie tatsächlich darüber nach, zu dem Keller zurückzukehren - zu dem Verlies und zu dem toten Mann, bei dem sie sich fast schon wünschte, ihn nie erschossen zu haben.
Es gab nur einen einzigen anderen Ort, an den sie gehen konnte. Nur einen einzigen anderen Ort, der sich fast so anfühlte wie ein Zuhause.
Als wäre es in ihrem Kopf einprogrammiert, bog sie um die Ecke und eilte Richtung Innenstadt - zur Polizeiwache Köln-Mülheim.
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