Kapitel 2
Schnell schlüpfte sie an ihm vorbei, stolperte vorwärts, bis sie das Geländer und die hölzernen Treppenstufen erreichte, die nach oben führten.
Tage, Wochen und Monate hatte sie damit verbracht, ganz genau hinzuhören, was über ihrem Kopf vor sich ging - wie er über den Boden schlurfte, das Holster abnahm und die Pistole auf dem Tisch ablegte.
Mit ausgestreckten Armen stolperte sie nun blindlings die Treppe hoch. In der Küche angekommen, suchten ihre Finger fieberhaft den Tisch ab und fanden schließlich das, wonach sie gesucht hatten.
Sie ließ den Elektroschocker fallen, öffnete das Holster und zog die Waffe heraus. Was Gewicht und Form betraf, fühlte sie sich an wie eine Walther P99 DAO - eine Standardausgabe für Polizisten in Nordrhein-Westfalen.
Hinter sich hörte sie Schritte die Treppe heraufstampfen.
Es blieb keine Zeit, um das Magazin zu überprüfen. Sie stabilisierte die Pistole mit beiden Händen, horchte ganz genau auf das Geräusch der Bewegung, das von unten kam, hörte sein krebsartiges Schlurfen und seine stoßweise Atmung und spürte förmlich seinen Zorn, der immer näher kam.
Dann drückte sie ab.
Ein Mal.
Zwei Mal.
Drei Mal.
Jeder Schuss erzeugte einen Funken in der Dunkelheit, während heiße, leere Patronenhülsen über ihre nackten Füße hüpften und ihr der Geruch von Schießpulver in die Nase stieg.
Der Mann ließ ein Grunzen ertönen, dann stürzte er die Treppe hinunter.
Jetzt kann ich nach Hause gehen.
Sie drehte sich um, tastete sich langsam zur Hintertür vor und öffnete sie.
Winter.
Mit Winter hatte sie nicht gerechnet. Die Kälte raubte ihr schier den Atem.
Ihr Kopf schrie: »Lauf weg!« Aber stattdessen zwang sie sich, wieder zurück in die Küche zu gehen. An der Garderobe neben der Tür fand sie eine schwere Winterjacke. Diese streifte sie sich über ihren nackten Körper, zog den Reißverschluss von den Knien hoch bis zum Hals, kramte eine Mütze aus einer der tiefen Taschen und zog diese über ihr nasses Haar.
Alles roch nach dem Mann, und plötzlich wurde sie von einer unerwarteten Welle der Reue überspült. War es richtig gewesen, ihn zu töten?
Sie schob ihre Füße in ein Paar Stiefel, die zu groß für sie waren, stopfte die Pistole in die Jackentasche und rannte los, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Nach Hause.
Nach Hause zu einem anderen Mann - einem Mann, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte. Aber an sein Gesicht. Sie erinnerte sich an sein Gesicht und an seine Berührung und an sein Lächeln.
Die Häuser, an denen sie vorüberlief, waren dunkel. Und selbst die Straßenlaternen waren aus. Keine Sterne. Kein Mond. Stromausfall - ein Begriff aus ihrem alten Leben.
Um die Stiefel nicht zu verlieren, musste sie mit den Füßen über den Boden schlurfen. Sie scherte sich nicht darum, dass ihre Beine von der Kälte schon ganz taub waren. Es fühlte sich sogar irgendwie gut an.
Scheinwerfer strahlten die Schneewehen auf der Straße an, als sich ein Fahrzeug von hinten näherte. Sie zog die Jacke noch enger um sich und stapfte weiter.
Als das Fahrzeug an der Straßenkreuzung stoppte, sah sie, dass es sich um ein Taxi handelte.
Sie rannte los, holte das Auto ein, öffnete die hintere Tür und schlüpfte ins Wageninnere.
Und dann überschlugen sich ihre Gedanken. Denn es gab durchaus Dinge, die sie von ihrem alten Leben noch wusste. Sie wusste, dass sie die Polizei verständigen sollte, und überlegte, ob sie sich dem Mann hinter dem Steuer anvertrauen und ihm von ihrer Flucht erzählen sollte. Zugleich aber wehrte sie sich innerlich dagegen, mit einem anderen Menschen in Kontakt zu treten, ihm irgendetwas über sich zu erzählen. Sie wollte einfach nur nach Hause.
Der Fahrer ließ einen Würgelaut des Ekels ertönen, blickte sie über die Schulter hinweg an und sagte: »Oh, nein! Raus! Raus hier! Ich nehme keine Obdachlosen mit!«
Aber sie hatte nicht vor, wieder aus diesem Taxi auszusteigen. Auf keinen Fall.
»Ich habe ein Zuhause. Und da möchte ich jetzt hin.«
Ihre Stimme klang im Inneren des Taxis irgendwie seltsam. So anders als im Keller, in ihrem Verlies, wenn sie Selbstgespräche geführt hatte. Dort hatte ihre Stimme hohl geklungen. Hier im Auto konnte sie fast schon sehen, wie die Schallwellen von der Innenverkleidung des Taxis abprallten, und sie konnte ein Echo hören, das ihrer Stimme - auch wenn sie krächzend und heiser klang - Resonanz verlieh. Die Kammer war schalldicht gewesen, und hier im Taxi schien nichts mehr ihre Sinne zu dämpfen. Es war unerträglich, wirklich, wenn sie darüber nachdachte. Wie konnten die Leute das nur aushalten? Die Schwingungen der Welt. Die Gerüche. Die Art, wie sich der Sitz an der Rückseite ihrer Beine anfühlte - klebrig, weil ihn schon zu viele Menschen angefasst hatten. Der gelbe Wunderbaum, der vom Rückspiegel herunterhing, ließ ihre Lungen brennen und ihre Augen tränen.
Sie zog die Pistole aus der Jackentasche und richtete sie auf den Mann. »Fahren Sie.« Sie nannte ihm die Adresse, die ihr ohne Weiteres einfiel, so als ob sie sie erst gestern jemandem genannt hätte.
Er fuhr los.
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