9. Kapitel
Raffaello di Angelis
Entgeistert starren Raffaello und seine alten Freunde auf den Laptop, der aufgeklappt auf dem Tisch in der kleinen Küche steht. Ein Räuspern reißt sie aus ihren Gedanken und erstaunt drehen sie sich der Tür zu.
In dessen Rahmen steht Eadlyn und blickt mehr als verwirrt in die Runde. Aber sie müssen auch alle einen seltsamen Anblick geben, an einem Tisch sitzend ohne sich gegenseitig an die Kehle zu gehen. Eadlyn braucht ihre Frage gar nicht zu stellen, da Nikolai ihr den Bildschirm des Laptops zudreht, auf dem ein riesiges J prangt.
„Was ist passiert?" Das leichte Zittern in ihrer Stimme ist nicht zu überhören, doch diesmal gibt selbst Alexandra kein Kommentar ab. Dafür sind sie immer noch alle viel zu mitgenommen, von dem, was gerade hier passiert ist.
„Die Sendung von damals ist noch einmal abgespielt worden. Wir haben keine Ahnung, was er damit erreichen will, deswegen haben wir dich einfach mal gerufen", erklärt Dante ihr, der als erster seine Sprache wiederfindet, aber auch genauso blass wie die anderen ist.
„Aber was bringt ihm das? Die ganze Welt weiß doch schon über meine Todsünde Bescheid", widerspricht sie lautstark. Darauf weiß auch keiner der anderen eine Antwort. Aber es braucht auch niemand zu antworten, da als nächstes eine andere Stimme ertönt.
„Drei Jahre ist diese Aufnahme nun her, die ihr gerade gehört habt. Nun ist die große Eadlyn Cherleton wieder nach England zurückgekehrt und ich finde, das sollten wir feiern." Die Stimme, die aus dem Laptop kommt, klingt in keiner Weise menschlich, allerdings wird sie auch sehr wahrscheinlich von irgendeinem Gerät verzerrt.
Augenblicklich richtet jeder einzelne von ihnen seinen Blick wieder auf den Laptop auf dem Tisch und langsam macht sich in Raffaello ein schlechtes Gefühl breit. Niemanden von ihnen ist klar, was sie nun als nächstes erwartet, allerdings müssen sie auch nicht lange auf die Antwort warten.
„Aus diesem Grund wollte ich ihnen die nächsten paar Geheimnisse einer Familie vorstellen, die mitten unter uns lebt und zu der wir aufsehen." Bei den Worten des Unbekannten verstärkt sich das seltsame Gefühl von Raffaello nur noch mehr und die anderen werden, sofern es möglich ist, noch bleicher, als sie jetzt schon sind. Doch niemand wagt es, die Vermutung auszusprechen, aus Angst, sie könne wahr werden.
„Die Familie, von der ich nun spreche, gilt nicht nur als die christlichste der Welt und ist überall für ihre Nächstenliebe bekannt, nein, sie sind auch für das Essen verantwortlich, das tagtäglich auf unsere Tische kommt. Alberto di Angelis kommt wie die meisten seiner Vorfahren aus Spanien, doch nicht nur dort hat man seinen Namen schon gehört."
Ein Schauer läuft Raffaello über den Rücken und langsam wird ihm klar, dass alles verloren ist. Was nun kommt, braucht er eigentlich nicht mehr zu wissen. Ganz sicher ist nur, dass es garantiert nichts Gutes sein wird.
„Alberto di Angelis ist vor allem auch für sein Leben bekannt, dass dem der Mönche sehr nahe kommt. Er arbeitet sehr viel, hält sich an alle Gebote der Bibel, isst nur mäßig und auch keine aufwendigen Speisen und ist zudem auch noch seit vielen Jahren Witwer. Zuvor haben er und seine Frau, die Mutter seines Sohnes Raffaello, getrennt gelebt, sogar auf unterschiedlichen Kontinenten. Doch vor ungefähr zwölf Jahren starb seine Frau unerwartet bei einem Autounfall. Dabei ist einzig und allein bekannt, dass sie nicht an den Folgen des Unfalls gestorben ist."
An dieser Stelle legt der Unbekannte eine Pause ein, wahrscheinlich damit die Personen zu der möglichen Schlussfolgerung kommen, dass Alberto sie vielleicht umgebracht hat. Auf Raffaellos Armen breitet sich eine Gänsehaut auf und die Angst befällt ihn. Aber er kann es nicht wissen, oder? Nein, kann er nicht, versucht er, sich zu beruhigen.
„Sind sie auch bei der Möglichkeit gelandet, dass Alberto seine Frau umgebracht hat? Ich nämlich auch. Und diese Vermutung wird nur noch unterstützt durch sein kleines Geheimnis. Nämlich nicht nur, dass er in seinem Büro, in dem er immer alleine ist, wenn er arbeitet, eine Küche mit feinstem Fisch, Fleisch und anderen Leckereien besitzt, sondern auch seit Jahren nicht mehr allein geschlafen hat.
Immer wieder für einige Wochen ist es immer eine hübsche Frau nach der anderen gewesen, die mit ihm das Bett geteilt hat. Wenn er ihr dann mal überdrüssig geworden ist, ist jede einzelne Frau auf geheimnisvolle Art und Weise verstorben, sodass es natürlich auch keine Zeugen geben kann. Ich muss sagen, im Thema Geheimniskrämerei ziehe ich meinen Hut vor ihnen, Signor di Angelis." Wieder legt er eine Pause ein, wahrscheinlich damit seine Hörer diese Informationen erst einmal verdauen können.
In diesem Moment weiß Raffaello nicht, ob er sich freuen soll oder nicht. Zwar weiß dieser Unbekannte nicht die ganze Wahrheit, aber sein Vater wird nun toben und auch dieses Geheimnis allein würde ihrem Ruf schon genug schaden. Doch wie damals hebt er sich die beste Überraschung für den Schluss auf.
„Aber ich würde gerne noch einmal auf die versteckte Küche zurückkommen. Einen Grund, warum diese besteht, gibt es nämlich auch noch. Auch einer seiner Vorfahren schloss vor Jahrhunderten einen Deal für Macht, Reichtum und Stärke.
Durch diesen Deal erhielt die Familie di Angelis aber auch die Todsünde der Völlerei, das übermäßige Essen und Trinken, obwohl es nicht mehr nötig ist. Dabei hungern am anderen Ende der Welt Kinder zu Tode. Ich hoffe, sie alle merken nun, dass Alberto di Angelis bei weitem nicht der Heilige ist, den alle in ihm sehen.
Zum Schluss habe ich jetzt nur noch die Bitte an sie: Wenn sie beim nächsten Mal Alberto oder einem anderen seiner Verwandten über den Weg laufen, denken sie daran, sie sind die Sünde und sie werden dafür bezahlen. Und wenn nicht, werden wir dafür sorgen." Zum Schluss wird er immer lauter, als er die Menschen dazu aufruft, sich zu wehren und sich über das Schicksal zu heben.
Doch nur wenige Sekunden später gibt der Laptop nur noch ein Rauschen von sich und als auch noch dieses verschwindet, wird der Bildschirm auch wieder schwarz. Dabei bleiben keine Hinweise darauf, was genau hier gerade passiert ist. Würde nun jemand anderes den Raum betreten, der von all dem nichts mitbekommen hat, so würde er sieben Jugendliche an einem Tisch sitzen sehen, einer bleicher als der andere.
„Ich habe mir das gerade nicht nur eingebildet, oder?", fragt Dante schließlich in die Runde und starrt dabei immer noch den Laptop an. Wortlos schüttelt Eadlyn den Kopf, während Raffaello selber immer noch wie erstarrt ist. Nur am Rande merkt er, wie seine Hände zu zittern anfangen, als ihm wirklich bewusst wird, was gerade passiert ist. Die ganze Menschheit weiß über die Todsünde seiner Familie Bescheid. Es ist genauso passiert, wie damals bei Eadlyn.
„Raffaello, alles in Ordnung?", erkundigt Eadlyn sich mit einem Mal und klingt dabei mehr als besorgt. Raffaello bringt dabei nur ein leichtes Nicken zustande, zu mehr nicht fähig.
„Ich denke schon", fügt er schließlich nach einigen Augenblicken hinzu und hebt erst jetzt seinen Blick. Alle sehen ihn an, wobei manche Blicke viel eindeutiger zu deuten sind, als andere.
Alexandra ist die erste, die langsam wieder an Farbe zurückgewinnt und ohne auch nur ein Wort zu sagen, steht sie auf und stürmt aus dem Raum. Gut, wirklich mehr kann man von ihr vielleicht auch nicht erwarten, zumindest nicht, dass sie sich jetzt um ihn kümmert und die ganze Zeit an seiner Seite bleibt.
„Es tut mir Leid, Raffaello, aber ich muss jetzt auch los, ich habe einen wichtigen Termin", meint kurz danach auch Avaline, nach einem kurzen Blick auf die Uhr, ehe sie auch verschwindet. Sie hat wenigstens noch den Anstand, sich zu verabschieden.
„Irgendwie wird das schon wieder", versucht nun auch Charlotte, ihm Mut zu machen, allerdings hört es sich so an, als hätte sie den Satz schon Stunden vorher vor dem Spiegel geübt. Außerdem ist ihm klar, dass nichts mehr wird. Diese Ausstrahlung gerade eben, bedeutet nicht nur den Tod seines Ansehens, sondern auch vielleicht das Ende des Familienbetriebes.
Charlotte zögert noch einige Sekunden, ehe sie auch den Raum verlässt und Raffaello somit mit Eadlyn, Dante und Nikolai zurücklässt. Während Eadlyn ihm nur mitleidige Blicke zu wirft, schließlich wird sie am besten verstehen können, wie er sich gerade fühlt, starrt Nikolai nur auf den Laptop und Dante in der Gegend herum. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, steht Nikolai auf, schnappt sich dabei seinen Laptop und verschwindet auch, so schnell es geht.
Betrübt blickt Raffaello ihm nach, schließlich sind sie einmal vor langer Zeit so etwas wie beste Freunde gewesen. Dante, Nikolai und er sind fast so gut wie unzertrennlich gewesen, doch nun kann er ihm noch nicht einmal sein Mitleid aussprechen? Raffaello weiß nicht im Geringsten, was er von dem Ganzen halten soll.
Vielleicht hat sein Vater doch Recht gehabt, dass ein Gortschakow sich für nichts anderes als sich selbst interessiert, so wie er es früher immer gepredigt hat, wenn Raffaello wieder Zeit mit Nikolai verbracht hat. Nie hätte Raffaello es damals für möglich gehalten, dass zwischen Nikolai und ihn die Fehde ihrer Eltern kommen könnte, die schon seit Jahrhunderten besteht.
„Wir werden dafür sorgen, dass dieser J, wer auch immer er ist, das bekommt, was er verdient. Ich werde nun sofort zu Sir Audley gehen und ihn fragen, ob er eine Ahnung hat, wer das ist", eröffnet Dante ihm auf einmal und klingt dabei mehr als nur entschlossen. Raffaello schenkt ihm ein schwaches Lächeln, ehe Dante auch den Raum verlässt. Vielleicht könnte man wirklich irgendwie herausfinden, wer dieser Unbekannte ist.
Langsam formt sich in Raffellos Kopf ein Plan und schon wenige Sekunden später ist er voll und ganz davon überzeugt, denjenige, der für all das verantwortlich ist, dafür büßen zu lassen. Sein Blick wandert zu Eadlyn. Wie es jetzt wohl für sie ist, die Stimme desjenigen noch einmal gehört zu haben, der für die größte Veränderung in ihrem Leben verantwortlich ist?
Damals hat es ihr Leben zerstört, doch Raffaello ist fest davon überzeugt, sich nicht auch davon unterkriegen zu lassen. Es muss einen Weg geben, sich gegen all das zu wehren. Er ist ganz sicher nicht dazu bereit, so leicht sein Ansehen und seine Macht herzugeben, nur weil irgendjemand Richter spielen. Er ballt seine Hand zu einer Faust und seine Entschlossenheit nimmt immer mehr zu. Es muss einen Weg geben, überlegt er krampfhaft.
Gedanklich geht er noch einmal jeden einzelnen Satz des Unbekannten durch, bis er an genau einer Stelle hängen bleibt. Er hat Recht damit, dass meine Familie so viel Ansehen hat, weil wir uns als besonders christlich darstellen. Was wäre, wenn ich den Menschen nun beweise, wie christlich ich bin? Was wäre, wenn sie sehen könnten, wie ich mich vor allem gegen meine Todsünde wehre?
Mit einem Mal ist ihm klar, was er tun muss, um wahrscheinlich einen Teil seines Ansehens zu behalten. Ein anderer Weg würde ihm nun auch nicht einfallen.
„Ich werde nicht so leicht aufgeben", entfährt ihm leise und überrascht sieht Eadlyn zu ihm hinüber.
„Ach ja? Und was willst du tun?" Ihre Stimme klingt trotzig, doch ihm ist vollkommen klar, warum sie zweifelt. Sie hat das Ganze schon durchgemacht und ihr ist wahrscheinlich kein Weg eingefallen, es abzuwenden.
„Ich werde Buße tun, in dem ich faste", eröffnet er ihr und mittlerweile ist er vollkommen davon überzeugt, dass es das Richtige ist. Bei seinen Worten sieht Eadlyn ihn überrascht an, doch nach einigen Sekunden spiegelt sich die Erkenntnis auf ihrem Gesicht wieder. „Und danach werde ich diesen Typen finden und mich für alles rächen. Er soll nicht länger damit durchkommen können. Möchtest du das nicht auch? Dich rächen für alles, was wegen ihm passiert ist?" Fragend blickt er sie an und ihr Blick wandert durch den Raum.
Es überrascht ihn ehrlicherweise, dass sie immer noch darübernachdenken muss. Nach allem, was er von ihrem jetzigen Leben mitbekommen hat, ist es alles andere als leicht und hätte er das durchgemacht, was sie momentan durchmacht, wäre er wahrscheinlich schon längst von Hass verfressen.
„Es gibt nur eine Person, die für all das verantwortlich ist, doch er ist es ganz sicher nicht", meint sie schließlich und verwirrt Raffaello mit ihren Worten nur noch mehr. Er versteht absolut kein Wort von dem, was sie sagt. Musste sie nicht wegen dieser Offenbarung damals aus England fliehen? Und ist nicht wegen dieser Ausstrahlung damals die Leute in das Anwesen ihrer Familie eingebrochen und haben ihre Eltern ermordet?
Gut, der Punkt ist noch nicht ganz geklärt, doch das ist die einzige Erklärung, die wirklich Sinn ergibt. Doch noch bevor Raffaello nachfragen kann, wie sie das genau meint, steht sie auf und stürmt aus dem Raum, genau wie die fünf anderen zuvor. So bleibt nur er zurück.
Da es nun auch für ihn hier nichts mehr zutun gibt, steht er auf. Aber dabei macht er sich nicht auf den Weg zu seinem Fähigkeitsunterricht, sondern zu dem Ort, an dem er seinen Plan in die Tat umsetzen kann.
Schon während er die Straßen der Stadt durchquert, wird ihm immer wieder vor Augen gehalten, was gerade passiert ist. Die Menschen machen einen Bogen um ihn, tuscheln hinter vorgehaltener Hand und zeigen immer wieder auf ihn. Doch er ist ein di Angelis und lässt sich nicht so leicht unterbringen.
Hoch erhobenen Hauptes geht er durch die Straßen und richtet seinen Blick immer nach vorne. Schließlich erreicht er sein Ziel und die Kirche erhebt sich vor ihm in die Höhe. Zwar ist diese nicht so groß, wie die Exemplare in London, aber das liegt auch nur daran, dass sie sich nur in einem kleinen Vorort befindet. Aber hätte er die Wahl, würde er immer wieder lieber zu dieser gehen.
Als er die Kirche betritt, empfängt ihn vollkommene Stille. Eine Stille, die er selbst nicht in der Schule findet. Beim Betreten bekreuzigt er sich kurz mit dem Weihwasser, ehe er seinen Weg fortsetzt. Tatsächlich scheint auch momentan niemand da zu sein, was Raffaello als sehr beruhigend empfindet.
Hier gibt es niemand, der ihn verabscheuend oder ekelnd ansieht. Schon jetzt ist ihm bewusst, was Eadlyn wohl für ein Leben führen muss, schließlich erträgt sie das alles schon seit drei Jahren, während es ihm nach nicht schon einer Stunde genug ist. Nein, so hat er es sich ganz sicher nicht vorgestellt, wie die Menschen von der Todsünde erfahren und auf sie reagieren.
Ihm wäre es sogar am liebsten gewesen, wäre es für immer ein Geheimnis geblieben. Ein Geheimnis, das die sieben Familien aneinanderbindet. Würdevoll schreitet er bis vor den Altar, wo er sich in der ersten Reihe auf den kleinen Bänken niederkniet.
Wie sein Vater es ihm schon als kleinem Jungen beigebracht hat, schließt er die Augen und faltet die Hände vor der Brust. Erst später ist ihm wirklich bewusst geworden, dass sein Vater nie wirklich christlich gewesen ist. Allerdings ist es ihm wichtig gewesen, dass Raffaello sich in der Kirche richtig zu verhalten weiß.
Für Raffaello hingegen hat das Beten sowie die Gottesdienste schon immer eine größere Bedeutung gehabt. Zwar ist ihm klar, dass Gott existiert, doch wirklich vertraut hat er noch nie auf ihn. Stattdessen war das Beten immer sein Weg zur Ruhe zu kommen. In diesen Momenten kann er alles abschalten und den Alltag vergessen. Zudem hat es schon immer geholfen, sein Gewissen zu beruhigen. So kniet er nun dort und bewegt seine Lippen zum Vaterunser.
In dieser Position verharrt er einige Minuten und würde wahrscheinlich auch noch länger so bleiben, als ihn das Knarzen der Kirchentür aus seinen Gedanken reißt. Für einen Moment erscheinen ihm die Geräusche, die in diesem Augenblick in die Kirche kommen, ohrenbetäubend und fast hat er Angst, die Menschen würden nun auch kommen und ihn für seine Sünden büßen lassen.
Doch als sich die Tür wieder schließt, wird es wieder schlagartig still, die einzigen Geräusche sind die Schritte einer einzigen Person auf dem Steinboden. Es widerstrebt Raffaello nun die Augen zu öffnen und sich dem verabscheuenden Blick dieser Person auszusetzen. Aus diesem Grund bleibt er einfach in seiner Position und hofft, sie wird wieder schnell verschwinden. Doch seine Hoffnungen werden zunichte gemacht, als er merkt, wie jemand sich neben ihn in die erste Reihe setzt, sich allerdings nicht niederkniet.
„Dein Vater sucht dich. Er ist rasend vor Wut", ertönt eine Stimme neben ihm, die Raffaello mehr als nur gut bekannt ist und erst jetzt wagt er es, die Augen zu öffnen und sich ordentlich auf die Bank zu setzen.
Der Junge, der nun neben ihm sitzt, überragt ihm auch im Sitzen um einige Zentimeter, wobei seine gelockten Haare ihn wahrscheinlich auch noch einmal größer wirken lassen. Dadurch, dass er auch noch kräftiger wirkt, scheint sein Anblick perfekt. Dabei könnte Amadeo wahrscheinlich nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun, eine Ironie, die Raffaello immer wieder zum Schmunzeln bringt.
„Natürlich ist er rasend vor Wut. Es gibt eine Person, die innerhalb nur weniger Minuten alles zerstört hat, wofür er all die Jahre gekämpft hat und dabei kann er die Person noch nicht einmal dafür bezahlen lassen, da er nicht weiß, wer es ist. Auf gewisse Weise finde ich seine Reaktion mehr als verständlich", erwidert Raffaello und richtet seinen Blick wieder auf den Altar einige Meter vor ihnen.
Amadeo nur noch weiter anzusehen, würde Erinnerungen wachrufen, die er lieber vermeiden würde. Amadeo zuckt einfach nur mit den Schultern, als hätte er von alledem keine Ahnung und wendet seinen Blick auch nach vorne. Es ist schon länger her, dass Raffaello wirklich mit Amadeo geredet hat. Meistens ist dieser im Auftrag der Kirche unterwegs, die ihm nicht nur seine Schulausbildung, sondern so gut wie alles bezahlt. Somit ist es Raffaello auch nicht sonderlich schwergefallen, über Amadeo und ihre Beziehung nachzudenken.
„Bleibst du nun ein bisschen länger hier?", erkundigt er sich, bevor er es verhindern kann. Die Frage allein würde auch kein großes Aufsehen erregen, schließlich hat er schon ein bisschen mehr Kontakt mit Amadeo, da sein Vater höchstpersönlich sich um ihn kümmert.
„Ja, mittlerweile habe ich verschiedene Gründe hierzubleiben", antwortet Amadeo ihm und wirft ihm dabei nur einen kurzen Blick zu. Sofort kommt Raffaello ins Gedächtnis, dass er noch nie einer dieser Gründe gewesen ist, damit Amadeo hierbleibt.
Noch während sie eine engere Beziehung gehabt haben, ist Amadeo immer für einige Wochen unterwegs gewesen. Nach diesen Gründen zu fragen, kann Raffaello hingegen noch gerade unterdrücken, denn das wäre wahrscheinlich wirklich nur noch seltsam. Aber das braucht er auch nicht, denn es dauert nur wenige Sekunden, bis Amadeo selber mit der Antwort herausrückt.
„Na ja, die Schule wird immer wichtiger. Und dann gibt es da noch etwas, was ich dir sagen wollte. Ich habe mittlerweile eine Freundin." Die Worte kommen erst zögernd über Amadeos Lippen, doch als sie raus sind, sieht Raffaello ihn mehr als überrascht an.
Dabei hat er selbst keine Ahnung, was ihn daran so überrascht. Amadeo ist nicht nur attraktiv, sondern auch vom Charakter so gut wie perfekt. Er ist fürsorglich, nicht zu aufdringlich und immer um das Wohl seiner Mitmenschen bemüht. Somit ist es eigentlich kein Wunder, dass er jemand gefunden hat, der ihm hoffnungslos verfallen ist.
Zumindest ist das das Einzige, was Amadeo verdienen würde. Amadeo selber ist mit der Trennung von ihm auch sehr viel besser zurecht gekommen, als Raffaello, wie man zweifellos. Während er, Raffaello, sich nicht nur abends in Kneipen betrinkt und den alten Zeiten hinterhertrauert, geht Amadeo weiter und führt sein Leben fort, wie es eigentlich jeder normale Mensch tun sollte. Also gäbe es allen Grund sich für Amadeo zu freuen, der nun endlich etwas für all das bekommt.
Aber so sehr Raffaello sich auch für ihn freuen würde, bleibt da doch dieser bittere Nachgeschmack. Dieses Gefühl, das ihm sagt, dass es alles andere als gut ist. Dabei ist ihre Beziehung nun schon zwei Jahre her und im Gegensatz zu Amadeo hat Raffaello auch schon eine Zukunft. Eine Bestimmung, ein Weg, den er gehen muss. Also, wieso sollte Amadeo nicht sein Glück bekommen, dass er viel mehr als Raffaello verdient hat? Doch egal, womit Raffaello die ganze Zeit argumentiert, er kommt immer an den Punkt, dass diese Nachricht etwas Schlechtes ist.
Vor seinem inneren Auge tauchen wieder Bilder von ihrer Beziehung auf. Niemand hat je davon gewusst, Raffaello hätte viel zu viel Angst vor der Reaktion seines Vaters gehabt. Na ja, und Amadeo ist das relativ egal gewesen. Aber auch nur bis zu dem Tag, an dem sie sich getrennt haben, denn dann hat er genau so argumentiert.
Noch immer schmerzt Raffaellos Herz, wenn er an diesen Tag zurückkommt. Wie immer haben sie sich an ihrem üblichen Treffpunkt getroffen und Amadeo hat ihm einfach so gesagt, dass er sich trennen möchte. Scheinbar konnte er es nicht mehr aushalten, sich nur im Verborgenen zu treffen. Dabei hat Raffaello ihn immer wieder gefragt, ob es für ihn in Ordnung ist, und nie schien es so gewesen zu sein, dass Amadeo gelogen hätte. Doch es wirkt so, als hätte Raffaello sich in diesem Punkt geirrt.
„Wirklich? Wie schön für dich", bringt Raffaello schließlich nach einiger Zeit hervor, um wenigstens etwas auf Amadeos Ankündigung zu erwidern. Dabei klingt er alles andere als erfreut und wagt es noch nicht einmal, Amadeo in die Augen zu sehen. Zwar widerstrebt es ihm, Amadeo von vollem Herzen zu beglückwünschen, doch nie im Leben würde er zugeben, dass er immer noch Gefühle für ihn hegt.
Gefühle, die eigentlich schon seit zwei Jahren hätten verschwunden seien sollen. Wenn er die Macht hätte, würde er ihr die Zeit auch garantiert zurückdrehen. Doch er kann Amadeo auf keinen Fall zu etwas zwingen und wenn es so ist, wie er damals behauptet hat, dass er sich von ihm getrennt hat, weil er es nicht mehr verborgen halten will, so ist Raffaello gar nicht klar, ob sie einen Kompromiss in diesem Punkt finden könnten.
Heutzutage versucht man zwar, sich im Hinblick auf homosexuelle Paare zu verbessern, doch der Tiefschlag von vor einigen Jahrhunderten sitzt immer noch sehr tief. Damals akzeptierten immer mehr Menschen homosexuelle Paare, doch als die Erzengel auftauchten und den Menschen die magischen Kräfte als Gabe brachten, nutzten einige Leute die neue Erkenntnis, dass Gott wirklich existiert zu ihren Gunsten und lenkten die Normen der Gesellschaft wieder in ihre Richtungen. Dazu gehörte leider auch der Hass gegen homosexuelle Paare. Und dieser Tiefschlag dauert noch immer bis heute an.
Somit ist Raffaello in keiner Weise klar, ob er bereit wäre, seine Beziehung zu Amadeo offen darzustellen. Er gehört zu der Familie di Angelis, einer der sieben mächtigsten Familien und diese Position bringt nicht nur einige Privilegien, sondern auch einige Einschränkungen, wie zum Beispiel, ein Vorbild der Gesellschaft zu sein.
Schon von klein auf ist es wichtig gewesen, bei so vielen Gottesdiensten wie möglich dabei zu sein, immer vorbildlich gekleidet und ein angemessenes Verhalten. Wie würde man nur reagieren, wenn Raffaello sich wirklich outen würde? Er hat nicht den geringsten Schimmer und wenn er ehrlich ist, möchte er es auch nicht ausprobieren. So wird ihm auch langsam klar, dass er und Amadeo wahrscheinlich keine Zukunft hätten.
„Ich muss jetzt aber auch gehen. Kannst du bitte meinem Vater gegenüber erzählen, dass ich in den nächsten Tag Buße, in dem ich faste, tun möchte? Er soll dies bitte öffentlich verbreiten", erzählt er Amadeo von seinem Vorhaben, der schon immer als Vermittler zwischen Vater und Sohn fungiert hat.
Die beiden haben dabei noch nie ein gutes Verhältnis gehabt, ob es an dem Streben von Raffaellos Vater nach Macht und Ansehen liegt oder daran, dass Amadeo als kleiner Junge bei seiner Mutter in Brasilien gelebt hat, ist dabei nicht ganz klar. Vielleicht kommt es aber auch beides zusammen.
„Ich richte es ihm aus, wenn ich ihn vor dir sehe. Allerdings habe ich eben aus einem Gespräch von ihm herausgehört, dass er sich nun eigentlich auf den Weg zur Akademie machen will um mit dir über das Geschehene zu sprechen", erzählt Amadeo ihm und Raffaello nickt ihm dankbar zu. Auch, wenn er nicht sonderlich erfreut darüber ist, nun schon auf seinen Vater zu treffen.
Trotzdem steht er eilig auf und verlässt nach einer kurzen Verabschiedung die Kirche, weil ihm ein Gespräch mit Amadeo und dann vielleicht noch über seine Todsünde noch unangenehmer wäre, als ein Gespräch mit seinem Vater.
Auf dem Rückweg begegnet er noch mehr Menschen auf der Straße, da die meisten nun mittlerweile Feierabend und der Hass, den die Menschen um ihn herum auf ihn haben, bekommt er nur noch mehr zu spüren. So ist er mehr als froh, als er sich in das sichere Gelände der Schule flüchten kann.
Noch mehr Zeit auf der Straße und er hätte Angst gehabt, dass ihn irgendjemand ermordet. Doch auch hier verhält man sich ihm nicht sonderlich anders gegenüber. Die meisten meiden ihn und mustern ihn abschätzig.
Als er einem Jungen über denk Weg läuft, von dem er weiß, dass dieser eigentlich zu ihm aufsieht, blickt dieser ihn nur enttäuscht an und Raffaello richtet seinen Blick eilig nach unten. Natürlich fühlen die meisten sich wahrscheinlich verraten, da sie ihr ganzes Leben lang belogen worden sind, doch Raffaello versteht trotzdem nicht, wieso sie ihn so sehr hassen. Allerdings muss er sich darüber nun auch nicht mehr viele Gedanken machen, als Sir Audley auf ihn zugeeilt kommt.
„Gut, dass ich Sie nun endlich finde. Ihr Vater ist vor einigen Minuten bei mir im Büro aufgetaucht und würde gerne mit Ihnen sprechen. Würden Sie mir bitte folgen, Sir Raffaello?" Dabei macht Sir Audley eine ausladende Handbewegung und gemeinsame machen sie sich auf den Weg zu Sir Audleys Büro.
„Sir Audley?", durchbricht Raffaello die Stille, als sie einen leeren Gang befinden, aber noch nicht das Büro erreicht haben. Er weiß, dass er nach dem Treffen wahrscheinlich keine Ruhe mehr hat, mit ihm unter vier Augen zu sprechen.
„Ja?" Überrascht bleibt Sir Audley stehen und sieht ihn an, während Raffaello es ihm gleichtut.
„Ich wollte mich nur erkundigen, ob Dante eben noch bei ihnen gewesen ist. Er wollte mit ihnen über diesen Unbekannten reden, der die Wahrheit über meine Familie und die Cherletons offenbart hat", erläutert Raffaello und sieht ihn erwartend an.
„Ja, das ist er tatsächlich. Und wahrscheinlich wollen Sie jetzt auch wissen, ob ich eine grobe Ahnung habe, wer es sein könnte, oder?" Raffaello nickt eilig, begierig eine Antwort zu bekommen.
Mittlerweile will er eigentlich nur noch, dass dieser Unbekannte bezahlt. Nicht nur, dass er sich einfach in fremde Angelegenheiten einmischt, sondern auch noch ganz dreist denkt, er würde sie alle genau kennen.
„Leider werde ich ihnen genau das Gleiche sagen wie Sir Dante. Ich habe absolut keine Ahnung. Vor drei Jahren hätte man noch denken können, er hätte nur etwas speziell gegen die Cherletons. Doch nun hat er auch die Wahrheit über ihre Familie erzählt und es lässt sich entweder vermuten, dass er nur mit ihren beiden Familien auf Kriegsfuß steht oder allgemein etwas gegen die sieben Familien hat. So oder so zumindest gibt es nicht gerade kleines Feld der Verdächtigen, da alle Familien sich über die Jahrhunderte viele, viele Feinde gemacht hat.", erzählt Sir Audley ihm ausführlich und langsam macht sich Enttäuschung in Raffaello breit.
Wenn es stimmt, was Sir Audley sagt, und dieser Unbekannte sich nun zurückzieht, weil er nur etwas gegen die Cherletons und die di Angelis hat, wäre es schier unmöglich in auffindbar zu machen.
„Aber wir sollten nun weitergehen, schließlich wollen wir ihren Vater nicht warten lassen, oder?", wechselt Sir Audley das Thema. Auch wenn Sir Audley Recht hat, sind Raffaellos Gedanken gerade überall bloß nicht bei dem Gespräch mit seinem Vater und am liebsten hätte nun noch einige Sekunden, um sich zu sammeln. Allerdings ist der restliche Weg dafür viel zu kurz, so dass sie schon nach kurzer Zeit vor der Tür von Sir Audleys Büro stehen.
„Ich nehme mal an, dass dieses Gespräch nicht für mehr Ohren, als die von Ihnen zwei bestimmt ist. Somit können Sie Ihrem Vater ausrichten, dass ich noch ein bisschen Arbeit außerhalb meines Büros erledige und in ungefähr einer halben Stunde wieder hier sein werde. Das wird Ihnen wahrscheinlich genug Zeit geben, sich auszutauschen", eröffnet Sir Audley ihm und wendet sich danach ab. Raffaello legt seine Hand auf die Türklinke und atmet noch einmal tief durch, um sich auf das Gespräch einigermaßen vorzubereiten, ehe er das Büro von Sir Audley betritt.
Dabei lässt er seinen Blick durch den Raum schweifen. Obwohl er hie schon mehr als einmal gewesen ist, findet er die Inneneinrichtung immer wieder erstaunlich. Überall entdeckt man eine neue Wunderlichkeit, die Sir Audley höchstwahrscheinlich von einer Reise in ein fernes Land mitgebracht hat.
Bisher hat sich jedes Mal etwas verändert, wenn Raffaello den Raum betreten hat und mit der Zeit ist es zu einem Spiel geworden, herauszufinden, was. Mal sind die Bücher in dem großen Eichenholzregal statt nach dem Autor nach den Titel sortiert worden und mal hat Sir Audley seine ganze Einrichtung verschoben.
Das einzige, was immer gleich geblieben ist, ist der Teller Gebäck auf seinem Schreibtisch, an dem man sich jederzeit gerne bedienen kann und die Tatsache, dass wenn man diesen Raum betritt, man sich augenblicklich wohl und geborgen fühlt. Selbst in dieser Atmosphäre fühlt Raffaello sich seinem Vater besser gewappnet, als überall sonst. Hier kennt Raffaello sich aus und auch, wenn sein Vater und Sir Audley sich schon ewig kennen, so muss es doch nicht sein, dass Sir Audley sich auf die Seite seines Vaters stellen würde.
Bei diesem Gedanken wird sein Körper mit neuem Mut und neuer Kraft erfüllt und er richtet seinen Blick auf seinen Vater. Dieser steht am anderen Ende des Raumes an der Fotowand, die Sir Audley schon ewig hat, und betrachtet einige Bilder. Raffaello hat sich auch schon öfters damit beschäftigt, sich die Bilder anzusehen, und dadurch, dass Sir Audley immer wieder neue dazuhängt, bleibt es immer ein Abenteuer, Details aus dem Leben seines Schulleiters zu erfahren.
Dabei ist Sir Audley noch nicht einmal auf jedem drauf. Auch wenn es Bilder aus seiner Kindheit mit den Eltern der sieben Familien gibt, sowie Bilder von ihm vor er vor verschiedenen Sehenswürdigkeiten steht, ist dies nur eine kleine Minderheit. Die meisten Bilder sind hier oder in einer seiner anderen Schulen entstanden. Bilder von Feiern, dem Festival der Sieben oder dem Abschlussjahrgang. Bilder von denkwürdigen Momenten. Einmal hat Raffaello Sir Audley gefragt, ob er jedes einzelne Bild blind aufzählen könne, und er hat ihm damals geantwortet, er könne sogar zu jedem Bild seine eigene Geschichte erzählen.
Das hat Raffaello schon immer an ihm bewundert. Damals hat er sich vorgenommen, auch irgendwann von sich behaupten zu können, sein Leben gelebt und auch viel erlebt zu haben, statt so wie sein Vater zu werden. Der immer nur an einem Ort gelebt hat, immer die gleiche Arbeit getan hat und recht konservativ Veränderungen gegenüber steht, also das komplette Gegenteil zu Sir Audley.
„Sir Audley hat mir gesagt, dass er noch etwas außerhalb seines Büros erledigen muss, da wir ja wahrscheinlich zu zweit miteinander sprechen wollen. Er wird in ungefähr einer halben Stunde wiederkommen", gibt Raffaello die Nachricht weiter und macht seinen Vater so auch auf sich aufmerksam.
„Schön, dass du auch endlich einmal hier bist. Hättest du nicht eigentlich gerade Unterricht gehabt? Wo hast du dich schon wieder herumgetrieben", lässt sein Vater auch die Begrüßung aus und unsicher beginnt Raffaello damit, auf seiner Unterlippe zu kauen. Aber eigentlich hätte es ihn nicht sonderlich erstaunen sollen, dass sein Vater das Gespräch direkt so beginnt, doch trotzdem verletzt es ihn auf gewisse Weise.
„Es tut mir leid. Ich bin in der Kirche gewesen. Ich würde gerne die nächsten Tage Buße tun, in dem ich faste. Ich hoffe, so den Schaden eindämmen zu können, den dieser Unbekannte erschaffen hat. Glaubst du, das könnte die Menschen zumindest ein bisschen besänftigen?" Die ganze Zeit über ist er sich seiner Sache wohl und ganz sicher gewesen, doch nun hier vor seinem Vater stehend, der an allem etwas zu meckern hat, ist noch einmal eine ganz andere Sache. Doch mit einem Mal verziehen sich die Lippen seines Vaters zu einem Lächeln und er sieht seinen Sohn zufrieden an.
„Ich muss zugeben. Endlich hast du mal eine gute Idee gehabt. So etwas hätte ich dir gar nicht zugetraut. Aber ja, ich denke, es könne helfen. Ich werde sofort noch heute Abend eine Pressemitteilung herausgeben. Nun erkennt man auch meine Gene und nicht die ganze Zeit nur die Gene deiner Mutter. Für so eine gerissene Idee wäre sie viel zu schwach gewesen. Schwach und mitfühlend. Immer wollte sie den anderen Menschen helfen. Nächstenliebe hier, Nächstenliebe da." Im nächsten Moment befindet sich Raffaellos Vater schon in einer Schimpftirade über dessen Mutter.
Raffaello schweigt hingegen und lässt seinen Blick wieder über die Bilder wandern. Diese Schimpftirade ist bei weitem nicht die erste, die er mitbekommt und bis jetzt hat er sich jedes Mal so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Während sein Vater seine Mutter schier zu verabscheuen scheint, würde Raffaello viel lieber immer noch bei ihr in Brasilien leben. Dabei ist es ihm ein Rätsel, wieso die beiden je geheiratet haben, doch bis jetzt hat er sich noch nie getraut, nachzufragen.
Damals, als er noch bei seiner Mutter gelebt hat, hat sie nie über seinen Vater gesprochen und sein Vater vermeidet es auch, über seine Mutter zu reden. Zusammen gesehen hat er die zwei sogar nie. Vielleicht ist das der Grund, warum sein Lieblingsbild an Sir Audleys Fotowand auch schon vor seiner Geburt entstanden ist.
Auf diesem liegen seine Eltern sich in den Armen und wirken ziemlich glücklich. Das Lächeln, dass Raffaellos Vater dabei auf den Lippen trägt, hat er noch nie selbst gesehen. Aber wahrscheinlich wird es für immer ein Rätsel bleiben, was früher zwischen den beiden passiert ist, weswegen sie sich schon vor Raffaellos Geburt getrennt haben und ihr Leben auf zwei verschiedenen Kontinenten verbracht haben. Während sein Vater immer noch keine Luft geholt hat, lässt Raffaello seinen Blick weiter über die Fotowand gleiten und bleibt bei seinem zweiten Lieblingsbild hängen.
Diesmal ist auch er abgebildet mit den anderen Todsünden. Zu siebt hocken sie auf einer Picknickdecke, umgeben von vielen süßen Leckereien. Es ist der Geburtstag von Eadlyns Mutter gewesen, weswegen auch jeder einzelne von ihnen ziemlich schick angezogen gewesen ist. Beim Lächeln in die Kamera entblößt Alexandra sogar eine Zahnlücke, was sie mehr als süß wirken lässt und ein Lächeln taucht auf Raffaellos Lippen auf. Damals ist alles so unbeschwert gewesen. Sie sind nicht so sehr auf die Meinung anderer fixiert gewesen und das Leben ein einziges Spiel. Gerne würde er noch einmal in diese Zeit zurückreisen.
„Raffaello, hörst du mir überhaupt zu?", reist sein Vater ihn urplötzlich aus seinen Erinnerungen und er braucht einige Augenblicke um wieder in der Realität anzukommen.
„Natürlich höre ich dir zu", erwidert er schließlich, weil es die einzig angemessene Antwort ist, obwohl sowohl ihm als auch seinem Vater mehr als klar ist, dass es gelogen ist.
„Ich weiß nicht, ob du schon davon erfahren hast, aber Amadeo hat jetzt eine Freundin", erzählt sein Vater ihm und wieder tut es Raffaello weh, diese Worte zu hören, obwohl er sie erst vor kurzer Zeit schon einmal gehört hat. Ohne sich etwas über seine Gefühle anmerken zu lassen, nickt er und hält den Blick seines Vaters stand.
„Da Amadeo nun schon so lange bei uns lebt, habe ich mich dazu entschlossen, ihn und seine Freundin demnächst zum Essen einzuladen. Natürlich ist deine Anwesenheit dabei auch erforderlich und ich fordere von dir vorbildhaftes Benehmen." Bei den Worten seines Vaters macht sich ein mulmiges Gefühl in ihm breit. Er soll zusammen mit Amadeo und seiner Freundin essen?
Eigentlich sollte sein Vater doch wissen, wie er zu Amadeo steht, schließlich hat Raffaello ihm damals kurz vor ihrer Trennung von der Beziehung erzählt. Doch scheinbar hat er es entweder vergessen oder er denkt, Raffaello wäre längst über ihn hinweg. Natürlich gäbe es noch eine dritte Variante, doch über die will Raffaello im Moment nicht nachdenken. Aber eigentlich sollte er sich nicht darüber Gedanken machen, sondern viel mehr darüber, wie er dieses Essen so schnell wie möglich überstehen, wenn nicht sogar auslassen kann.
Unter dem prüfenden Blick seines Vaters wird er immer ungeduldiger, sodass er sich schließlich wieder der Fotowand zu wendet und wenigstens so tut, als würde er die Fotos betrachten. Seine Gedanken wirbeln immer mehr umher wie ein Wirbelsturm.
„Raffaello?", reißt ihn wieder die Stimme seines Vaters heraus und ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Nein, er wird keinen Ausweg finden, wird ihm in diesem Moment klar. Sein Vater wird sich nicht mit einer halbherzigen Ausrede abspeisen lassen und wenn Alberto di Angelis etwas will, dann bekommt er es auch, komme, was wolle. Raffaello nimmt einen tiefen Atemzug, ehe er sein schönstes Lächeln aufsetzt und sich wieder seinem Vater zu wendet.
„Natürlich werde ich erscheinen. Schreib mir nur, wenn ein Termin feststeht", antwortet er ihm, als wäre es vollkommen selbstverständlich. Die Mundwinkel seines Vaters zucken nach oben und er nickt anerkennend.
„Sehr gut. Wenn du mich nun entschuldigst, ich muss mich um einige Dinge kümmern", verabschiedet er sich und nur wenige Sekunden später befindet Raffaello sich alleine in Sir Audleys Büro. Erst jetzt wird ihm bewusst, wie schnell sein Herz geschlagen hat und er wischt die schwitzigen Hände an seiner Hose ab.
„Egal, wo du dich da gerade hineingeritten hast. Irgendwie kommst du da auch schon wieder lebend raus", versucht er, sich selber Mut zu machen, ehe auch er den Raum fluchtartig verlässt.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro