13. Kapitel - 3. Teil
Charlotte Godwins
Die ganze Nacht über hat sie keinen Schlaf gefunden, da ihre Gedanken immer wieder zu dem Treffen mit ihren Eltern gewandert sind. Was mag es wohl für einen Grund geben, dass ihr Vater dieses Treffen einberuft? Selbst beim Frühstück bekommt sie vor Aufregung kaum einen Bissen hinunter.
Als sie kurz danach in die Limousine steigt, weiß sie nicht, ob sie immer nervöser werden soll oder doch ein bisschen lockerer, da es immer weniger Zeit sein wird, bis sie die Wahrheit erfährt. Schon oft hat sie nun folgende Reise mitgemacht.
Am Flughafen kurz kontrolliert werden und danach in das Privatflugzeug ihrer Familie steigen. Eigentlich ist es nichts neues für sie, trotzdem fühlt es sich an, als hätte sie es noch nie erlebt und es gibt nicht einen Moment, wo sie vollständig ruhig sein kann. Auch das Lesen im Flieger fällt ihr zunehmend schwerer, je näher sie ihrem Ziel kommt und schließlich muss sie jeden Satz viermal lesen, um ihn vollständig zu verstehen, obwohl sie das Buch eigentlich ziemlich interessiert.
Somit freut sie sich doch ein kleines Bisschen, als sie schließlich aus dem Flugzeug aussteigt und es nur noch wenige Minuten Autofahrt bis zum Anwesen ihrer Familie ist. Schließlich tritt das Gebäude, das sehr viel pompöser als die daneben ist, in ihr Blickfeld und augenblicklich hält sie den Atem an. Obwohl es schon ewig her ist, hat sich das Haus kein Stück verändert. Es strahlt immer noch mit jedem Stein den Reichtum ihrer Familie aus, dabei haben ihre Eltern nicht einen Finger Hand angelegt. Sie atmet noch einmal tief ein und aus, ehe sie die Limousine verlässt. Die wenigen Meter zur Haustüre, fühlen sich an, als würde man sie zum Galgen führen, an dem sie nun für ein Verbrechen büßen muss. Trotzdem hält sie den Kopf gerade und den Blick nach vorne gerichtet, so wie man es von ihr erwartet.
Als sie nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt ist, öffnet sich diese und der Butler ihrer Familie tritt in den Türrahmen. Wären sie nun nicht in der Öffentlichkeit und Charlotte nicht so angespannt, würde sie ihm glatt um den Hals fallen. Doch unter diesen Umständen muss er sich mit einem Lächeln und einem freudigen Zunicken begnügen, dass sie allerdings nicht verhindern kann.
„Es freut mich, sie wieder hier empfangen zu dürfen, Lady Charlotte", begrüßt er sie höflich, wie man es von ihm erwartet. Als sie die Eingangshalle betritt, lässt sie, wahrscheinlich anders als die meisten anderen Besucher, die vielen Goldverzierungen und prunkvollen Statuen kalt. Nicht einmal lässt sie ihren Blick aufmerksam durch den Raum schweifen, schließlich ist sie hier aufgewachsen und könnte den Raum selbst im Schlaf nachmalen. Aus diesem Grund dreht sie sich direkt zu dem Butler um, der in diesem Moment die Tür hinter ihr schließt.
„Wo sind meine Eltern?", erkundigt sie sich direkt. Zwar ist sie nicht sonderlich erpicht auf das Gespräch mit ihnen, doch je eher sie mit ihnen spricht, desto eher wird sie den Grund ihres Erscheinens wissen und so langsam hält sie die Unwissenheit nicht mehr aus.
„Ihre Eltern sind gerade noch am Arbeiten, haben aber in einer Viertelstunde vor, zu Mittag zu essen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Ihnen somit kurz Zeit bleibt, Ihr Zimmer zu beziehen, ehe Sie beim Mittagessen erscheinen sollen. Ich denke, die Ansprüche, die Ihr Vater an Sie stellt, brauche ich nicht noch einmal zu erläutern?" Bei seinen letzten Worten sieht er sie prüfend an und sie kann ein Lächeln nicht verhindern.
„Nein, ich habe eine sehr gute Erziehung genossen", erwidert sie und das Grinsen auf seinen Lippen zeigt ihr, dass er keine andere Antwort erwartet hat. Nun gibt sie doch der Versuchung nach und überquert die wenigen Meter zwischen ihnen, um den Butler wieder in die Arme zu schließen. „Es tut gut, sie wieder zu sehen", flüstert sie ihm noch kurz zu, ehe sie wieder zurücktritt. Tatsächlich wird ihr erst jetzt bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hat, wo sie ihn nun wiederseht.
„Ich kann das Gleiche behaupten, ich kann das Gleiche behaupten", erwidert ihr Butler und spricht den letzten Satz dabei leiser. So stehen sie noch einige Sekunden da, ehe er damit beginnt, sie auf ihr Zimmer zu scheuchen, um sich für das Mittagessen vorzubereiten.
Erst, als sie wenige Minuten später auf ihrem Zimmer ist, fertig vorbereitet und gekleidet, wird ihr bewusst, was sie jetzt gleich erwartet. Ein Gespräch mit ihren Eltern, von dem sie noch nicht einmal eine Ahnung hat, worum es gehen könnte. Ungeduldig geht sie im Raum auf und ab, um die letzten paar Minuten totzuschlagen. Dabei landet sie immer wieder vor ihrem Bücherregal, nimmt sich ein Buch heraus, schlägt es auf, liest einen Satz und legt es dann doch wieder zurück, weil sie in diesem Moment keinen klaren Gedanken fassen kann.
Doch als sie schließlich dem Speisesaal immer näher kommt, merkt sie erst, wie nervös sie eigentlich wirklich ist. Immer wieder zwingt sie sich zu einem kontrollierten Atmen, wischt ihre schwitzigen Hände an der Hose ab oder lässt ihren Blick über die Gänge schweifen, um ihre Gedanken ein wenig abzulenken. Aber all das hilft kein Stück, sodass sie beim Betreten des Raumes ein einziges Nervenbündel ist.
„Vater, Mutter", begrüßt sie ihre Eltern, als sie ihrem Ende der Tafel zum Stehen kommt. Während ihre Mutter ihr ein leichtes Lächeln schenkt, kann ihr Vater nur ein Nicken für sie erübrigen und deutet auf den Platz links neben ihrer Mutter, wo sie sich ohne zu Zögern niederlässt.
Erst, als sie ihren Platz eingenommen hat, betreten die Diener den Raum und servieren den ersten Gang, eine Suppe, von der Charlotte sich nicht sicher ist, was sie genau enthält. Während sie essen, muss sie sich zurückhalten, nicht zu schlingen. Ihr ist mehr als klar, dass ihr Vater frühestens bei dem Hauptgang anfangen wird, mit ihr zu sprechen, wenn überhaupt. Für gewöhnlich ist er nämlich ein Verfechter der Meinung, dass während des Essens absolute Stille herrschen soll. Tatsächlich ist es dann auch so und Charlotte muss noch zwei weitere Gänge über sich ergehen lassen, die ihr heute besonders lang vorkommen.
Schließlich legt ihr Vater als letzter sein Besteck beiseite und nur wenige Sekunden später ist sein Teller abgeräumt worden. Mit einer Fingerbewegung zeigt er den Dienern, dass sie umgehend den Raum verlassen sollen, damit er mit seiner Familie alleine sein kann, und jeder einzelne kommt dem Befehl augenblicklich nach.
„Weißt du, Charlotte, ich habe dich heute aus einem sehr wichtigen Grund zu uns gerufen?", richtet er seine ersten Worte an sie und sie kann die Spannung kaum noch aushalten. Was hat er davon, dass Ganze so spannend zu formulieren? Wieso sagt er nicht einfach, worum es geht? Doch scheinbar hat er ihre Gedanken gelesen, denn augenblicklich öffnet er den Mund, um weiterzureden. „Ich möchte, dass du ins Familiengeschäft einsteigst." Entgeistert starrt sie ihn an.
Für gewöhnlich macht ihr Vater keine Scherze und schon gar nicht welche, die mit seiner Arbeit oder seinem Reichtum zusammenhängen. Aber diese Worte kann er nicht ernst meinen. Wenige Sekunden später bricht Charlotte in ein lautes Lachen aus. Doch die Miene ihres Vaters verändert sich kein Stück, nein, er verzieht noch nicht einmal die Lippen zu einem Lächeln.
„Das ist ... das ist ein wirklich guter Witz", bringt sie stückchenweise hervor und schnappt immer wieder nach Luft. Schon so lange wünscht sie sich, dass sie endlich auch helfen kann, arbeiten kann, um den Reichtum ihrer Familie zu vergrößern. Doch jedes Mal, wenn sie gefragt hat, hat ihr Vater sie angesehen, als wäre sie lebensmüde, und einfach nur den Kopf geschüttelt. Wieso sollte er nun seine Meinung geändert haben? Nein, es würde absolut keinen Sinn ergeben. Sie braucht noch einige Sekunden, ehe sie sich wieder beruhigt hat und bemerkt, dass ihre Eltern sie völlig verwirrt anschauen.
„Das ist kein Scherz", erwidert ihr Vater schließlich und sie zieht nur die Augenbrauen hoch.
„Ach ja? All die Jahre habe ich dich schon fast angefleht, dass ich endlich auch mithelfen darf, und jetzt willst du mir weiß machen, dass du deine Meinung auf einmal geändert hast?" Für sie klingt das völlig absurd. Immer wenn ihr Vater sich auf etwas festgelegt hat, konnte niemand ihn umstimmen, nicht mal ihre Mutter.
„Und jedes Mal hast du mein Nein mit ein bisschen mehr Würde hingenommen. Du hast irgendwann aufgehört zu fragen und dich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentriert. Glaub gar nicht erst, ich wüsste nicht, dass du dich schon seit Jahren in Kasinos schleichst und nicht gerade wenig Geld verdient hast." Ungläubig starrt sie ihn an und kann nicht glauben, dass er wirklich über alles Bescheid weiß.
Wie hat er davon erfahren? Jedes Mal hat sie sich bemüht, nicht aufzufallen, und jetzt soll alles umsonst gewesen sein? Doch bei keinem ihrer Treffen hat er es je erwähnt, nein, statt enttäuscht zu werden, hat er sie gelassen.
„Natürlich habe ich auch mitbekommen, dass du immer wieder deinem Freund, diesem Marvin, geholfen hast. Wie eine echte Godwins hast du immer einen Weg gefunden, um deine Ziele zu erreichen. Statt dich auf andere zu verlassen, bist du deinen Weg gegangen und diese Stärke hat nicht jeder. Ich wollte erst sicher sein, dass du sie besitzt, bevor ich dich noch weiter einbinde", fährt ihr Vater fort und für einen kurzen Moment glaubt sie, Stolz in seinen Augen aufblitzen zu sehen.
Doch auch nur für einen kurzen Augenblick, denn schon in der nächsten Sekunde setzt er wieder seine undurchlesbare Miene auf. Aber das ist ihr jetzt egal. Seine Worte scheinen schon fast ein Lob zu sein und es ist schon ewig her, dass sie eins von ihren Eltern bekommen hat.
„Natürlich bedeutet das auch, dass du sehr viel deiner Freizeit opfern wirst, um deine Aufgaben zu erfüllen und auch bedeutend öfters nach Amerika reisen musst. Ich habe schon mit Sir Audley gesprochen, dass man bei besonders wichtigen Fällen dich auch von der Schule beurlauben kann, damit du hierher kommen kannst. Und auch klar ist, dass ich nun sehr viel von dir erwarte", meint ihr Vater mit ausdrucksloser Miene.
Entgeistert starrt sie ihn an, mit einem Mal ist jede Euphorie, die sie gerade noch gefühlt hat, verschwunden, zerplatzt, wie eine Seifenblase, die den Boden berührt. Schon jetzt sind seine Ansprüche an sie hoch gewesen, nur zu gut erinnert sie sich an einige Gespräche, in dem er meinte, sie müsse mehr an sich und ihren Noten arbeiten, obwohl sie eine der besten gewesen ist. Aber für ihn musste sie immer die Beste sein. Wie wird es wohl erst jetzt werden?
Doch mehr Sorgen macht ihr schon fast der Teil, mit dem Freizeit opfern und nach Amerika reisen. Nach Amerika zu reisen ist ein unheimlicher Aufwand, der sehr viel Zeit kostet. Ihrem liebsten Hobby, dem Lesen, nachzugehen, wird zwar kein sonderlich großes Problem, aber kann sie ihre freitäglichen Treffen mit Marvin noch beibehalten. Überhaupt, wie oft wird sie dann noch in die Kasinos gehen können. Zudem braucht sie auch noch ihre Zeit zum Lernen, um die Noten zu halten, die ihr Vater erwartet.
Mit einem Mal erscheint ihr das ganze wie ein Berg, dessen Spitze noch nicht einmal in Sichtweite ist, und den sie nun alleine und ohne jegliche Hilfe erklimmen muss. Immer hat sie gewollt, auch der Firma beizutreten und zu helfen. Doch nie hat sie an weitere Erwartungen und Ansprüche gedacht, die dazu kommen könnten. Was wird wohl passieren, wenn sie dem Ganzen nun doch nicht standhalten kann? Das enttäuschte Gesicht von ihrem Vater taucht vor ihrem inneren Auge auf und sie muss schlucken. Gerade eben ist er einmal mit ihr zufrieden gewesen und am liebsten würde sie diesen Zustand beibehalten.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir erst einmal das neue Schuljahr abwarten. Schließlich müssen wir uns dann ja auf zwei Fächer spezialisieren und ich habe schon oft gehört, dass der Schwierigkeitsgrad dann extrem zunimmt", wagt sie sich vorsichtig vor, doch kann ihrem Vater dabei nicht in die Augen sehen. Offen diesen Vorschlag ablehnen kann sie nicht, das würde er auch nicht akzeptieren und so bleibt ihr nur die Möglichkeit sich langsam vorzutasten, um ihn davon zu überzeugen, dass es eigentlich eine schlechte Möglichkeit ist.
„Ach wirklich? Aber ich bin mir sehr sicher, dass du jede Schwierigkeit meistern wirst, die sich dir in den Weg stellt. Oder willst du mir etwa weiß machen, dass du nicht so gut bist, wie ich denke?" Der Blick, mit dem ihr Vater sie nun ansieht, zeigt ihr genau, dass er weiß, was sie vorhat. Sie schluckt bei seinen Worten.
„Nein, das wollte ich auf keinen Fall", erwidert sie eilig. Das würde nur dazu führen, dass er wieder enttäuscht von ihr ist, und das will sie nicht. „Ich meine nur, ...", versucht sie, einen zweiten Anlauf zu starten, doch bricht schließlich ab. In diesem Moment fällt ihr kein einziges weiteres Argument ein, dass sie nun hervorbringen könnte.
„Charlotte. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Und niemand wird mich umstimmen können. Nicht du, nicht deine Mutter, niemand. Du wirst in die Firma einsteigen und meine Ansprüche erfüllen. Haben wir uns verstanden?" Der Blick, mit dem er sie nun ansieht, jagt ihr einen Schauer über den Rücken und eilig wendet sie den Blick ab. Mit einem Mal bildet sich ein Kloß in ihrem Hals, der ihr das atmen und das Schlucken erschwert. „Haben wir uns verstanden?", wiederholt ihr Vater seine Frage und diesmal um einiges lauter. Für einen kurzen Moment schließt Charlotte ihre Augen, um sich wieder zu sammeln.
„Ja, wir haben uns verstanden", bringt sie einige Sekunden später hervor und ihre Stimme ist dabei kaum mehr als ein Flüstern. Doch ihr Vater hat sie verstanden und sie ist mehr als froh, dass er sie nicht dazu zwingt, es zu wiederholen. Denn das hätte sie nicht gemacht.
Noch nie in ihrem ganzen Leben ist es ihr so schwer gefallen, eine Niederlage einzugestehen, denn so fühlt es sich an, wie eine Niederlage. Nicht einmal, als Marvin oder Gabriel oder irgendjemand anderes sie besiegt hat. Aber nun hat sie einen Wunsch erfüllt bekommen, den sie schon seit Jahren hegt, der sich aber nun als scheinbarer Alptraum herausstellt.
„Gut. Ich werde dich später in mein Büro rufen lassen, damit wir die Einzelheiten besprechen können." Mit diesen Worten steht ihr Vater auf und verlässt den Raum gefolgt von ihrer Mutter, die das ganze Gespräch nur stumm verfolgt hat. Zurückbleibt Charlotte, die nun auch das letzte Bisschen ihrer Ehre hergibt, als sie ihr Gesicht in ihren Händen vergräbt und sich fragt, ob sie das alles schaffen kann.
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