13. Kapitel - 1. Teil
Charlotte Godwins
Bleibt es bei heute Abend, lautet die Nachricht, die sie in dem Moment an Marvin abschickt, als sie die kleine Küche betritt. Für gewöhnlich ist Freitag immer ihr reservierter Abend, den sie nur zu zweit verbringen, meist mit irgendwelchen Glücksspielen.
Doch in letzter Zeit ist es schon öfters passiert, dass Marvin diesen Abend abgesagt hat, weil er sich um irgendwelche Geschäfte des Kasinos kümmern musste oder anderweitige Probleme gehabt hat, von denen er ihr aber nicht erzählt hat. Das nimmt sie ihm auch gar nicht übel, schließlich weiß er noch nicht einmal, wer sie wirklich ist.
Bei ihm kann sie einfach nur Charlotte, eine von vielen sein, und vielleicht ist genau das der Grund, warum sie so gerne Zeit mit ihm verbringt. Sie muss auch nicht lange auf eine Antwort warten, als er ihr ein Ja schickt.
Mit einem Lächeln lässt sie sich auf einem Stuhl nieder und beginnt, ihm eine Nachricht zu schreiben, in der sie damit beginnt, den heutigen Abend zu planen. Schon nach wenigen Nachrichten sind sie aber völlig vom Thema abgedriftet und schreiben über alltägliche Dinge. Eigentlich schon immer ist es ihr schwer gefallen, mit anderen Leuten klarzukommen und mit ihnen ordentlich zu kommunizieren.
Dafür hat sie schon immer ihre alten Freunde bewundert, besonders Alexandra, die ihren Gegenüber innerhalb von Sekunden in ein Gespräch verwickeln konnte. Da sie mit dieser Gabe aber nicht gesegnet worden ist, hat sie irgendwann einfach damit begonnen, sich in ihre Welt aus Büchern zu vertiefen.
Gemeinsam mit den Protagonisten hat sie Abenteuer erlebt, Welten gerettet und auch das ein oder andere Mal die wahre Liebe gefunden. Nur mit Marvin fällt es ihr erstaunlich leicht, ihre Gedanken in Worte zu fassen, die man nicht falsch verstehen kann, ein weiterer Grund, warum sie ihn nie im Leben als Freund verlieren will. Mittlerweile ist er auch nicht einfach nur ein Freund für sie, sondern der beste, den sie je gehabt hat.
Trotzdem hat sie keine Ahnung davon, wie er seine Freizeit verbringt, wer seine Freunde sind und ob er Geschwister hat. Natürlich wäre es ein leichtes, all das herauszufinden. Ein Anruf bei ihrem Vater oder dessen Berater würde reichen und sie hätte innerhalb weniger Sekunden Marvins Akte auf ihrem Handy, in der sich alle möglichen Informationen über ihn befinden, die sich finden lassen. Doch als er es einfach hingenommen hat, dass sie ihm weder ihr wahres Gesicht noch ihren wahren Namen verraten will, hat sie sich geschworen, dieser Versuchung nicht nachzugeben. Sie hat ihre Geheimnisse, also soll er auch seine behalten.
Gerade, als sie ihm eine Antwort schreiben will, wechselt das Display ihres Handys und zeigt einen Anruf ihres Vaters an. Ihr entfährt nur ein Seufzen, ehe sie auf den grünen Hörer drückt, um den Anruf anzunehmen.
„Charlotte", begrüßt ihr Vater sie knapp, so wie sie es von ihm nicht anders gewohnt ist.
„Guten Tag, Vater. Falls es um vorgestern geht, ..." Doch noch bevor sie ihren Satz zu Ende führen kann, wird sie laut von ihrem Vater unterbrochen.
„Nein, es geht mir nicht um vorgestern. Diesen Abend möchte ich nie wieder erwähnt haben. Du hast unsere Familie mehr als blamiert, als du einfach so gegangen bist. Nie habe ich mich so für dich geschämt. Fast jeder andere ist sitzen geblieben und hat sich durchgebissen, doch dafür scheinst du einfach nicht die Stärke zu haben." Während ihr Vater spricht, wird er immer lauter und in diesem Moment ist sie mehr als froh, dass sie alleine in der kleinen Küche ist.
Als er schließlich fertig mit seinen Vorwürfen ist, beginnt er zu schweigen, scheinbar wartend auf eine Reaktion ihrerseits. Doch auf die kann er lange warten und sie blinzelt einige Male schnell hintereinander. Immer wieder hallen seine Worte in ihren Ohren nach und verzweifelt versucht sie, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Augen fangen an, zu tränen, und sie wird an das Abendessen erinnert, wo man ihr vorgeworfen hat, sie könne rein gar nichts.
Dabei sollte sie es doch mittlerweile gewohnt sein, dass niemand von ihr etwas erwartet. Dass jeder sie unterschätzt und sie für minderwertig hält. Ob sie nun eine Frau ist oder nicht. Langsam bekommt sie sich wieder unter Kontrolle, doch denkt noch nicht einmal im Traum daran, irgendetwas zu erwidern. Weder wird sie ihm zustimmen, noch wird sie ihm widersprechen, da vor allem letzteres keine sonderlich gute Idee ist.
„Nein, ich rufe aus einem anderen Grund an", fährt ihr Vater schließlich fort, als er sich sicher ist, von ihr keine Antwort mehr zu bekommen. „Und zwar möchte ich, dass du das Wochenende über nach Hause kommst." Überrascht reißt sie bei den Worten ihres Vaters die Augen auf, selbst, wenn er das nun nicht sehen kann.
„Nach Hause? Nach Amerika?", bringt sie stotternd hervor, um sich sicher zu sein, sich nicht verhört zu haben. Es ist schon länger her, dass sie dort gewesen ist und noch länger, dass ihr Vater es vorgeschlagen hat. Meist nutzt sie die lange Reise und die dadurch verlorene Zeit als Vorwand, nicht dorthin zu müssen, aber eigentlich liegt es schlicht und ergreifend daran, dass sie nicht will.
Zum Einen wird sie ihre Eltern sowieso nicht öfter sehen als jetzt, egal ob sie bei ihnen im Haus wohnt oder am anderen Ende der Welt. Zum anderen ist sie sich noch nicht einmal mehr sicher, ob sie Amerika mittlerweile noch als ihre Heimat bezeichnet. Natürlich ist sie in Amerika aufgewachsen, aber auch nur bis zu ihrem siebten Lebensjahr.
Danach haben ihre Eltern sie mitsamt ihres Butlers nach England geschickt, wo sie auf die anderen sechs getroffen ist und sich mit ihnen angefreundet hat. Somit würde sie England viel eher als ihre Heimat bezeichnen. Hier kennt sie sich aus, ihr hat sie ihre Freunde und ihr hat sie mehr Zeit verbracht, als irgendwo anders. Vor allem Marvin ist in den letzten vier Jahren ein wichtiges Argument gewesen, hierzubleiben, statt über die Ferien wieder nach Hause zu fahren. Natürlich hätten sie miteinander schreiben können, doch wenn sie schon Kontakt zu jemanden hat, fällt sie leichter, miteinander zu reden, statt zu schreiben.
„Natürlich nach Amerika", antwortet ihr Vater und klingt dabei schon wieder mehr als gestresst. Augenblicklich fragt sie sich, ob es mit ihr zusammenhängt oder er momentan ein paar Probleme in der Firma hat, die ihn nicht loslassen können.
Für ihren Vater ist die Arbeit schon immer das Wichtigste gewesen, wahrscheinlich sogar noch wichtiger als seine eigene Frau, obwohl das zwischen den beiden schon fast an echte Liebe heranreicht. Aber vielleicht könnte man sie eher als sehr gute Verbündete bezeichnen, die sich beide das Lebensziel gesetzt haben, so viel Geld wie möglich zu besitzen. So ist es auch kein Wunder, dass am Esstisch der Familie Godwins nie andere Gesprächsthemen als Arbeit und Vermögen existiert haben.
„Gibt es einen bestimmten Anlass?", erkundigt Charlotte sich vorsichtig. Auf der einen Seite will sie nicht völlig unvorbereitet dort ankommen, sondern zumindest wissen, was sie erwartet. Auf der anderen Seite hat sie hingegen noch die Hoffnung, dass sie ein Gegenargument finden und dieser Reise entgehen kann.
„Ja, den gibt es tatsächlich, aber mir wäre es lieber, wenn ich ihn dir persönlich sagen kann", antwortet ihr Vater, als würde er wissen, was sie vorhat. Aber so leicht gibt Charlotte sich auf keinen Fall geschlagen, schließlich hat sie noch nicht all ihre Karten ausgespielt.
„Aber lohnt es sich denn wirklich für ein Wochenende? Zudem näheren wir uns auch langsam dem Schuljahresende und die Prüfungen werden immer schwieriger. Die Zeit, die ich damit verbringe, zu euch zu reisen, könnte ich doch eigentlich viel besser mit Lernen verbringen", erwidert sie. Diese Argumente hat sie schon früher immer wieder gebracht, allerdings kann man auch wirklich über den Sinn einer Wochenendreise nach Las Vegas streiten. Vor allem aber hofft sie, dass das schulische Argument ihren Vater überzeugen wird.
„Es ist mir total egal, ob es sinnvoll ist oder du die Zeit besser nutzen kannst. Du wirst morgen früh dich auf den Weg nach Amerika machen, ob du willst oder nicht", antwortet ihr Vater und diesmal lässt seine Stimme keinen Widerspruch zu. Scheinbar ist es ihm nun wirklich ernst, was sie mehr als überrascht.
Das letzte Mal, dass er unbedingt wollte, dass sie nach Hause kommt, scheint schon Urzeiten her, sie kann noch nicht einmal mehr sagen, wann das gewesen ist. Was ist das wohl für ein wichtiger Anlass, der ihren Vater dazu bewegt, sie anzurufen und nach Amerika zu zitieren? Doch viel wichtiger noch ist die Frage, ob sie überhaupt eine Wahl hat. Hätte sie die Wahl, wäre sie wahrscheinlich nie wieder in ihr Elternhaus zurückgekehrt.
Der einzige Grund, immer mal wieder dort vorbeizuschauen, ist ihr Butler gewesen, der nicht nur damals mit ihr nach England gekommen ist, sondern auch schon vorher den Hauptteil ihrer Erziehung übernommen hat. Zudem hat sie ihm noch mehr zu verdanken, da er auch derjenige ist, der ihr das Pokerspielen beigebracht hat. Ohne ihn wäre sie wahrscheinlich nie in ein Kasino gegangen und hätte auch Marvin nie kennen gelernt. Aber selbst er hält nicht gegen das größte Gegenargument statt, ihre Eltern.
Ihr ist mehr als klar, wie das Wochenende ablaufen wird, da sie es schlicht und ergreifend nicht anders gewohnt ist. Zu den Essenszeiten wird sie pünktlich und angemessen gekleidet erscheinen müssen. Dies sind auch die einzigen Momente, wo die ganze Familie versammelt sein wird. Den Rest des Tages werden ihre Eltern mit ihrer Arbeit verbringen, entweder im Büro der Firma oder ihren eigenen Büroräumen im Familienanwesen. Aber das ist relativ egal, da Charlotte diese Räume sowieso nicht betreten darf. Somit wird ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich irgendwie selbst zu beschäftigen. Dabei wollen ihre Eltern aber trotzdem immer auf dem neuesten Stand sein, um bloß sicher zu sein, dass sie nichts tut, was der Familie, dem Ansehen oder auch dem Konto schadet.
So würde das Wochenende alles andere als ruhig werden. Ihre Alternative dazu wäre natürlich, einfach morgen früh nicht hinzufliegen. Das würde allerdings ihren Eltern alles andere als gefallen. Wenn sie Pech hätte, würden sie das sogar als Grund nehmen, mal wieder nach England zu kommen und das wäre ganz sicher nicht als vorteilhaft. Zudem wüsste sie auch noch nicht einmal, wo sie das Wochenende über hinkönnte.
Hier in der Schule bleiben wäre auf keinen Fall möglich, da Sir Audley früher mit ihren Eltern befreundet gewesen ist und sie will ihm auf keinen Fall irgendwelche Probleme bereiten, wenn er sich dazu entscheiden muss, sie zu ihren Eltern zu schicken. Natürlich würde noch das Familienanwesen hier in London bleiben, aber auch das wäre viel zu offensichtlich. Würde Charlotte nicht kommen, würden ihre Eltern garantiert jemanden direkt dorthin schicken und dieser jemand hätte garantiert keine Gnade mit ihr. Aber außerhalb kennt sie niemanden.
Doch mit einem Mal taucht ein Gesicht vor ihrem inneren Auge auf und sie korrigiert sich schnell. Sie kennt fast niemanden. Aber kann sie Marvin wirklich darum bitten, sie zu verstecken. Sie würde ihn in Familienangelegenheiten hineinziehen, die eigentlich gar nichts mit ihm zu tun haben. Zudem, sofern sie nicht vorhat, ihre Maske die ganzen zwei Tage zu tragen, würde er herausfinden, wer sie ist.
Augenblicklich fragt sie sich, wie er wohl reagieren würde. Sie weiß, dass er sich wenig mit den großen, mächtigen Leuten auseinandersetzt und sich stattdessen mehr auf sein Leben konzentriert. Doch jedes Mal, wenn sie auf das Thema Politik oder ähnliches zu sprechen kommen, zeigt er ihr immer mehr als deutlich, dass er von dem Ganzen noch weniger, als gar nichts hält. Somit könnte die Wahrheit vielleicht sogar ihre Freundschaft zerstören.
Nein, dafür ist sie ganz sicher nicht bereit. Es wäre ein schlichter Fehler, bei Marvin Unterschlupf zu suchen. Somit hat sie eigentlich keine andere Wahl, als sich morgen früh auf den Weg nach Amerika zu machen. Schmerzlich wird ihr ihre Niederlage bewusst und sie lässt den Blick zu Boden wandern.
„Ich werde kommen", erwidert sie schließlich und klingt dabei um einiges kraftloser als noch vor wenigen Sekunden. Auch ist ihr mehr als klar, dass ihre Antwort nicht mehr als eine reine Formsache ist, eine andere Antwort hätte ihr Vater auf keinen Fall akzeptiert.
„Gut, dann wünsche ich dir morgen eine gute Reise und wir sehen uns ja morgen", verabschiedet ihr Vater sich und noch bevor sie irgendwas erwidern kann, legt er auf.
„Ja, bis morgen", flüstert sie trotzdem noch. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass dieser Tag so eine Wendung nimmt. Heute Morgen hat sie sich noch auf das Treffen mit Marvin und ein entspanntes Wochenende gefreut und nun darf sie morgen früh nach Amerika zu ihren Eltern fliegen.
Doch ihr ist mehr als klar, dass sie nun keine Zeit hat, in Selbstmitleid zu versinken, wenn sie heute Abend pünktlich zu ihrem Treffen will. Eilig schreibt sie Marvin, dass sie jetzt keine Zeit mehr hätte, aber sie schon auf heute Abend freuen würde. Schließlich wartet er immer noch auf eine Antwort ihrerseits, die sie ihm aufgrund des Gesprächs mit ihrem Vater nicht schicken konnte.
Also macht sie sich gezwungenermaßen auf, ihre Sachen zu packen. Dabei ist ihr einziger Lichtblick das Treffen mit Marvin und dabei betet sie nur, dass es heute Abend besser wird, als ihr letzter Besuch in dem Kasino.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro